Es war spät, doch Isabelle fand keine Ruhe. Wach lag sie seit Stunden im Bett. Zwei Tage waren seit Dianas dreisten Auftritt vergangen.
Zwei Tage, in denen David seine Mutter nicht erwähnt hatte, dafür aber in eine Anhänglichkeit gegenüber Jan zurück fiel.
Zwei Tage, in denen Jan fast schon verzweifelt versucht hatte zu beweisen, dass es für ihn nur eine Frau im Leben gab.
Zwei Tage, in denen sie unendlich viel gesprochen und sich schlussendlich im Kreis gedreht hatten.
Jan wollte für David einen vernünftigen Umgang mit dessen Mutter. Gleichzeitig verhielt sich jene aber unangemessen. Isabelle hatte vorgeschlagen einen Familienhelfer hinzuzuziehen. Sie hatte Jan eindringlich gebeten, diese Vorfälle auch mit seiner Therapeutin zu besprechen. Denn es blieb ihr nicht verborgen, dass ihn die Situation belastete. Natürlich wollte er für seinen Sohn richtige Entscheidungen treffen. Gleichzeitig überschritt Diana Grenzen, die er ihr nun schon mehrfach gesetzt hatte.
Sie grübelte jetzt die dritte Nacht.
Würden sie jemals Ruhe vor Diana haben?
Würde jene David weiter für ihre Zwecke benutzen? Was konnten sie dagegen tun? Sie hasste sich dafür, aber sie betete, dass Diana wirklich in die USA gehen würde. Weit weg. Vielleicht wäre dies das Beste. Für Jan sowieso und irgendwie auch für David.
Isabelle hatte Angst, dass sie die Schatten niemals los werden würden. Konnte ihre Beziehung, die auf wackligen Füßen stand, dies aushalten?
Jan gab sich betont gelassen. Wie es in ihm aussah, konnte sie nur raten. In den Nächten gewährte er ihr zumindest kurze, unbewusste Einblicke. Er träumte schlecht und schlief überhaupt sehr unruhig.
Auch jetzt warf er sich immer wieder von einer auf die andere Seite. Sie beobachtete ihn einen Moment und überlegte, ob sie ihn wecken sollte. Als er sich seufzend mit dem Gesicht zur ihr rollte, strich sie sanft über seine Stirn. Erst am Abend hatte er ihr von den Schmerzen erzählt, die er offenbar seit einigen Tagen immer wieder hatte. Die Narbe machte ihm zu schaffen. Sie wusste, er sollte sich noch schonen. Stattdessen versuchte er ihr den Haushalt und David abzunehmen, wo es nur ging. Unbedingt wollte er ihr beweisen, dass er absolut ernst mit ihr meinte. Was sie ihm ja grundsätzlich glaubte. Dennoch hatten die Worte Dianas auch bei ihr einen Stachel des Zweifels zurück gelassen.
Mit einem nagenden Gefühl in der Brust schlief sie dann irgendwann doch ein.
Ganz früh wurde sie dann wach. Die andere Betthälfte war verwaist. Schlaftrunken betrat sie das Badezimmer und ertappte Jan, der auf dem Wannenrand saß und das Pflaster von der Narbe gezogen hatte.
"Verdammt, Jan", entfuhr es ihr. Aus der Rötung von vor ein paar Tagen war eine eitrige Entzündung geworden.
"Ich glaube, das sollte sich Hanno ansehen", murmelte er. Kopfschüttelnd sah sie ihn an. Seine Augen glänzten verdächtig.
"Du hast Fieber", stellte sie trocken fest. "Ganz sicher sollte sich das jemand ansehen. Entweder Hanno oder besser gleich die Notaufnahme", antwortete sie. Er zuckte zusammen und sofort tat ihr der Tonfall leid. Er hatte in den letzten Tagen wirklich alles versucht. Sie war und blieb sauer auf Diana, nicht auf ihn. Und sie war übermüdet und gereizt, ebenso wie er. Entschuldigend fuhr sie ihm über die Stirn.
"Ich rufe Hanno an", meinte sie sanfter.
Ein knappe Stunde später saßen sie in der Praxis. Hanno hatte sich Jan schon angesehen und seinem Patienten einen grantigen Vortrag gehalten. Während Isabelle die Nachricht von Jule laß, dass David gut in der Kita angekommen war, erteilte der Hausarzt Anweisungen an seine Arzthelferinnen. Die Narbe musste geöffnet, gereinigt und neu vernäht werden. Hanno gab ein Notfalllabor in Auftrag und wandte sich dann an Jan. Nochmal tastete er die Narbe ab, was Jan mit einem Stöhnen quittierte und dann die Zähne fest zusammen biss. Isabelle konnte sehen, dass er sich wirklich zusammenreißen musste. Die gute Nachricht war, dass Hanno selbst die Versorgung vornehmen konnte. Isabelle hatte sich ans Kopfende der Liege gesetzt und strich mit einem Finger über Jans Gesicht.
"Ich werde die Wunde jetzt reinigen und spülen. Danach werden wir lokal betäuben und eine der Stellen neu vernähen." Jan nickte und sah sich nach Isabelle um. Sie nahm seine Hand und versuchte ihm aufmunternd zuzuzwinkern.
Er zuckte zusammen, kaum dass Hanno die Wunde berührte. Isabelle sah, wie er immer wieder das Gesicht verzog. Der Druck in ihrer Hand verstärkte sich zunehmend. Kurz setzte Hanno ab und musterte Jan kritisch.
"Geht das?", fragte er dann. Auch ihm war aufgefallen, dass Jan immer blasser wurde. Er wartete die Antwort nicht ab, sondern rief seine Helferin zu sich.
Routiniert eilte diese dann an den Medikamentenschrank und stellte alles für eine Infusion zusammen. Hanno selbst legte einen Zugang und als der Beutel hing, sah er Isabelle beruhigend an. Offenbar setzte die Wirkung schnell ein. Konzentriert arbeitete Hanno dann weiter und behielt Jan dabei im Auge. Der hatte die Augen geschlossen und hielt Isabelles Hand noch immer fest. Wenige Minuten später tupfte Hanno die Wunde trocken und betrachtete diese dann eingehend. Endlich wirkte er zufrieden.
Ruhig erklärte er die weiteren Schritte und studierte dann die Laborwerte, die ihm eine weitere Helferin hereingebracht hatte. Um neues Antibiotika kam Jan nicht drumherum. Ebensowenig wie um eine lokale Betäubung. Während sie dann auf die Wirkung warten mussten, bat Hanno Isabelle kurz zu sich an den Schreibtisch.
"Absolute Ruhe in den nächsten Tagen, kann ich mich darauf verlassen?", wollte er wissen. Isabelle sah zu Jan.
"Versprochen", flüsterte sie. Hanno seufzte und schloss die Akte.
"Damit meine ich vor allem liegen. Kein Herumlaufen, tragen, was weiß ich. Das hier ist kein Spaß, das kann ganz anders ausgehen. Und wenn er die Entzündung nicht auskuriert, dann kann ich ihm kein grünes Licht für die Proben geben. Das ist viel zu gefährlich", erklärte er eindringlich.
Isabelle biss sich auf die Lippe. Sie verstand ja selbst nicht, warum Jan tagelang nichts gesagt hatte. Sie setzte sich wieder zu ihm und hielt erneut seine Hand, als Hanno die Naht erneuerte. Nochmal wurde Jan blasser und immer schläfriger. Er hatte die Augen fest zusammengekniffen und gab keinen Ton mehr von sich. Hanno beäugte zufrieden die Wunde und klebte diese dann vorsichtig ab. .
"Setz dich mal langsam auf", bat Hanno und räumte die Utensilien weg. Isabelle half Jan in den Sitz und reichte ihm sein Hemd. Doch Jan hielt beim Zuknöpfen inne.
"Mir ist nicht gut", murmelte er und lehnte sich an die Wand. Isabelle fürchtete eine Sekunde, er würde einfach herunterkippen, aber Hanno war direkt neben ihr. Mit geübten Handgriffen half er Jan wieder in die liegende Position und taste dann nach dessen Puls.
"Du bekommst über die Infusion noch was für den Kreislauf, dazu Antibiotika und weitere Schmerzmittel. Dauert eine knappe Stunde." Zügig öffnete er die Tür und instruierte eine wartende Arzthelferin. Diese tauschte den Tropf sofort aus.
Hanno hätte es dann lieber gesehen, Jan hätte sich ins St. Anna überweisen lassen. Zumindest übers Wochenende, so empfahl er. Aber Jan flehte ihn regelrecht an. Sie einigten sich auf einen Kompromiss. Da Isabelle in die Kita musste, würde Jan unter Beobachtung in der benachbarten ambulanten OP-Praxis bleiben, bis sie ihn wieder abholen konnte. Jan musste im Gegenzug unterschreiben, dass er auf eigenen Wunsch nach Hause ging. Und Isabelle versprach, sich umgehend zu melden oder den Notarzt zu rufen, sollten Komplikationen eintreten. Nochmal instruierte Hanno dann auch Jan.
Absolute Ruhe.
Viel Trinken.
Das Fieber beobachten.
Kontrolltermin gleich Montagmorgen.
Isabelle spürte, dass Hanno mit Jans Wunsch nicht einverstanden war, aber er ihm entgegen kommen wollte. Es war offensichtlich, dass Jans Psyche zu knabbern hatte. Während Jan von der zweiten Infusion noch schläfriger wurde, nahm Hanno erneut Isabelle beiseite.
"Ich lasse ihn gleich runter bringen. Von den ganzen Medikamenten wird er in den nächsten Tagen viel schlafen. Das Fieber muss morgen deutlich gesunken sein. Wenn nicht, ruf mich bitte an. Meine Nummer habt ihr ja. Schau dir die Naht bitte mehrmals täglich an. Wenn sie dir komisch vor kommt, dann melde dich bitte ebenfalls. Und wenn du dir das nicht zutraust, dann sage es bitte. Dann schreibe ich sofort eine Überweisung ins Krankenhaus."
Isabelle schüttelte den Kopf. Das würde nicht nötig sein. Als Kita-Leiterin hatte sie unter anderem Ersthelferkurse absolviert. Und sie würde Jan nichts durchgehen lassen.
Nur widerwillig ließ sie Jan dann in der Obhut der Praxis zurück. Aber sie musste sich wenigstens für ein paar Stunden in der Kita blicken lassen, auch wenn Hannah ihr versichert hatte, alles im Griff zu haben. Sie sah nach David, der aber unbeeindruckt mit seinen Kameraden spielte. Sie telefonierte mit Jule, um sich zu bedanken und brachte auch Alex auf den neuesten Stand.
Am frühen Nachmittag, als fast alle Kinder schon abgeholt waren, schnappte sie sich David. Sie fuhren einkaufen und dann in Richtung Praxis. Unterwegs erklärte sie ihm, dass sein Papa krank war, aber jetzt nach Hause kommen würde. Der Kleine schwieg eine Weile, dann versprach er, sehr lieb zu sein. Die Ernsthaftigkeit des Kleinen rührte sie.
Warum hatte sie in letzter Zeit nur so nah am Wasser gebaut?
In der Praxis wurde sie schon erwartet. Hanno hatte gerade nach Jan gesehen und winkte sie direkt durch. Herzlich begrüßte er David und machte ein paar Späße mit dem Jungen.
Jan kam ihr auf wackligen Beinen entgegen und wirkte erleichtert, dass er nach Hause durfte.
Am Abend ließ sich Isabelle erschöpft auf das Sofa fallen. Sie hatte noch einen Rotwein gefunden und sich ein Glas eingeschenkt. David und Jan schliefen endlich beide und sie genoss einen Moment der Stille. Der kleine Kerl hatte sein Versprechen bisher gut umgesetzt. Isabelle hatte mehrfach schmunzeln müssen, als sie sah, wie David seinem Vater helfen wollte. Eifrig hatte er Teetassen umhergetragen und ihm noch mehr von der Hühnersuppe angeboten, die Isabelle gekocht hatte. Selbst die Katzen hatte er zur Ruhe ermahnt, mehr oder weniger erfolgreich. Mimi lag nun bei ihm im Bett, Leo dagegen leistete ihre Gesellschaft. Außerdem hatte David darauf bestanden, dass sein Teddy auf Jan aufpassen sollte.
Der hatte in der Tat meist geschlafen und war sehr still gewesen. Sein Fieber war nicht mehr so hoch und die Schmerzmittel wirkten gut. Isabelle war guter Dinge, dass sie das Wochenende schaffen würden. Aber sie würden Geduld brauchen und Jan musste sich wirklich schonen. Alles musste langsam heilen, das brauchte Zeit. Isabelle kam in den Sinn, das dies nicht nur für die sichtbare Narbe zutraf, sondern ebenso für die inneren Narben, die auf Jans Seele prangten. Er brauchte endlich einmal Ruhe. Keine Störungen von außen. Das Theater um Diana hatte ihn derb zurückgeworfen. Das tat ihr leid. Und zu allem Übel hatte auch sie es ihm nicht gerade leicht gemacht.
Äußere und innere Narben. Sie atmete aus und schwor sich, dass sie ihm keine Weiteren zufügen wollte.
Wieder einmal war sie dankbar, für das kleine, aber so stabile soziale Netz. Jule und Tom nahmen Samstag David mit auf einen Ausflug. Sonntags sammelte Alex den Jungen ein, als er mit Heike und seinen eigenen Kindern unterwegs in den Tierpark war. Dabei sah er natürlich auch nach seinem Schützling, der sich deutlich erholt hatte. Jan hielt tatsächlich Ruhe. Anstandslos befolgte er, was Isabelle ihm auftrug. Schon am Samstagabend war er fieberfrei. Die Narbe nässte noch ein wenig, aber war fast abgeschwollen. Vor allem hatte er zwei Nächte tief und fest geschlafen, was auch ihr gut getan hatte. Jan war am Sonntagnachmittag vom Schlaf- ins Wohnzimmer umgezogen und sie hatte gerade das Pflaster gewechselt, als es klingelte. Jan hob seinen Kopf und sah sie an.
"Für Alex mit David ein bisschen früh", meinte sie. Sie reichte ihm sein Shirt und stand auf, um die Tür zu öffnen.
Dann stand Diana auf einmal direkt vor ihr. Erschrocken sah sie die andere an.
"Ist Jan da?", fragte sie.
Isabelle musterte sie kühl.
"Warum?"
Hinter sich nahm sie eine Bewegung wahr und sie drehte sich herum. Jan lehnte in der Tür. Diana zog die Luft scharf ein und musterte seinen nackten Oberkörper, ihr Blick verweilte auf dem Pflaster.
"Du sollst doch liegen bleiben", entfuhr es Isabelle, als sie ihm einen Blick zuwarf.
"Was willst du schon wieder?", zischte Jan, ohne aus Isabelle einzugehen. "Er hat dich was gefragt", meinte sie, da Diana offenbar das Sprechen verlernt hatte.
"Nun, ich wollte eigentlich…." Sie stockte und sah wieder Jan an. "Das sieht nicht gut aus", sagte sie dann.
"Das geht dich nichts an. Also, was willst du?" Jans Blick blieb dunkel. Er trat hinter Isabelle und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sofort entspannte sie sich.
"Kann ich nicht rein kommen?", fragte Diana.
"Keine gute Idee." Jans Herz raste, Isabelle konnte es in ihrem Rücken spüren.
"Ich wollte gerne David sehen", entgegnet Diana jetzt.
"Pech, der ist nicht da", schleuderte Jan ihr entgegen. "War es das?" Er strich Isabelle sanft über die Schulter, dennoch spürte sie, dass er zitterte. Es musste ihn Kraft kosten, sich aufrecht zu halten.
"Außerdem ist dein Besuchswochenende erst nächste Woche", schob Isabelle nach. Jans Verhalten gab ihr Selbstvertrauen. Außerdem hatte die Familienhilfe die Termine festgelegt.
"Ich weiß. Aber ich hatte Sehnsucht und außerdem…." Wieder zögerte Diana. "Ich wollte das eigentlich nicht zwischen Tür und Angel besprechen." Jan zuckte die Schultern.
"Dein Problem. Nach letzter Woche setzt du hier keinen Fuß mehr rein." Seine Atmung ging unruhig.
"Na gut."
Dianas Ton wurde abweisender. "Dann halt so. Mein Vater hat mir über einen seiner Kontakte einen Job besorgt. In Miami. Ich hatte über Weihnachten die Green Card verlängert und werde dort erstmal bleiben."
Isabelles Herz raste. Das war schnell gegangen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Jan atmete tief durch
"Und das Kind?", fragte er.
"Das geht dich nichts an, wie du so schön gerade gesagt hast." Diana warf ihm einen langen Blick zu. "Ich hole David wie vereinbart am Freitag von der Kita ab und bringe ihn Montag morgen dort wieder hin. Du bist dann ja sicher da." Unsicher sah sie jetzt Isabelle an, die ebenfalls nur nickte.
"Dienstag fliege ich rüber, es wäre also schön, es käme nichts zwischen das letzte Wochenende mit meinem Sohn. Und ich würde es ihm gerne selbst erklären." Wie abgeklärt sie wirkte. Wie entschlossen. "Gut, dann euch einen schönen Sonntag." Sie drehte sich um und eilte, ohne eine Reaktion abzuwarten, die Treppe hinunter. Isabelle schloss die Wohnungstür und folgte Jan ins Wohnzimmer. Der hatte sich schnell aufs Sofa sinken lassen, ehe sein Kreislauf endgültig aufgab. Während er wieder Farbe ins Gesicht bekam, dachte Isabelle nach. War das die Lösung der Probleme der letzten Wochen?
Auch Jan dachte in den nächsten Tagen viel nach. Er beschäftigte sich viel mit David und bereitete den Jungen darauf vor, dass er seine Mutter dann für eine ganze Weile nicht sehen würde. Aber natürlich war das für den Vierjährigen noch nicht greifbar. Dass der Junge dann so gar keine Lust auf das Besuchswochenende hatte, machte die Sache nicht besser. Jan war dann dabei, als Diana den Jungen ab holte und auch Isabelle begleitete die Übergabe. David ging erst mit Diana mit, als Jan ihm fest versprochen hatte, ihn abzuholen, sollte er vorzeitig nach Hause wollen. Diana wirkte dementsprechend genervt. Isabelle sah den beiden nach und drückte Jans Hand. Ein letztes Mal, sie hatten ausführlich darüber gesprochen. Wer weiß, wann sich die nächste Gelegenheit ergeben würde.