Isabelle hatte ihn wortlos in den Arm genommen. Jan hatte Tränen in den Augen gehabt und sie fürchtete beinahe, er würde unter einem Schock stehen.
Sie wollte ihn so sehr trösten, ihre Gefühle für ihn konnte sie in diesem Moment kaum kontrollieren. Seine Verzweiflung tat ihr selbst weh. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, welche Ängste Jan durchlebte. Sie streichelte seine Hand. Mit der anderen Hand berührte sie sein Gesicht, wischte die Tränen weg. Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn sanft auf die Stirn, auf die Wange und schließlich auf den Mund. Er ließ es zu und sie spürte, wie er sich entspannte und sie näher zu sich zog. Eine ganze Weile saßen sie eng umschlungen zusammen.
Isabelle hatte wissen wollen, was über den Tag passiert war, doch Jan konnte oder wollte nicht darüber sprechen. Sie sah zur Uhr, schon so spät. Sie würde bald los müssen. Doch Jan machte ihr einen Strich durch die Rechnung.
„Kannst du nicht bleiben, bitte?“, bat er sie leise, als sie sich verabschieden wollte. Sie zögerte. „Ich möchte dich heute Nacht bei mir haben.“, fügte er hinzu und sein Blick stimmt sie schlussendlich um.
Kurz darauf kroch sie schüchtern in das Bett. Das Gästezimmer war überhaupt nicht als Option in Betracht gekommen. Sie wollte ihm nah sein. Er wollte sie beis sich haben. Jan zog sie sofort an sich und nahm sie in den Arm. Sie spürte seinen Atem in ihrem Rücken und die Nähe raubte ihr kurz die Sinne.
„Ist das okay für dich?“, fragte er flüsternd.
„Ja.“, antwortete sie und schmiegte sich an ihn. Er seufzte leise und griff nach ihrer Hand. Sie schloss ihre Finger um seine und zog die Hand zu ihrem Gesicht, küsste sie dann vorsichtig. Er reagierte, in dem er ihren Nacken ebenfalls sanft küsste. In Isabelle breitete sich ein wohliger Schauer aus. Zufrieden bewegte sie sich ein wenig, gleichzeitig spürte sie eine Hand auf ihrer Hüfte. Nanu, dachte sie verwundert. Die Hand schob sich langsam unter das Shirt und wanderte dann etwas zögerlich weiter. Überrascht zog Isabelle die Luft ein, als er ihre Brust berührte. Die Berührung war sanft, fast etwas scheu und dennoch erregte sie dies sehr.
Sie spürte sein eigenes Verlangen und dann seinen schweren Atem, mehr als dass sie ihn hörte. Seine Lippen waren an ihrem Nacken und ihrem Ohr. Isabelle drehte sich dann zu ihm herum, sah ihm ins Gesicht. Er lächelte sie an, streichelte ihre Haare zurück.
In diesem Moment wollte sie ihn unbedingt. Sie ahnte, dass es falsch sein könnte, die falschen Gründe. Aber erstaunlicherweise war es ihr egal. Sie ließ eine Hand unter sein Shirt wandern und ertastete seinen muskulösen Oberkörper. Er quittierte dies mit einem leisen Keuchen. Seine Hand spielte bereits mit ihrem Slip und sie erschauderte, als er sie vorsichtig zu streicheln begann. Beinahe etwas ungeduldig zog sie ihn an sich und suchte erneut seine Lippen. Ihre Zungen waren nun beide mutiger und erforschten sich gegenseitig, Isabelle stöhnte auf. Er streifte ihr den Slip ab und unterbrach seine Liebkosungen dabei nicht. Ihre Hände versuchten nun ebenfalls an seine Hose zu kommen und ihn davon zu befreien.
Auf einmal kippte die Stimmung. Jan hielt inne, sah sie mit großen Augen an und ließ dann von ihr ab. Rollte sich schnell weg und setzte sich auf die Bettkante.
„Jan?“, fragte sie und glitt hinter ihn.
„Was ist los?“ Sie berührte ihn leicht am Rücken und er fuhr regelrecht zusammen.
Isabelle tastete nach ihrem Slip, zog ihn wieder an und rutschte neben ihn. „Es ist okay, wenn du nicht möchtest. Alles gut.“ Wieder berührte sie ihn leicht.
„Es tut mir leid.“, sagte er dann. „Ich wollte wirklich Isabelle, aber ich kann nicht.“, meinte er heiser.
Isabelle nickte und kuschelte sich wieder unter die Decke. Dann klopfte sie leicht auf die Matratze.
„Komm her, lass uns schlafen. Ich kann auch einfach nur da sein.“
Er sagte nichts, legte sich aber mit dem Rücken zu ihr wieder ins Bett. „Es ist okay, wir haben alle Zeit der Welt.“, murmelte sie. Sie rückte etwas näher und legte einen Hand an seinen Rücken. Sie wartete darauf, dass er sich entspannte und sein Atem ruhiger wurde. Schließlich schlief sie darüber ein.
Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, löste sie sich aus seinen Armen und verließ das Bett. Sie konnte nicht sagen, wann er endlich eingeschlafen war. Mindestens dreimal wurde sie wach, weil er im Traum sprach oder schweißgebadet aus einem hoch schreckte. Die letzten beiden Stunden waren ruhig gewesen, dennoch fühlte sie sich ausgelaugt. Sie nahm sich vor, ihn darauf anzusprechen. Gestern hatte sie ihm das Flüchten in ein Schweigen zugestanden, aber dauerhaft war das keine Lösung. Nachdem sie geduscht und alles zusammengepackt hatte, betrat Isabelle erneut das Schlafzimmer. Behutsam strich sie Jan kurz über das Gesicht. Sie griff nach dem Reisewecker, der sie eben geweckt hatte und stellte ihn auf Neun Uhr um. Darum hatte er sie am Vorabend gebeten, da eine außerplanmäßige Probe angesetzt war. Sie musste dagegen um Sieben in der Kita sein. Sie stellte den Wecker auf seinen Nachttisch und sah nochmal zu Jan, der sich gerade unruhig regte. Isabelle berührte ihn leicht und streichelte ihm sanft über den Rücken, bis er ruhig weiter schlief. Sie hoffte sehr, dass er sie ins Vertrauen ziehen würde. Bald.
Es war noch ziemlich dunkel und bitterkalt draußen. Fast erschien ihr der Weg durch den Park etwas unheimlich. In der Kita angekommen lüftete sie das Spielzimmer und kochte Tee. Zwei Mütter machten heute von dem Frühangebot Gebrauch, so dass Isabelle direkt zwei Kinder um sich hatte. Kurz darauf tauchte ihre Kollegin Hannah auf, die auch die Brezeln für das Frühstück besorgt hatte. Ab halb 8 füllte sich die Kita und Isabelle sprach mit einigen Eltern. Überrascht sah sie dann, wie Diana Meister mit David vom Parkplatz herüber kam. Zerstreut rief sie Hannah zu sich.
"Könntest du das bitte machen, ich bin mal kurz im Büro.", bat sie ihre Kollegin. Das wollte sie sich nun nicht antun. Der Abgang von Diana am Vortag war ihr noch zu gut im Gedächtnis. Außerdem spürte sie eine leichte Wut auf die Andere, dachte an Jan und seinen Schmerz. Wie konnte man nur so miteinander umgehen? Sie beobachtete die Ankunft der beiden durchdas Glasfenster der Bürotür. David wirkte ziemlich verstört, klammerte sich direkt an Hannah, nachdem seine Mutter ihm die Jacke und Schuhe ausgezogen hatte. Sie sah Diana mit Hannah sprechen, etwas gestikulieren und dann war sie schon wieder weg. Sie wartete einen Moment, dann ging Isabelle langsam auf David zu, der Hannah nicht loslassen wollte.
"Hey kleiner Mann." Sie ging vor ihm in die Hocke. David sah sie aus ängstlichen Augen an. Er hatte definitiv die Augen seines Vaters, dachte sie. Und jene hatten am Abend ebenso tief traurig ausgesehen. Er griff vertrauensselig nach ihrer Hand.
"Frau Meister sagte, dass die Großmutter ihn abholt und wir sie informieren möchten, sollte der Vater hier auftauchen.", informierte Hannah verwundert. "Was ist da denn los?", wunderte sie sich dann.
Isabelle seufzte. Noch ging es niemanden etwas an, wie nah sie und Jan sich standen. Waren sie zusammen? Konnte man das so sehen? Unbedingt mussten sie das klären. Auch wollte sie einen Interessenkonflikt vermeiden. Nicht nur bei sich selbst, sondern auch Jan zuliebe. Wer weiß, wie Diana reagieren würde. Sie schüttelte den Gedanken weg und beantwortete Hannahs Frage: "Da geht es wohl um das Sorgerecht, da werden wir uns schlau machen müssen, fürchte ich." Dann sah sie David an, nahm ihn an die Hand und schlug ihm vor, dass er jetzt erst einmal einen heißen Kakao bekommen sollte. Sie widerstand dem Drang, sofort Jan anzurufen. Sie musste hier neutral bleiben. So schwer es ihr auch fiel.
Von Jan hörte sie am Vormittag nur wenig. Er hatte ihr geschrieben, als er sich zum Theater aufgemacht hatte. Gut, er war aus dem Haus und war zur Arbeit gegangen. Vielleicht die beste Idee. Für seinen Job am Abend musste er sich konzentrieren. Am frühen Nachmittag holte Linda Meister ihren Enkel wie angekündigt ab. Isabelle hielt sich im Hintergrund, damit David sie beim Gehen nicht sah. Über den Tag war er anhänglich gewesen und hatte ihnen Kummer bereitet. Der kleine Kerl tat ihr unfassbar leid. Hoffentlich würde das Gericht schnell eine Entscheidung fällen. Der Umgang zwischen Jan und seinem Sohn musste geregelt werden. Und nur ein Blinder würde übersehen, dass David seinen Vater unglaublich vermisste. Dass ihm der plötzliche Tapetenwechsel nicht gut tat. Hannah hatte sorgfältig protokolliert. Sie alle wussten, dass Jugendämter und Familiengerichte sich gerne in den Einrichtungen erkundigten.
Isabelle brauchte später Ablenkung, sie traf sich mit zwei Freundinnen im Fitness-Studio und powerte sich aus. Überrascht stellte sie hinterher fest, dass Jan mehrfach angerufen hatte. Müsste er nicht auf der Bühne stehen? Irritiert rief sie ihn zurück, erreichte aber nur die Mailbox. In der Wohnung versorgte sie die beiden Katzen, die in letzter Zeit zu kurz kamen. Gut, dass die ältere Dame von gegenüber sich gerne um die Stubentiger kümmerte. Heute aber schmuste sie mit ihnen und probierte es noch zweimal bei Jan, ehe sie ins Bett ging. Warum erreichte sie ihn nicht? Vielleicht hatte sie die Zeiten verwechselt und er hatte vorhin noch Pause gehabt? Sollte sie noch etwas warten? Andererseits war ihre Nacht um 5:30 Uhr vorbei. Halbherzig blätterte sie noch eine halbe Stunde in ihrem Buch, dann gab sie auf. Beim Einschlafen glitten ihre Gedanken immer wieder zu David.
Hastig überflog Isabelle am nächsten Morgen den Elternbrief, den Hannah gestern geschrieben hatte. Der nächste Elternabend stand an und sie gab ihrer Kollegin den Entwurf zurück.
"Prima, geben wir heute allen Eltern mit, bitte aber unbedingt auf der Liste vermerken, wer alles einen bekommen hat.", wies sie an. Draußen sah sie gerade David, der noch in seiner warmen Jacke im Flur stand. Eilig erhob sie sich. Eigentlich war sie ganz froh, dass sie Jan gestern nicht mehr persönlich gesprochen hatte. Er hätte mit Sicherheit nach seinem Sohn gefragt. Und sie hatte ihn nicht anlügen wollen. Aber sie hatte eine Entscheidung gefällt. Bei jedem anderen Kind hätte sie als Leiterin der Einrichtung nichtmal ansatzweise gezögert. Energisch ging sie Diana entgegen, die mit David schimpfte, weil der sich die Jacke nicht ausziehen lassen wollte und laut zu weinen begonnen hatte.
"Frau Meister, gut dass ich sie sehe. Können wir kurz sprechen?" Sie reichte Diana die Hand. Die nickte zerstreut.
"Wenn es nicht lange dauert, ich muss dringend ins Büro.", antwortete sie. Isabelle nahm sie beiseite und Kristina eilte herbei um David zu beruhigen. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass die junge Auszubildende mehr Erfolg hatte als dessen Mutter.
"Frau Meister, David war gestern sehr schwierig. Die Anhänglichkeit war in den letzten 14 Tagen fast verschwunden, gestern aber machte er keinen Schritt ohne einer von uns. Zudem hat er sich zweimal eingenässt und er hat mit Legosteinen nach einem anderen Kind geworfen."
Isabelle sah die Frau vor sich lange an. Sie konnte schon verstehen, dass Jan sich in sie verliebt hatte. Sie hatte eine tolle Figur, ein sehr hübsches Gesicht und wunderbare blonde Haare. Nun aber wirkte sie sehr gestresst.
"Danke, dass sie mir das sagen Frau Paul. David macht gerade eine schwere Zeit durch. Sein Vater und ich, wir haben uns getrennt und David ist irgendwie dazwischen geraten.", erklärte sie und sah dabei zu Boden.
Beinahe hätte Isabelle Mitleid gehabt. Aber sie hatte ja mitbekommen, wie Diana ihren Sohn hier an sich genommen hatte. Und wie sie mit Jan umgegangen war. Und auch mit David, in dem sie ihn einfach bei ihren Eltern geparkt hatte. Sie nickte dennoch.
"Sie sollten zusehen, dass für David eine passende Lösung gefunden wird. Er ist wirklich sehr sensibel. Die andere Mutter hat von einer Beschwerde abgesehen, David hat den Jungen nicht getroffen. Aber sie sollten vielleicht zum Elternabend kommen." Sie drückte ihr die Einladung in die Hand. Diana sah auf das Datum.
"Da muss ich mal schauen Frau Paul. Meine Mutter holt meinen Sohn nachher wieder ab."
Isabelle sah ihr irritiert nach. Eine wirklich seltsame Frau, dachte sie. Als sie sich an den Schreibtisch setzte und nach ihrem Handy griff, hatte Jan geschrieben. Seufzend las sie seinen Guten-Morgen-Gruß. Er hatte volles Programm. Nochmal ein Arzttermin, eine Besprechung mit seinem Management und noch eine Probe vor der heutigen Vorstellung. Er schrieb, dass er sie vermisste und heute unbedingt ihre Stimme hören musste. Das Gericht hatte für den nächsten Morgen einen Termin angesetzt. Isabelle schloss kurz die Augen. Sie wählte seine Nummer und er war sofort dran.
"Können wir uns morgen sehen? Nach der Vorstellung? ich hole dich auch ab.", bat er sie. Ihr Blick ging zum Dienstplan an der Wand. Hannah hatte einen freien Vormittag.
"Es tut mir leid, Jan. Das wird einfach viel zu spät für mich. Aber lass uns doch Samstag wieder frühstücken.", schlug sie vor. Er zögerte, willigte aber ein. Als sie auflegte hatte sie das Gefühl, dass er distanzierter war als zu Beginn des Telefonats. Und sie wurde das Gefühl nicht los, dass er ihr bisher nicht alles erzählt hatte. Nachdenklich spielte sie mit ihrem Bleistift. Kristina hatte gerade die Kinder nach draußen gelassen. Sie hörte einige rufen und lachen. Als sie durchs Fenster sah, stand David allein neben dem Sandkasten und sie konnte selbst aus dieser Entfernung seine Traurigkeit in den Augen erkennen.
In was war sie da hinein gestolpert?