Tief atmete er die kalte Luft ein.
Endlich alleine.
Endlich Stille.
Nur das Rauschen der Blätter war zu hören.
Der Wind hatte zugenommen und trieb weitere Kälte vor sich her.
Im Radio hatten sie gesagt, dass es den ersten Schnee geben könnte.
Zügig, um nicht völlig auszukühlen, folgte er dem kleinen Pfad durch den Wald.
Kein Licht war zu sehen, nur der Mond wies ihm den Weg.
Hier und da hörte er Zweige knacken oder einen Vogel rufen.
Er kannte hier jedes Hölzchen und seine Erinnerung führte ihn auf die richtige Spur.
Obwohl er so lange nicht hier gewesen war, fand er sicher an sein Ziel.
Dunkel lag der See vor ihm.
Das Mondlicht spiegelte sich auf der glatten Wasseroberfläche.
Er wusste, um den See führte ein schmaler Trampelpfad.
Gegenüber stand ein längst vergessener, fast verfallener Hochsitz.
Von dort aus, waren es nur ein paar Schritte zum ehemaligen Bootshaus.
Der Wind pfiff nun ordentlich und er zog seinen Jackenkragen hoch.
Den Schal hatte er sich schon vor einer ganzen Weile vor den Mund geschlagen.
Die Kälte fuhr im langsam in die Glieder.
Also setzte er sich wieder in Bewegung und begann mit der Umrundung des Sees.
Bei Tageslicht brauchte man bis zum Hochsitz etwa 20 Minuten.
Jetzt, in der Dunkelheit, musste er aufpassen, wohin er seine Füße setzte.
Wenigstens wurde ihm dabei warm und er konzentrierte sich nur auf den Weg.
Alle anderen Gedanken waren jetzt endlich ins Abseits gerückt.
Ruhig atmend nahm er einen Schritt nach dem anderen.
Die gleichmäßige Bewegung tat gut.
Langsam näherte er sich seinem Ziel.
Vom Hochsitz waren nur noch Reste zu sehen. Im Grunde konnte man ihn nur identifizieren, wenn man wusste, dass er hier einmal stand. Schade. Viele Erinnerungen waren hieran geknüpft.
Spontan musste er lächeln.
Ein Sommer seiner Teenagerzeit kam ihm in den Sinn.
Unzählige Treffen mit der Clique, immer hier, am nicht verabredeten Platz.
Suchend sah er sich um.
Das alte Bootshaus sah ebenfalls sehr bemitleidenswert aus.
Die Tür ließ sich ohne Probleme öffnen, sie hing nur noch mit Müh und Not in den Angeln.
Er brauchte eine Weile, bis er sich an die geänderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatte.
In seiner Jackentasche tastete er schließlich nach der kleinen Taschenlampe.
Der Lichtkegel erhellte den Raum notdürftig.
Natürlich waren hier längst keine Ruderboote mehr untergebracht.
In einer der Nischen stand noch der massive alte Holztisch von früher. Schmunzelnd fuhr er mit seiner Hand über die zahlreichen Einkerbungen. Liebesschwüre waren eingeritzt, ebenso einige nicht jugendfreie Sprüche oder Sinnlosigkeiten wie Ich war hier. Wenn dieser Tisch sprechen könnte, dann würde er jetzt mit Geschichten einiger Generationen des Ortes konfrontiert werden. Auch mit eigenen, die ihm gerade wieder in den Sinn kamen. Kopfschüttelnd und übermannt von den Erinnerungen ließ er sich auf die Holzbank davor sinken und löschte das Licht der Taschenlampe.
Wärmer war es hier drinnen aber auch nicht, nur vor dem Wind war er jetzt einigermaßen geschützt.
Mit der Hand ertastete er eine Einkerbung, bei der er sofort wusste, was er lesen würde, wenn er jetzt das Licht wieder anmachen würde.
AMICI IN PERPETUUM - Freunde für immer.
Wie ernsthaft sie diesen Schwur damals hinterlassen und ihn besiegelt hatten.
Als wenn sie der Zukunft und dem Unvermeidlichen trotzen wollten.
Für immer.
Große Worte.
Ein hehres Ziel.
Und die Realität?
Die hatte sie in die ganze Welt zerstreut.
Alex, der damals schon alles organisiert hatte, war heute noch an seiner Seite.
Daniel, der Stillste von ihnen, lebte in Südafrika und baute dort Wein an. Er hatte ihn seit dem Studium nicht mehr gesehen.
Stefan, der Draufgänger, war nach der Schule durch Asien gereist und dortgeblieben. Er hatte ihn nie wieder gesprochen oder gesehen.
Hannes, er war der Schlauste gewesen, hatte in den USA studiert und dort ein IT Unternehmen aufgebaut. Vor 8 Jahren hatte er ihn kurz besucht, aber sie hatten sich nicht mehr viel zu sagen gehabt.
Kathrin, die Unnahbare, war überraschenderweise mit Hannes in die USA gegangen. Sie waren längst nicht mehr zusammen, er hatte sie nie wiedergesehen.
Anna, die Schöne. Sie war tot.
Seine erste, große Liebe.
Theoretisch wusste er genau, wo er suchen musste.
Er hatte die kleine Kiste vor Jahren eigenhändig vergraben.
Langsam stand er auf und hob die Sitzbank an, schob sie beiseite.
Darunter nahm er drei Holzplanken heraus und fühlte dann nach der Vertiefung.
Ja, sie war noch da.
Erschrocken zog er die Hand zurück.
War das der Moment?
Du wirst es wissen, hatte sie gesagt.
Spüren und wissen.
Er ging in die Knie und griff mit beiden Händen wieder hinein.
Dann stellte er die kleine Kiste auf dem Tisch ab. Sie war aus Edelstahl und mit einem Zahlenschloss gesichert. Die Kombination hatte er nie vergessen. Das Schloss ließ sich ohne Probleme öffnen.
In der Kiste lagen zwei Umschläge, jeweils mit seinem Namen versehen.
Im ersten fand er verschiedene Fotos. Bilder, die er fast vergessen hatte.
Im zweiten dagegen befand sich ein Brief.
Mit zitternden Händen und Tränen in den Augen faltete er ihn auseinander.
Er erinnerte sich an den Tag im Herbst, als Anna hier ins Wasser gehen wollte.
Sie hatte nicht gesehen, dass er im Hochsitz saß.
Auch er war hierhergekommen, um alleine zu sein.
Schlussendlich hatte er ihr an diesem Tag das Leben gerettet.
Sie waren von da an unzertrennlich gewesen.
Kurz schloss er die Augen, ehe er sich die Zeilen ansehen konnte.
Fast erschreckte ihn ihre vertraute Handschrift.
"Jan,
ich habe mir gewünscht, dass du das hier nie brauchen wirst.
Aber augenscheinlich ging mein Wunsch für dich nicht in Erfüllung.
Wenn ich an uns denke, dann bin ich immer sehr glücklich.
Du und ich, das war zuerst einfach eine wunderbare, leichte Romanze.
So, wie sie jeder als erste Liebe erleben sollte.
Es ist gut, dass wir alles zwischen uns geklärt haben, ehe ich gehen muss.
Vielleicht waren wir uns zu ähnlich, zu emotional für die Wirklichkeit.
Wir haben uns versprochen, immer aufeinander zu achten im Leben.
Ich werde das bald nicht mehr tun können, verspreche dir aber, dass ich von der anderen Seite auf dich achtgeben werde.
Falls mir das nicht gelingt und du hier irgendwann landest, dann hoffe ich, dass ich dir hiermit helfen kann. So wie auch du mich gerettet hast, damals.
Du hast gesagt, ich soll dich immer an deine Träume erinnern. Für den Fall, das du sie aus den Augen verlierst.
Gib sie bitte niemals auf Jan.
Wir hatten so viele Träume und wir wussten, dass das Leben viele davon unmöglich macht. Ich habe immer davon geträumt, dass wir eines Tages zusammen auf der Bühne stehen. So richtig, nicht auf der Schulbühne zu Weihnachten, wo sowieso niemand zu hört. Wir hätten das geschafft. Und nun musst du das für mich mitmachen. Versprich mir, dass du das für mich tust.
Wenn Du hierher zurück gekommen bist, dann willst du aufgeben.
Das ist indiskutabel.
Aufgeben zählt nicht.
Habe ich auch nicht getan, wie versprochen habe ich bis zum letzten Tag gekämpft. Und das wirst auch du tun.
Denn du hast alle Chancen.
Alle Möglichkeiten
Denn du darfst leben.
Zu mir hast du gesagt, ich könnte alles erreichen im Leben.
Ja, du aber auch.
Geh` raus und kämpfe.
Du hast nur dieses eine Leben - mach das Beste daraus.
Du warst mein bester Freund.
Mein Seelentröster.
Mein Herzenswärmer.
Meine größte Inspiration.
Mein stärkster Gegner.
Der Eine, den man nie vergisst.
Und mein Retter.
Du hast mir damals versprochen, immer auf mich aufzupassen.
Jetzt pass` bitte besser auf dich auf.
Ich liebe Dich
Anna"
Mit klammen Fingern und pochendem Herz faltete er den Brief zusammen. Danach packte er alles zurück in die kleine Kiste und zog sich die Handschuhe wieder an. Er machte sich nicht die Mühe, das Versteck wieder zu verschließen. Stattdessen verließ er das Bootshaus. Tatsächlich hatte es zu schneien begonnen. Es waren nur ein paar Meter bis zum Ufer, den Steg von früher gab es allerdings auch nicht mehr. Gedankenverloren beobachtete er die Schneeflocken, wie sie im Wasser versanken. Ein paar Tränen liefen ihm übers Gesicht. Energisch wischte er sie weg. Der Wind dreht leicht und wehte ihm die Flocken ins Gesicht.
Das Wasser wirkte tiefschwarz.
Der Mond war hinter einer Wolke verschwunden.
Er gab sich einen Ruck.
Ihm war nun so kalt, dass er keinesfalls länger hier stehen konnte.
Er schluckte ein-, zweimal und wandte sich dann vom See ab.
Den Schal wickelte er sich wieder vor Nase und Mund, dann tastete er nach der Taschenlampe.
Ohne zusätzliche Lichtquelle würde der Rückweg kein Spaß werden.
Er warf einen letzten Blick zum Bootshaus und zum Hochsitz.
Durch die Bewegung wurde ihm wieder etwas wärmer, er kam aber deutlich langsamer voran, als auf dem Hinweg.
Der Schneefall nahm weiter zu und hier und da wurde es auch glatt.
Vorsichtig bahnte er sich seinen Weg.
Außer Atem kam er wieder an seinem Auto an.
Immer noch war weit und breit niemand zu sehen.
Er fuhr die Heizung im Wagen hoch und nahm nochmal den Brief aus der Kiste.
Anna.
Wie oft hatte er diese geschwungenen Buchstaben gesehen?
Wie oft kleine Briefe von ihr gelesen?
Und keinen einzigen davon hatte er aufbewahrt.
Weil er in seiner rasenden Wut auf die Welt alles vernichtet hatte.
Mit einem Kloß im Hals fuhr er los.
Er erreichte sein Elternhaus in dem Moment, in welchem sein Vater vom Hof fahren wollte.
Erleichtert sah dieser ihn an.
Und in Jan brachen Dämme.
Paul erreichte seinen Sohn, als der sich gegen die Wagentür lehnte.
Beinahe wären Jan die Knie weggesackt. Ihm war so kalt. Dass er jetzt hemmungslos weinte war ihm vor seinem Vater furchtbar unangenehm. Doch er konnte es nicht kontrollieren und noch weniger konnte er noch sagen, von was zu zittern begann.
Er wusste nur, dass ihm der Weg vom Auto ins Haus unendlich weit erschien.
Paul ging neben ihm und ließ ihn nicht aus den Augen. Jan bekam gar nicht mit, dass sein Vater ihn führte.
Erst in der Wärme der Stube beruhigte sich Jan wieder. Er fand sich im Sessel direkt am Kamin wieder. Paul hatte ihm eine dicke Decke gereicht und seine Mutter ein heißes Bad vorgeschlagen, das er aber abgelehnt hatte. Paul drückte ihm eine Tasse in die Hand. Tee mit Rum. Vorsichtig schnupperte er. An und für sich sollte er Alkohol meiden solange er diese Tabletten nahm, aber dann nahm er doch einen großen Schluck. Die heiße Flüssigkeit suchte sich unter einem angenehmen Kribbeln den Weg durch seinen Körper.
Matt erkundigte er sich nach David, der laut seiner Mutter zwar aufgeregt ob des ersten Schnees gewesen, dennoch aber gut problemlos eingeschlafen war. In Jan regte sich das schlechte Gewissen. Er hätte hier sein sollen. Es war seine Aufgabe den Jungen ins Bett zu bringen. Dafür hatte er doch schließlich gekämpft.
Seine Eltern saßen ihm gegenüber, sein Vater stopfte gerade seine Pfeife.
Er wusste, er schuldete den beiden eine Erklärung. Er konnte die Sorge im Gesicht seiner Mutter sehen. Mit Sicherheit wusste sie, dass er am See gewesen war. Mütter wussten so was und ganz bestimmt wusste sie auch, warum er dorthin gegangen war. Es überraschte ihn, dass sie es nicht ansprach, ihm keine Vorwürfe machte.
Jan hob den Kopf, der innere Kampf war anstrengend.
Dann erzählte er und ließ sich bei seinen Eltern fallen.
Schlussendlich hatte er sie in das ganze Ausmaß des Rosenkriegs mit Diana eingeweiht. Jede Unterstützung hatten sie ihm zugesagt, nicht nur hinsichtlich David. Auch seine eigene psychische Situation hatte beide betroffen gemacht. Seine Mutter hatte äußerst emotional reagiert und Jan hatte sich für das, was er sich schon im Kopf ausgemalt hatte, fürchterlich geschämt.
Aber er hatte auch zugegeben, dass er nicht mehr weiter wusste. Dass da viel Angst in ihm saß, die ihn nicht schlafen ließ. Und warum er am See gewesen war, verschwieg er ebenfalls nicht. Dass es da diesen Moment gegeben hatte, in welchem ihm dieser Ausweg als einzige Lösung erschienen war. Und genau deswegen hatte er an diesen Platz gemusst. Anna. Sie hatte es kommen sehen, dass er irgendwann wieder hier landen würde. Wie lange er sich nicht erlaubt hatte, an sie zu denken.
Zögerlich hatte er dann auch von Isabelle erzählt. Welche Gefühle er für die junge Frau schon entwickelt hatte und dass auch diese ihm Angst machten. Wie sehr er fürchtete, jener schon jetzt zu viel Ballast zu sein. Vater und Mutter hatten ihm zugehört, seine Tränen angenommen und ihm ihre Hände entgegengestreckt.
Erst weit nach Mitternacht löschte Paul das Feuer im Kamin und Anke steckte ihm eine leichte Schlaftablette zu.
Mit einem unbehaglichen Gefühl sah Jan zu, wie sie den Medikamentenschrank entgegen jeder Gewohnheit abschloss und der Schlüssel in der Tasche ihres Bademantels verschwand.
Sie traute ihm nicht.
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht.
Genauso eine Sekunde später die, dass er für sich selbst auch keine Hand ins Feuer legen würde.
Nun lag er neben seinem Sohn und lauschte auf dessen regelmäßigen Atem.
Ab und an murmelte der Kleine etwas, wurde aber nicht wach.
Seine Eltern hatten ihm das Versprechen abgerungen, dass er gleich morgen früh Dr. Jäger anrufen würde.
Der bedingungslosen Halt, dem sie ihn anboten, rührte ihn.
Und tatsächlich fühlte er sich fast befreit.
Vor dem Schlafengehen hatte er nochmal Annas Brief gelesen.
"Ich habe es in deinen Augen gesehen", hatte sie gesagt, nachdem er ihr damals das Leben gerettet hatte. Irritiert hatte er sie angesehen. Doch sie hatte nur gelächelt und wissend genickt. Sie hatte sofort gewusst, dass es auch in ihm diese Dunkelheit gab.
Ehe sie starb, hatte sie ihm dann diese Kiste gegeben und klare Anweisungen erteilt.
„Nimm sie und bringe sie an den Platz, wo alles mit uns angefangen hat. Verstecke sie dort gut. Schau nicht hinein, versprich es. Wenn Du jemals in deinem Leben an einen Punkt kommst, an dem du nicht mehr weiter weißt und dir dieser dumme Weg von damals als echte Alternative erscheint, dann kehre dorthin zurück. Du wirst es spüren, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.“
Und wie er es gespürt hatte. Die Spirale hatte ihn immer weiter nach unten gezogen. Es waren beim Gespräch mit seinen Eltern viele Tränen geflossen, vor allem bei ihm. Noch immer war da viel Angst in ihm, aber eben auch das Gefühl, dass er nicht allein war.
Vorsichtig zog er seinen Sohn an sich heran. Instinktiv kuschelte sich David an ihn.
Behutsam gab er ihm einen Kuss auf die Stirn.
"Ich liebe dich, David."
Langsam fiel Jan in einen traumlosen Schlaf. Die Tablette seiner Mutter wirkte gut und verschaffte ihm die ersehnte Ruhe.