An die Premiere hatte Jan später so gut wie keine Erinnerung. Es war ein Tanz am Abgrund. Ariane hinter der Bühne und der Blickkontakt zu Isabelle im Publikum bewahrten ihn vor einem Absturz. Dazwischen geriet er regelrecht in einen Rausch und das Publikum tobte, als sich der Vorhang senkte. Danach bekam Jan nur schemenhaft mit, wie Robert alle lobte. An das Abschminken oder Umziehen, an den Sektempfang und die Reden, all das versank in Jans Kopf und blieb dort verschüttet.
Isabelle klopfte leise an die Garderobentür. Jan stand am Fenster und drehte sich langsam, zu ihr herum.
"Hey", murmelte er.
Wie erschöpft und ausgelaugt er aus sah.
Er hatte schon aufgeräumt, nichts erinnerte an das Durcheinander von vor zwei Tagen. Isabelle ging langsam zu ihm.
"Müde?", fragte sie leise. Nickend zog er sie an sich und gab ihr einen langen und sehr innigen Kuß.
Vorsichtig wischte sie ihm eine Träne von der Wange, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten.
"Deine Eltern warten im Foyer. Schaffst du das noch?" Sie musterte ihn aufmerksam. Hinter ihm lag ein unglaublicher Kraftakt. Sie wollte sich gar nicht erst ausmalen, wie es in ihm aussehen musste. Zu ihrer Überraschung nickte er. Bat dann aber darum, dass er zügig nach Hause wollte. Isabelle nahm ihn an die Hand und gemeinsam liefen sie durch die schon stillen Gänge. Die meisten Darsteller waren schon auf der Feier, die neben an statt fand.
Zuerst liefen sie Alex und Heike in die Arme, die sich schon auf den Weg ins Hotel machen wollten. Alex gratulierte Jan und wusste zu berichten, dass die ersten Stimmen durchweg positiv waren. Mit einem Zwinkern erinnerte Alex an das gemeinsame Frühstück, dann verschwand er mit Heike zum Ausgang.
Isabelle führte Jan an den Tisch, an dem Anke und Paul warteten. Das Foyer hatte sich fast geleert. Hier und da standen noch kleinere Gruppen beisammen. Anke nahm ihren Sohn lange in den Arm und Paul platzte beinahe vor stolz. Ja, Jan hatte das gut gelöst heute. Isabelle war sich sicher, dass kaum jemand mitbekommen haben dürfte, wie es in ihm aus sah.
"Aber du siehst geschafft aus", merkte Jans Mutter an und strich ihm über den Arm. Ganz kurz zuckte Jan zusammen, dann hatte er sich wieder im Griff.
"Es war ein langer Tag. Und vor Aufregung hat er nicht gut geschlafen", antwortete Isabelle schnell. Anke nickte wissend. Derweil sah Paul auf seine Uhr und kramte dabei in seiner Hosentasche.
"Ich hole mal unsere Jacken", informierte er, als er das Märkchen gefunden hatte. Während er davon ging, setzte Jan das Sektglas ab, das ihm Anke gereicht hatte.
"Wir sollten auch", sagte er und wandte sich an seine Mutter. "Jule bringt David morgen früh ins Hotel, ist das in Ordnung?" Sie hatten mit seinen Eltern ausgemacht, dass der Junge ein bisschen Zeit mit den Großeltern verbringen konnte, dann hatte sie auch Ruhe beim Frühstück mit Alex. Anschließend wollten sie sich mittags treffen, ehe Anke und Paul sich auf den Heimweg machen würden.
Die Verabschiedung fiel herzlich aus und endlich konnten aus sie sich auf den Weg machen.
Unbemerkt verließen sie das Theater an der Bühnentür und gingen Hand in Hand zum Apartment. Isabelle holte den Schlüssel aus der Tasche und drückte ihn Jan in die Hand, als sie um die letzte Ecke bogen.
"Es war für uns beide kein leichter Tag", meinte Jan, als er die Tür aufschloss. In der Wohnung ging Isabelle sofort in die Küche und füllte zwei Wassergläser.
"Hast du Hunger?", fragte sie. Er war ihr direkt gefolgt und blieb im Türrahmen stehen.
"Nein. Mir ist nur nach einer Dusche und nach Schlaf."
Seufzend ging sie auf ihn zu, blieb vor ihm stehen und streckte die Hand aus, berührte sein Gesicht. Er zuckte kurz, schob ihre Hand aber nicht weg. "Liebst du mich noch?", fragte Jan leise und fuhr ihr mit seiner freien Hand durchs Haar. Isabelle schloss die Augen und genoss die zärtliche Berührung.
"Natürlich", lächelte sie dann und schlug die Augen wieder auf, fuhr ihm mit einem Daumen über die Wange. Was eine dumme Frage. Als er ein Gähnen unterdrückte, schickte sie ihn bestimmt ins Badezimmer und richtete das Bett.
Eine Viertelstunde später kroch er unter die Decke, blieb aber zunächst auf Abstand. Isabelle rückte näher zu ihm, so dass sie sich an ihn schmiegen konnte. Ruhig streichelte sie ihm über die Brust. Er entspannte sich langsam und sie flüsterte ihm ins Ohr, dass sie stolz auf ihn war. Auf alles, was er in den letzten 24 Stunden gemeistert hatte. Träge streichelte sie ihn dabei weiter, bis er immer ruhiger wurde und irgendwann einschlief.
Nur zwei Stunden später riss er sie beide aus dem Schlaf. Schweißgebadet war er hochgeschreckt, mit geballten Fäusten und einem leisen Schrei. Er ließ sich wieder ins Kissen fallen und atmete heftig ein und aus. Isabelle setzte sich auf und wartete, bis er sich ein bisschen beruhigt hatte.
"Magst du es mir erzählen?", fragte sie sanft. Er verneinte flüsternd und sie glaubte zu hören, dass er weinte. In diesem Moment wurde sie unglaublich wütend auf Diana. In dieser Nacht hätte es für Jan nur diese Premiere geben sollen. Vielleicht gar eine Feier. Ein bisschen genießen, was er geleistet hatte. Das war ihm genommen worden. Wie so viel anderes. Seine Leichtigkeit war verschwunden, sein Lachen, sein Verlangen nach ihr, im Grunde sein Leben. Er litt Höllenqualen und Isabelle ahnte, dass es nur schwer würde heilen können. Sie mussten dringend darüber reden, dass er Hilfe brauchte. Und sie auch. Sie musste wissen, was sie ihm zumuten konnte und durfte. Wie sie sich verhalten sollte. Das dumme Versprechen fiel ihr ein, das er ihr abgerungen hatte.
Sprich mit niemandem darüber
"Jan?", fragte sie vorsichtig. Ihre Hand traf auf seine Schulter. Sie schob sich näher und hauchte einen Kuss in seinen Nacken. Er begann zu zittern.
"Es geht nicht", sagte er leise, mehr zu sich selbst, doch Isabelle hatte ihn sehr wohl verstanden. Sie rückte ein paar Millimeter ab. Ihre linke Hand ließ sie aber auf seiner Hüfte ruhen.
"Versuch weiter zu schlafen. Ich bin da. Und ich werde dir nichts tun."
Sie lag neben ihm, ganz still und achtete auf jedes Geräusch. Mehrfach durchfuhr es ihn, kaum dass er fast eingeschlafen wäre.
Es tat Isabelle fast leid, als sie Jan schließlich kurz vor Neun wecken musste. Aber Alex wollte bald hier sein und er sollte die Gelegenheit haben, sich etwas auf das Treffen vorzubereiten. Sie hatte Kaffee gekocht und brachte ihm eine Tasse an die Schlafcouch, ehe sie ihn sanft berührte. Immerhin, sie war nach der kurzen Unterhaltung wieder eingeschlafen und nur noch zweimal kurz mit wach gewesen. Auch diese Nacht zeigte ihr, dass es ohne Hilfe nicht ging.
Dringend braucht Jan eine Anleitung zur Verarbeitung des Traumas. Und noch mehr als bisher schon bereitete es ihr Unbehagen, dass sie heute nach Hause musste. Aber sie hatte keine Wahl. Auch Hannahs Geduld hatte Grenzen und sie wollte diese nicht überstrapazieren. Wer weiß, wann sie diese für einen Notfall oder ähnlichem benötigen würde. Sie hatte allerdings eine Entscheidung getroffen, die Jan mit Sicherheit nicht gutheißen würde. Aber in diesem Fall ging es nun mal nicht um ihn. Vielleicht war es ganz gut, dass Alex später dazu kam.
Schnell hatte sie Jan aus seinem leichten Schlaf geholt und hielt ihm dann die Tasse hin.
"Den kannst du bestimmt gut gebrauchen. Das Frühstück habe ich schon gerichtet, Alex wird in einer halben Stunde hier sein."
Er sah mitgenommen aus und antwortete ihr nur wortkarg. Nochmal versuchte sie das Gespräch auf Dr. Jäger zu lenken, doch Jan verschwand ins Badezimmer, um sich etwas anzuziehen. Verärgert lüftete sie den Schlafraum und schüttelte die Decke auf. Er konnte ihr damit doch nicht dauerhaft aus dem Weg gehen. Was sollte sie nur tun? Alleine würden sie es nicht schaffen. Am Morgen hatte sie im Internet recherchiert und ihr war klar geworden, wie wenig sie tun konnte. Vor allem, wenn Jan nicht wollte. Was musste denn passieren, damit er seine Haltung aufgab? Erst das Klingeln an der Tür riss sie aus den Gedanken. Nun galt es erstmal zu sehen, was Alex von Ihnen wollte.
"Im Großen und Ganzen können wir sehr zufrieden sein. Kein Wort über dich, das negativ wäre. Viele haben sich auf Femke konzentriert, was vollkommen in Ordnung geht, aber auch du bekommst überall Lob."
Alex schob sein Tablet über den Tisch, doch Jan würdigte es keines Blickes. Isabelle dagegen griff danach und überflog mit einem Lächeln die Auszüge.
"Für mich klingt das alles richtig gut", meinte sie strahlend und sah Jan erwartungsvoll an.
"Es ist sogar sehr gut, denn wir haben eine große Baustelle, über die wir dringend reden müssen, und mit denen ich Jan vor der Premiere nicht belasten wollte."
Jan lehnte sich im Stuhl zurück. "Baustelle?", fragte er verständnislos. Alex begann zu erklären:
"Dass ich Probleme habe, dich für Auditions anzumelden, hatte ich ja erwähnt. Da habe ich mal Nachforschungen angestellt und bin auf etwas gestoßen, was dir nicht gefallen dürfte." Er sah Jan so ernst an, dass es Isabelle beinahe mit der Angst bekam.
Mit ruhigem Tonfall erklärte Jans Freund dann, dass er sich in den letzten Tagen mit diversen Intendanten und Regisseuren, aber auch Presseleuten unterhalten hatte. Offenbar trug sich ein Gerücht von Theater zu Theater, dem er wenig entgegensetzen konnte. Es passte wunderbar ins Bild zu Jans unsauberen Abgang im Herbst und seinem Rückzug nach der Blinddarm-OP. Immerhin hatte er sich in der Folgezeit sehr rar gemacht.
"Es heißt, du bist labil. Das kann ich derzeit ja nicht guten Gewissens entkräften. Ich habe stattdessen allen Entscheidungsträgern empfohlen, sich die Premiere hier anzusehen und sich selbst ein Bild zu machen."
Isabelle entfuhr ein leises Zischen, während Jan seine Arme vor der Brust verschränkte.
"Dies wiederum konnte ich dir ja kaum in aller Deutlichkeit vorab so sagen. Der Druck war so hoch genug."
Alex nahm einen Schluck von seinem Kaffee und warf Isabelle einen langen Blick zu. Ihr Brötchen lag unangetastet auf dem Teller.
Sie wollte nach Jans Hand greifen, doch der sprang auf und stellte sich ans Fenster. Langsam schüttelte Alex den Kopf.
"Was ist mit euch los?", fragte er vorsichtig. Er behielt Jan im Auge, dann sah er Isabelle nachdenklich an. Jan rührte sich nicht und Isabelle hielt Alex´ Blick nicht stand. Sie senkte den Kopf und atmete durch. Dass etwas unausgesprochenes in der Luft hing, könnte an Alex nicht spurlos vorüber gehen.
"Es ist.....", begann sie, doch Jan fuhr herum. Er funkelte sie an. Es war umso unheimlicher, weil er leichenblass war.
"Ich möchte das nicht", zischte er leise. Alex standen die Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. Er musterte Jan, der sich gegen das Fensterbrett lehnte, dann Isabelle, die nervös ihre Finger knetete. Nochmal hakte Jans Freund nach, wieder verweigerte Jan eine Antwort. Er hatte sich wieder zum Fenster gedreht.
"Was möchtest du nicht?", hakte Alex nach. Isabelle schob den Teller von sich und dachte nach. Das Schweigen zog sich. Langsam stand sie auf und räumte das Geschirr zusammen.
Als sie an der Spüle stand, fasste sie sich ein Herz. Wenn sie jetzt nicht handelte, dann würde nichts passieren. Aber Jan musste es Alex sagen. Aus vielerlei Gründen. Vielleicht war auch ein bisschen Egoismus dabei. Sie wollte nicht die alleinige Verantwortung für das Geschehene tragen. Sie brauchten Hilfe. Beide. Alex konnte Jan vertrauen, dessen war sie sich sicher.
"Alex, Jan braucht Hilfe", flüsterte sie. Dann kniff sie die Augen zusammen.
Alex hob eine Augenbraue. Isabelle sah zu Jan, der mit geballten Fäusten am Fenster stand und offenbar schwer mit sich rang.
"Bitte." Isabelle flüsterte noch immer. Diesmal in seine Richtung.
"Es wird nicht ohne gehen, Liebling", entschuldigte sie sich.
Noch während Alex grübelte, was sie meinte, ließ Jan ein Geräusch von sich, das an ein gequältes Tier erinnerte.
Isabelle holte tief Luft und wandte sich mit festem Blick an Alex.
"Sie hat ihn missbraucht", stieß sie hervor. Zunächst erreichten Alex die Worte gar nicht. Zudem wurde er von Jan überrascht, der seiner Freundin einen bekümmerten Blick zuwarf und sich vom Fenster abstieß.
"Du hattest es versprochen", sagte er leise und stürmte eilig aus der Küche. Wenige Sekunden später knallte die Wohnungstür und Isabelle zuckte zusammen.
Schweigend reichte Alex Isabelle ein Glas Wasser und setzte sich neben sie. Er wirkte fassungslos. Isabelle hatte unter Tränen geschildert, was Jan ihr in der Nacht vor der Premiere erzählt hatte. Eine Weile hörte man in der Küche nur die Uhr ticken. Zunächst hatte Alex gar nicht glauben wollen, was er zu hören bekam. Vieles erschein auf einmal in einem anderen Licht und vor allem Jans Absturz in den letzten Wochen ergab Sinn. Für Alex stand außer Frage, dass es keine Option mehr gab. So etwas sollte niemand mit sich ausmachen müssen. Ab davon, dass er der Auffassung war, dass dies auch nicht ging.
"Es ist richtig, dass du mir das erzählt hast", sagte Alex schließlich.
"Jan sieht das anders.", schluchzte Isabelle. Wie er sie angesehen hatte. Das würde sie nie vergessen. Ein wenig konnte sie ihn verstehen, aber was hätte sie tun sollen? Es war Blödsinn, dass Jan es totschweigen wollte. Alex stand auf und stellte sich hinter ihren Stuhl. Er streichelte ihr kurz über die Schultern.
"Jan ist traumatisiert, das darfst du dir jetzt nicht zu Herzen nehmen. Früher oder später wird auch er erkennen, dass du richtig gehandelt hast."
Nun galt es zu überlegen, was er auch hier tun konnte. Alex kam es so vor, als stolperte er von einem Problem zum nächsten. Dass Jan sich vehement wehrte sich helfen zu lassen, ließ auch bei ihm alle Alarmglocken schrillen. Isabelle hatte bruchstückhaft versucht, Jans Beweggründe zu erklären.
Alex schüttelte den Kopf. Besorgt erkundigte er sich dann nach David.
Isabelle nahm einen Schluck Wasser.
"Jan weiß es noch nicht, aber ich werde David heute Abend mit nach Stuttgart nehmen. Er braucht sein stabiles Umfeld, am besten seine Freunde, die er vermisst, sein Zuhause und Jan kann ihm derzeit all das nicht bieten. Jan ist so mit sich beschäftigt, dass er gar nicht merkt, wie das auf den Kleinen abfärbt. Vielleicht kann ihn sich Heike ansehen und uns sagen, wie wir ihm helfen können? Er muss es ja mitbekommen haben."
Ein sehr vernünftiger Vorschlag, wie Alex fand. Langsam fing sie sich wieder. Ja, es war richtig gewesen, Alex einzuschalten. Sie griff nach ihrem Handy und versuchte wiederholt, Jan zu erreichen. Nichts. Sein Handy klingelte durch.
"Wir müssen ihn suchen, Alex." Der Freund nickte und rieb sich den Nacken.