Sie hatte ihm zugesagt, ohne groß nachzudenken. Mit knappen Worten hatte sie ihre eigentlich Verabredung abgesagt. Ihre beste Freundin wäre nicht ihre beste Freundin, wenn sie dies nicht verstehen würde. Mit einem zwinkerten Emoji hatte Tina ihr viel Glück gewünscht. Nun packte Isabelle schnell ein paar Dinge in ihren Rucksack. Sie hatte keine Ahnung, wie dieser Abend enden könnte, aber sie wollte gewappnet sein. Entschuldigend streichelte sie Leo, der ihr neugierig zugesehen hatte. Dann prüfte sie die beiden Wassernäpfe und füllte noch das Trockenfutter nach. Für den Fall der Fälle, dass sie über Nacht bei Jan blieb.
Natürlich wollte sie wissen, wie es ihm ergangen war. Warum er sich ohne ein Wort aus dem Staub gemacht hatte.
Sein Schweigen hatte sie verletzt. Vor allem, dass er sie über Jule hatte informieren lassen. Nach all den intensiven Momenten in der Woche davor hatte er es nicht für nötig gehalten, sie einmal selbst kurz anzurufen. Gleichzeitig hatte sie ihn vermisst und sich große Sorgen gemacht. Lange hatte sie mit der Freundin ihres Bruders gesprochen, die ihr als Betroffene sein Verhalten versucht hatte zu erklären.
"Pack ihn nicht in Watte, aber nimm seine Nöte und Ängste ernst.", hatte jene ihr geraten. Und sie gleichzeitig ermahnt, sich selbst dabei nicht zu verlieren. Jans Weg, so hatte sie ihr schonungslos ins Gesicht gesagt, könnte ein steiniger werden.
Jan stand in der Wohnungstür, als sie die Treppe nach oben kam. Ein leichter Zweifel lag auf seinem Gesicht und sie konnte seine Unsicherheit spüren. Dicht vor ihm blieb sie stehen. Er schluckte und ließ sie dann hinein.
"Magst du mit uns essen?", fragte er sie. Mit einem Lächeln stellte sie den Rucksack ab und begrüßte David, der mit einem Freudenschrei auf sie zu rannte. Sie hob den kleinen Kerl hoch und erfreute sich daran, dass er so aufgeweckt und fröhlich wirkte. Ganz anders als vor einer Woche.
Beim Abendbrot hörte sie dem Jungen zu, dessen Augen vergnügt funkelten, ehe sich eine Müdigkeit bemerkbar machte. Offenbar hatte er die Tage bei Jans Eltern sehr genossen. Der elterliche Hof klang nach einem Paradies für Kinder. Hier und da hakte sie bei Jan nach, der allerdings recht einsilbig antwortete. Was sollte das nun? Isabelle runzelte die Stirn, als er mit David im Badezimmer verschwand. Er hatte doch das Treffen vorgeschlagen. Er war es doch, der sich erklären wollte. Würde sie ihm jetzt jedes Wort aus der Nase ziehen müssen? Sie räumte den Tisch ab und füllte die Spülmaschine. Davids Greinen klang herüber, noch immer waren Vater und Sohn im Bad beschäftigt. Mit einer Tasse Tee betrat sie das Wohnzimmer und ließ ihren Blick schweifen.
Auf dem Sofatisch stand Jans Laptop, daneben ein paar handbeschriebene Blätter, eine Mappe mit Liedtexten und eine Broschüre. Sein Handy lag auf dem Sofa und vibrierte. Ohne es zu wollen registrierte sie, dass Dianas Name auf dem Display erschien. Dann endete das Vibrieren und der nächste Ton kündigte eine Nachricht an.
Seufzend nahm sie die Broschüre vom Tisch.
Offensichtlich hatte er diese in der Praxis der Therapeutin erhalten.
Noch während sie darin blätterte, kam David in den Raum gelaufen um Gute Nacht zu sagen. Jan stand im Türrahmen, als sie dem Kleinen einen Kuss gab und musterte das Heftchen in ihrer Hand. Als sie ihn an sah, senkte er den Blick und rief seinen Sohn zu sich.
Sie stand am Fenster, die Broschüre hatte sie in der Hand, als Jan von hinten an sie heran trat.
"Er schläft", murmelte er und nahm sie in den Arm. Isabelle schmiegte ihren Rücken an seine Brust und atmete durch.
"Isabelle, ich brauche dich. Ich brauche dich so sehr", hörte sie ihn murmeln. "Bitte verlasse mich nicht. Du hast es nicht leicht gehabt mit mir, ich weiß das. Bitte glaube mir, dass ich es nie wieder so weit kommen lasse. Es tut mir so unendlich leid, dass ich so unfair war."
Seine Stimme war direkt neben ihrem Ohr und er drückte ihr einen Kuss in den Nacken. Sie griff nach seiner Hand, die auf ihrer Mitte ruhte.
Sie fasste den Entschluss in Sekundenbruchteilen. Ahnte, dass sie jetzt das Tempo deutlich anzog, aber sie warf alle Bedenken über Bord.
"Ich habe mich in dich verliebt, Jan. Und wenn wir es als Paar versuchen wollen, dann gehört für mich dazu, dass man auch schwere Zeiten zusammen durchsteht. In guten wie in schlechten Zeiten, so heißt es doch. Für mich ist das keine Phrase. Daher werde ich dich auch nicht ohne Erklärung davon kommen lassen."
Langsam drehte sie sich um und sah, wie er schwer schluckte. Gerade öffnete er seine Augen. Sehr gut, dachte sie.
"Das heißt, ich werde dich nicht verlassen. Grundlos sowieso nicht. Aber ich werde dich auch nicht einfach gehen lassen. Nicht, so lange ich an uns glaube. Einfach weglaufen, Jan, das kann keine Lösung sein."
Sie strich ihm über das Gesicht, ganz zärtlich und bemerkte, wie er wieder schluckte.
"Isa, ich habe so viele Fehler gemacht", bekannte er.
Ruhig schüttelte sie den Kopf.
"Die sind passiert. Die kann ich dir verzeihen, wenn du mich nicht länger ausschließt." Sie hatte im Vorfeld lange darüber nachgedacht. Wollte ihm die Hand reichen. Jan führte sie zum Sofa, warf sein Handy achtlos auf den Tisch und zog sie so in seine Arme, dass sie aneinander gekuschelt zum Liegen kamen. Seine Augen, die heute wieder beinahe grau wirkten, glitten über ihren Körper. Ihr Puls beschleunigte sich, doch sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. Sie verschränkte eine Hand mit der seinen, legte ihren Kopf auf seine Brust und forderte ihn auf zu erzählen.
"Ich möchte wissen, warum du einfach so gegangen bist und warum in aller Welt du mich in dieser Ungewissheit zurückgelassen hast."
Mit der Antwort ließ sie ihm Zeit. Sie riet sich selbst, geduldig zu bleiben. Einige Minuten war nichts zu hören, außer hier und da ein Auto, dass auf der Straße langsam vorbeifuhr. Obwohl Jan kein Wort sagte, konnte sie den Kampf, den er innerlich mit sich ausfocht, quasi spüren. Sie lagen beinahe im Dunkeln, wenn nicht gerade ein Lichtkegel das Zimmer erhellte. Nur die Teelichter, die Isabelle angezündet hatten, spendeten Licht. Wenn er mich jetzt nicht ins Vertrauen zieht, dann hat das alles keinen Sinn, dachte sie traurig. Schnelle blinzelte sie eine Träne weg. Wie in Zeitlupe kullerte diese über ihre Wange und tropfte auf Jans Hand.
"Bitte nicht weinen", flüsterte er erschrocken und strich ihr mit seinen Fingern über die Augen. Gut, dass es nur diese eine gewesen war, dachte sie. Aber zumindest hatte ihn dies aus seiner Lethargie gerissen.
"Nichts fühlte sich mehr richtig an. Selbst als Frau Hausmann sagte, dass ich David mitnehmen und bei mir behalten könnte, fühlte ich nichts mehr. Alles war grau und schwer. Ich kann das gar nicht beschreiben. In meinem Kopf lief alles Amok. Nur eine Sache wusste ich genau. Ich musste David in Sicherheit bringen. Auch vor mir." Sie wagte kaum zu atmen, wollte ihn keinesfalls unterbrechen. Er atmete tief durch.
"In Sicherheit?", fragte sie.
"Hm", antwortete Jan leise. "Mir war einfach alles zu viel. Ich wusste nicht mehr, wo oben oder unten ist. Nichts passte mehr zusammen. Ich dachte nur noch, dass ich das alles nicht schaffe. Ich musste aber wenigstens den Kleinen nach Hause bringen. Damit er eine Chance hat." Jan griff nach ihrer Hand. Sie konnte spüren, dass er vollkommen unter Anspannung stand. Es fiel ihm nicht leicht, sein Innerstes vor ihr nach außen zu kehren.
"Als ich mit ihm bei meinen Eltern ankam, war ich vollkommen am Ende. Irgendwie hatte ich das Bild vor Augen, wenn der Kurze erstmal in Sicherheit ist, dann habe ich meine Aufgabe erfüllt. Ich wollte das alles nicht mehr."
Jetzt schluckte er schwer und sie spürte ihrerseits, wie seine Tränen auf ihrer Wange landeten. Er zog Luft ein. "Ich bin also am gleichen Abend an diesen See gefahren. Es zog mich magisch an. Denn Anna hatte das geahnt und mich gebeten dorthin zu gehen, wenn ich keinen Ausweg mehr wüsste."
Isabelles Gedanken überschlugen sich.
See?
Anna?
Keinen Ausweg?
Ihr Herz schlug schneller, sah ihn vor sich, allein, in der Nacht, an einem See.
Sie hatte es befürchtet und wagte es nun doch nicht, konkret zu fragen. Aus Angst vor der Antwort.
Sie stütze sich auf ihren Ellenbogen.
"Jan?", fragte sie vorsichtig. Er wischte sich verlegen die Tränen aus dem Gesicht und sah sie bekümmert an.
"Was wolltest du da?"
Hektisch drehte er sich zur Seite und wandte ihr den Rücken zu.
Vorsichtig streckte sie eine Hand aus.
"Sprich mit mir. Bitte."
Isabelle zwang sich ruhig zu atmen. Strich ihm sanft über den Rücken.
"Wolltest du dir etwas an tun?"
Vorsichtig setzte sie sich auf.
"Es tut mir leid", murmelte er. "Ich wollte, aber dann war da dieser Brief. Annas Worte."
Zögerlich strich sie ihm durch die Haare.
Wer war Anna?
Und warum nur hatte Jan solche dunklen Gedanken?
Wieso hatte er nicht einfach mit ihr geredet?
Oder sich Hilfe bei seiner Therapeutin gesucht?
Mit einem Ruck drehte er sich zu ihr.
Musterte sie.
Biss sich auf die Lippe und kam ebenfalls in den Sitz.
Dann stand er auf und ging zum Fenster, nahm kurz die Broschüre und sah dann auf die Straße.
Leise und unaufgeregt erzählt er ihr dann von Anna.
Wie sie in seine Klasse gekommen war.
Wie er ihr an diesem Herbsttag das Leben gerettet hatte und sie von da an unzertrennlich gewesen waren.
Wie sie ein Paar wurden. Dass sie die Melancholie, die Leidenschaft für Musik und die Versagensangst geteilt hatten. Wie er damals geglaubt hatte, ohne sie nicht überleben zu können und doch gleichzeitig ihr Beschützer gewesen war.
Wie sie sich jahrelang aneinandergeklammert hatten.
Und wie oft sie darüber nachgedacht hatten, zusammen zu sterben.
Oder wie sie gemeinsame Pläne für ein Leben auf der Bühne geschmiedet hatten.
Dass sich dann alles verändert hatte, als sie für das Studium nach München gegangen waren. Annas Kampf ins Leben. Umso stärker sie wurde, umso mehr hatte er da schon gespürt, dass sie nicht bei ihm bleiben würde.
Die Trennung. Ihr neuer Freund. Seine Einsamkeit. Vollkommen ohne Halt war er durch das Studienjahr getaumelt.
Wie dann das Schicksal zuschlug.
Ihre Leukämie.
Sein letzter Besuch bei ihr. Als sie ihm die Kiste gab und ihn mahnte, das Leben anzunehmen.
Wie sie ihn aus ihrem Sterben ausschloss.
Seine Trauer.
Seine Flucht in die Staaten.
Tante Ursel, die er ewig nicht gesehen hatte.
Die ihn nur einmal auf der Bühne erlebt hatte.
Isabelle hatte auf dem Sofa verharrt.
Als Jan endete, blieb er still am Fenster stehen.
Instinktiv wusste Isabelle, dass dies noch nicht alles war.
Und ebenso instinktiv begriff sie, dass er dies selbst erst verstanden hatte.
Dieser Prozess stand ganz am Anfang. Jans Weg würde nicht nur steinig werden oder unbequem, sondern vermutlich auch länger. Ihr fröstelte. Nein, hier ging es nicht nur um eine depressive Episode oder eine Herbstdepression. In Jan tobte viel mehr und sie musste entscheiden, ob sie das konnte und wollte.
Leise war sie an ihn heran getreten und hatte sich an ihn gelehnt. Sie atmete den Geruch ein, der ihr so gefehlt hatte.
"Ich bin bei dir", flüsterte sie.
Würde sie ihn jetzt allein lassen, sie würde es sich niemals verzeihen können. Isabelle hatte keine Ahnung, wohin sie das alles führen würde. Ob sie das schaffen konnten. Aber ihr war klar, dass er einen festen Halt brauchte. Und Liebe. Er schloss sie weinend in seine Arme und versprach ihr, dass er kämpfen würde. Sie nicht enttäuschen wollte.
Isabelle glaubte ihm.