Erschrocken fuhr Isabelle aus dem Schlaf hoch. Wer hatte da geschrien? Verwirrt blickte sie auf die offene Balkontür, der Vorhang davor wehte im leichten Wind. Der Platz neben ihr war leer und kalt. Jan musste das Bett schon vor einer Weile verlassen haben. Schnell eilte sie auf den Balkon. Ihr Herz raste, als sie dort wider Erwarten auf die leeren Stühle blickte. Panisch warf sie einen Blick über die Brüstung. Er hatte es ihr doch versprochen.
Der Rasen lag drei Stockwerke unter ihr dunkel und friedlich da. Erleichtert wandte sie den Blick in Richtung Küchenfenster. Gleichzeitig hörte sie David greinen. Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung hinter der Fensterscheibe wahr. Jan!
Sie eilte durch das Wohnzimmer in den Flur, dort stand David mit seinem Teddy im Arm vor der Küchentür und sah sie bekümmert an. Schnell nahm sie ihn auf den Arm und drückte das kleine Kindergesicht an sich. Sofort hielt sich der Kleine an ihr fest und ließ seinen Tränen freien Lauf.
»Jan? Ist bei dir alles in Ordnung?«, rief sie durch die geschlossene Tür. Durch die Milchglasscheibe konnte sie nichts erkennen.
Beruhigend flüsterte sie auf David ein, der sich langsam beruhigte. In der Küche war es still. Mit Unbehagen erinnerte sich Isabelle an Jans Wutanfall vor einigen Wochen.
»Okay, ich bringe jetzt David ins Bett und dann komme ich zu dir, ja?« Wieder antwortete Jan nicht. Seufzend ging sie mit David in dessen Zimmer und packte den Jungen in sein Bett. Sie setzte sich zu ihm, ließ ihn sich an sie kuscheln und hörte ihm zu.
Der Kleine bekam viel zu viel mit. Mehr als sie geahnt hatte. Viel mehr als sie wahrhaben wollte. Immer wieder fragte er nach, ob sein Papa wieder gesund werden würde. Irgendwann schlummerte er dann aber doch wieder ein. Isabelle betrachtete den Jungen noch einige Momente, ehe sie ihn zudeckte und sein Zimmer leise verließ. Aus der Küche drang immer noch kein Laut.
Beherzt öffnete sie die Tür und sah sich um. Jan saß am Boden, wie vor einigen Wochen auch. Sein Gesicht war aschfahl und sie konnte sehen, wie unruhig er atmete. Sie schloss die Tür hinter sich und setzte sich neben ihn. Seine Hand war eiskalt, als sie danach griff, aber er zog sie nicht weg. Er lehnte sich stattdessen direkt an sie. Mit belegter Stimme begann er schließlich zu sprechen. Leise und in knappen Sätzen ließ er sie teilhaben an dem, was ihm den Schlaf raubte. Isabelle hörte ihm zu, unterbrach ihn nicht und ließ seine Hand nicht los. Mit der Anderen streichelte sie seinen Rücken, so wie sie es einige Minuten zuvor bei seinem Sohn gemacht hatte.
Als Jan vorsichtig andeutete, was er am Liebsten mit Diana anstellen würde und seine Wut erneut die Führung übernahm, setzte sie sich aber schockiert auf. Händeringend brauchte Jan ein Ventil.
»Hast du darüber schon in der Therapie gesprochen?«, fragte sie, als er geendet hatte. Seine Wut hatte sich etwas gelegt und er hatte seinen Kopf erschöpft wieder an ihre Schulter gelehnt. Aus Isabelles Sicht saß er auf einem Pulverfass. Vieles konnte man mit Reden sicherlich gut verarzten, aber manchmal half das nicht.
«Nein. Bisher war mir das nicht so klar. Im Grunde habe ich erst vorhin selbst kapiert, was ich ihr gerne antun würde. Als ich dich im Arm hatte und nicht in der Lage war, mich auf dich einzulassen. Obwohl ich es wollte. So sehr. Bitte glaub mir das.«
Zur Antwort drückte sie ihm einen Kuss auf die Stirn. Natürlich tat sie das. Und sie bestätige es ihm eindringlich, ehe sie ihn sanft überredete, wieder mit ins Bett zu kommen. Die Uhr zeigte mittlerweile halb drei, als sie endlich beide zur Ruhe kamen. Isabelle konnte aber nicht mehr richtig schlafen, zu viel ging ihr durch den Kopf. Jan blieb unruhig, schlief aber einigermaßen durch. Jedenfalls soweit Isabelle es mitbekam.
Obwohl auch sie hundemüde war und sich wie gerädert fühlte, war sie es, die aufstand, als David sich am Morgen bemerkbar machte. Der Kleine war gut gelaunt und fröhlich und schien das nächtliche Intermezzo gut weggesteckt zu haben. Erst gegen Mittag tauchte Jan auf, der ihr den Jungen abnahm. Als Isabelle unter der Dusche stand, spielte sie die anstrengende Nacht vor ihren Augen nochmal durch. Angefangen von der intimen Erfahrung am Abend, über die sie sich so sehr gefreut hatte, bis hin zu Jans Qual. Der Weg war lang und steinig, keine Frage. Sie standen ganz am Ende einer sehr langen Treppe und deren Ende war nicht in Sichtweite.
Wie lange würde sie wohl brauchen, diese zu erklimmen?
Wie schnell würden sie voran kommen?
Wie oft noch mussten sie wieder zurück gehen?
Sie stellte das Wasser ab und wickelte sich in ein Handtuch. Kritisch musterte sie ihren Anblick im Spiegel. Würde ihre Beziehung das überleben? An und für sich wollte Isabelle nicht nur überleben, sie wollte leben. Mit Jan. Und David. Und vielleicht eines Tages mit einem gemeinsamen Kind. Würde das jemals möglich sein? Sie wusste in diesem Moment einfach keine Antwort.
Vielleicht hatte auch sie sich zu viel von diesem Donnerstag und dem ersten Termin mit der Spezialistin erhofft. Jans Unruhe war schon am Morgen ein Problem. Während sie einen Einkaufszettel geschrieben und David mit seinem Lego gespielt hatte, war Jan ruhelos durch die Wohnung gelaufen. Wie vereinbart hatte sie ihn dann zum Krisenzentrum begleitet, dieses Mal aber nicht während der Sitzung dort gewartet. Frau Dr. Funk hatte schon angekündigt, dass es länger dauern könnte. Also war sie einkaufen gewesen und mit David kurz auf dem Spielplatz. Ausgemacht wat gewesen, das sich Jan melden sollte, sobald er fertig war, damit sie ihn abholen konnte.
Zu ihrer großen Überraschung schrieb er ihr dann aber nur, dass er direkt und alleine nach Hause kommen wollte.
Etwas verärgert trat sie mit David den Heimweg an und kümmerte sich anschließend um das Mittagessen. Als Jan endlich im Flur stand sah sie sofort, dass er aufgewühlt war. David lief ihm entgegen und wollte seinen Vater überreden mit ihm zu spielen, aber Jan verschanzte sich wortlos im Badezimmer. Seufzend rief Isabelle den enttäuschten Jungen in die Küche und schlug ihm vor, doch ein bisschen zu malen. Damit ließ sich das Kind etwas ablenken, bis die Nudeln mit Tomatensoße auf dem Tisch standen.
Lustlos stocherte Jan anschließend in seinem Essen, während David lebhaft mit Isabelle über einen Nachtisch diskutierte.
»Schokoladeneis!«, bettelte er wieder und sah Isabelle unschuldig an.
»Schatz, da weiß ich gar nicht, ob wir noch was da haben«, meinte sie unverbindlich.
»Doch! Du hast welches eingekauft«, rief er und rutschte von seinem Stuhl. Eilig lief er an den Kühlschrank. »Da drinnen« meinte er und sah sie fragend an. Lachend stand sie auf und holte ihn an den Tisch zurück.
»Erst isst du dein Mittagessen zu Ende«, sagte sie und zeigte auf den schon fast leeren Teller.
»Aber Papa muss auch nicht.«, argumentierte David bockig. Isabelle schüttelte den Kopf.
»Doch, der Papa muss auch«, sagte sie und warf Jan stirnrunzelnd einen Blick zu. Der schien ganz weit weg mit seinen Gedanken zu sein. Seine Portion hatte er kaum angerührt. Die Gabel hatte er aber mittlerweile aus der Hand gelegt.
»Ne. Ich will jetzt mein Eis!«, rief David und wollte schon wieder vom Stuhl klettern.
»Nein, junger Mann. Erst das Mittagessen und dann das Eis. Und wenn du dich jetzt nicht benimmst, dann fällt es ganz aus.«
Sie schob den Stuhl wieder an den Tisch. David begann sofort wieder zu quengeln und klopfte mit der Gabel auf dem Teller herum.
»Verdammt nochmal, David«, wurde Jan mit einem Mal laut. »Das war es. Du kannst aufstehen und in dein Zimmer gehen. Sofort und ohne Eis oder sonst was«, blaffte er den Kleinen an. Erschrocken ließ der Junge seine Gabel fallen und verzog das Gesicht. Dabei machte er aber keine Anstalten, sich zu bewegen. Jans Faust knallte laut und wie aus dem Nichts auf den Tisch.
»Hast du mich nicht verstanden? Ab mit dir!« Die Stille, die folgte, war unangenehm. Erschrocken sah Isabelle ihn an und gab David zu verstehen, dass er aufstehen sollte. Mit Tränen in den Augen folgte David ihrem Zeichen und lief schluchzend aus der Küche. Langsam stand Isabelle auf und schloss die Tür, dann wandte sie sich Jan zu.
»Was sollte das?«, fragte sie ihn. Unwirsch schob Jan seinen Teller von sich und funkelte sie an. »Nein, mein Lieber. So funktioniert das nicht. Weder David noch ich haben dir etwas getan«, schimpfte sie und begann den Tisch abzuräumen. »Entweder du sagst mir jetzt, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist, oder du hast gleich genügend Zeit alleine darüber nachzudenken.«
Sie räumte die Teller in die Spülmaschine, nur Jans ließ sie vor ihm stehen. Dann ging sie an den Kühlschrank und öffnete das Eisfach. Erwartungsvoll drehte sie sich dann mit zwei Eistüten in der Hand um. Jan starrte noch immer den Teller vor sich an. »Rede mit mir«, forderte sie ihn auf, doch Jan regte sich nicht.
»Na gut«, meinte Isabelle und ging langsam zur Tür. »Da du nicht reden möchtest, werde ich jetzt mit David ein Eis essen und dabei mit ihm um den Block laufen. Denk in der halben Stunde bitte darüber nach, ob das gerade fair war.«
Sie nahm sich dann mehr Zeit an der frischen Luft als die angekündigte halbe Stunde. Die Sonne schien mild und David taten die unbeschwerten Momente einfach gut. Und ihr auch. Obwohl etwas in ihr sich meldete und sie mahnte, dass es keine gute Idee sein könnte, dass sie Jan allein gelassen hatte. Aber hier ging nun mal der Kurze vor. Den hatte Jans Ausbruch erschreckt und überhaupt konnte man sehen, dass er mit den Stimmungsschwankungen seines Vaters nicht umgehen konnte. Isabelle hatte am gestrigen Abend mit Heike telefoniert und sie würden sich am Montagabend sehen. Sie musste mit ihr sprechen und auch mit Jan. David nannte sie, wenn sie alleine waren, nur noch Mama. Natürlich hatte sie ihn versucht zu korrigieren und in Jans Beisein war es noch nicht vorgekommen, aber sie mussten darüber reden. Eine Position dazu finden. Eine gemeinsame. Während David immer wieder die Rutsche erklomm, dachte Isabelle weiter nach. Ob sich Jan wieder beruhigt hatte? Ihr wäre wohler, er würde nochmal ins Krisenzentrum fahren, sich vielleicht mit Lars Martin unterhalten. Es erschien ihr keine gute Idee, dass Jan heute ans Theater gehen wollte. Aber notfalls würde ja auch Robert ein Machtwort sprechen. Immerhin hatte jener Regeln aufgestellt und im Grunde war es Jan an der Nasenspitze anzusehen, dass ihn die Therapiesitzung sehr beschäftigte.
Aus der halben Stunde waren dann fast zwei geworden. Doch David lachte wieder und auch sie fühlte sich besser. Zumindest bis sie das Apartment betrat. Jan hatte in der Küche aufgeräumt und auch den Müll entsorgt. Aber er selbst war nicht mehr da. Nur ein Zettel, der ihr erzählte, dass er vor der heutigen Putzprobe und Vorstellung noch etwas frische Luft brauchte. Na gut, dachte sie. Immerhin telefonierten sie kurz, als Jan in der Garderobe saß. Und auch David sprach ein paar Worte mit seinem Vater. Als wäre nichts gewesen, verabschiedete sich Jan schließlich am Telefon. Nachdenklich schob Isabelle ihr Handy in die Tasche. Eigentlich wollte sie Jan den Vorfall so nicht durchgehen lassen. Weder, dass er sich nach dem Termin eingeigelt hatte, noch dass er gegenüber seinem Sohn laut geworden war. So sehr sie es dann der versuchte, sie schaffte es nicht, wach zu bleiben bis Jan nach Hause kam. Was vor allem daran lag, dass er viel später als in den letzten Tagen kam. Es war schon fast halb eins, als sie das Licht löschte. Ihr letzter Gedanke galt der Therapie. Hätte es damit nicht deutlich besser werden sollen? Stattdessen schien Jan noch aufgewühlter als vorher. War dieser Weg der richtige? Und wie würde es werden, wenn sie in zwei Tagen nach Hause fuhr?