Jan war nach dem ersten Gespräch und dem schweren Geständnis unendlich erleichtert gewesen. Auf einmal hatte ihre Nähe gut getan. Ihr Wange an seiner Schulter, ihr Finger auf seiner Brust und ihr Körper an seinem. Ganz behutsam hatte er sich fallen lassen und gewagt, die Augen zu schließen. Er hatte ihr viel zugemutet. Gelogen, ihr Angst gemacht und ihr nicht vertraut. Sie als Prellbock benutzt, obwohl sie es gut meinte. Und dennoch blieb sie bei ihm, gab ihm Ruhe und Kraft. Woher nahm sie wiederum nur ihr Stärke?
Jan hatte ihr einen Kuss auf die Stirn gehaucht und noch enger zu sich gezogen. Sie war schon eingeschlafen gewesen und war nicht wach geworden, als er seine Arme um sie geschlungen und fest gehalten hatte. Ja, es hatte sich richtig angefühlt und in Jan hatte sich eine vorsichtige Hoffnung breit gemacht. Ohne sie, das hatte er gespürt, wäre er verloren. Was er getan hätte, wäre sie gegangen, wusste er nicht. Jan hatte seine Augen geschlossen und sich auf ihren Atem konzentriert. Ihren Geruch, ihre Wärme. Friedlich war er in den Schlaf geglitten und hatte in den folgenden Tagen gekämpft. Mal erfolgreicher, mal weniger. Wenn er aus einem Traum hochgeschreckt war und sich die Erinnerung so lebendig gezeigt hatte, fühlte er sich hilflos und verloren. Es war eine harte Woche gewesen. Jan hoffte, dass ihm der Alltag am Theater und neue Routinen drumherum ein bisschen mehr Halt geben würden. Er brauchte die Bühne. Die Kompensation.
Auch heute hatte er sich vor der Tür von Ariane verabschiedet und hatte leise die kleine Wohnung betreten. Zuerst sah er nach David, der mit seinen Teddy im Arm ruhig schlief, ehe er das Wohnzimmer betrat. Isabelle hob den Kopf und lächelte ihn an. Er begrüßte sie mit einem Kuss, dann verschwand er im Bad. Eine schnelle Dusche, dann ging er hinüber in die Küche. Isabelle hatte ihm das Medikament des Heilpraktikers, das ihm beim Schlafen helfen sollte, zu einem Glas Wasser herausgelegt. An und für sich widerstrebte es Jan, dass sie die Kontrolle darüber hatte, aber er konnte es auch verstehen. Zu viel Unsinn hatte er angestellt. Er schluckte die Tablette und setzte sich an den Küchentisch. Er war müde und hoffte, dass er etwas besser würde schlafen können.
Daran hatte sich in der letzten Woche wenig geändert. Mehr als einmal war er schweißgebadet wach geworden, weil er sich selbst hatte schreien hören. Seufzend stützte er den Kopf auf seine Hände und starrte auf den Laptop, der vor ihm stand. Dr. Funk hatte ihn gebeten zumindest zu versuchen, das Erlebte in Worte zu fassen, doch bisher war es ihm nicht gelungen. Lars Martin hatte ihn beruhigt und gesagt, dass es nicht schlimm sei. Aber Jan wusste, früher oder später musste er darüber sprechen. Bisher hatte er die Therapeutin nur einmal getroffen, als sie sich ein erstes Bild machen wollte. Ab nächster Woche, so der Plan, wollte sie dazu kommen, wenn er bei Herrn Martin einen Termin hatte. Den sah er dreimal die Woche. Zuletzt heute morgen.
Jan ging das alles zu langsam, dabei war er es selbst, der nicht voran kam. Frustriert klappte er den Laptop wieder zu und betrat dann leise das Wohnzimmer. Wortlos schlüpfte er ins Bett , legte seinen Kopf in ihren Schoß und schloss die Augen. Sie war warm und roch leicht nach ihrem Vanille-Duschbad. Jan genoss ihre Ruhe und Nähe und zeitgleich überkam ihn eine Traurigkeit, die er so noch nicht kannte. Er sehnte sich danach, mit ihr intim zu sein, doch erste Versuche in der letzten Woche waren gescheitert. Vielleicht hatte er es zu sehr gewollt, dachte er.
Sie kraulte ihn sanft durch die Haare und konzentrierte sich weiter auf ihr Buch. Es tat gut, dass sie ihn nicht auch direkt vereinnahmte, sondern ihn ankommen ließ. Die beiden Vorstellungen heute hatte ihn geschafft, er hatte sich schon im ersten Akt am Abend danach gesehnt, sich in ihren Armen zu verstecken. Langsam döste er ein, während er ihre Hände spürte, die ihm abwechselnd den Kopf und den Rücken streichelte. Zwischendurch massierte sie seine Schläfen, was ihm ein wenig Druck vom Kopf nahm. Sie bewegte sich nach einer ganzen Weile. Jan protestierte leicht und sie drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Wange. Sie schob sich unter der Decke zurecht, löschte das Licht und Jan schmiegte sich an sie. Lächelnd küsste sie ihn erneut und ließ eine Hand auf seiner Schulter ruhen. Es war gut, dass sie hier war und dass sie war, wie sie war. Jan wusste, dass er unendlich viel Glück hatte mit dieser Frau und er liebte sie in diesem Moment so sehr.
Isabelles Atem ging ruhig und gleichmäßig und ihre Ruhe übertrug sich langsam auf ihn. Ihm war klar, dass sie sein größtes Geschenk war. Und für sie musste er das alles unbedingt auf die Reihe bekommen. So schnell und gut wie nur irgendwie möglich.
Während er langsam begriff wo er sich befand, schlug Jan die Augen auf. Sein Herz raste und wie durch einen Schatten hörte er Isabelle, die ihn immer wieder ansprach. Sein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen, das T-Shirt klebte ihm schweißnass am Körper und er musste mehrfach schlucken, ehe er einen Ton heraus bekam. Isabelle reicht ihm ein Glas Wasser und sah ihn besorgt an. Langsam setzte er sich auf und griff nach dem Glas, dabei dachte er, sein Kopf würde zerspringen.
»Atme langsamer«, hörte er sie sagen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Er verschluckte sich an dem Wasser und sie nahm ihm das Glas wieder aus der Hand.
Ein heftiger Hustenanfall schüttelte ihn durch. Isabelle griff nach seiner Hand und führte sie langsam an ihre Brust. Er konnte ihr Herz regelmäßig schlagen hören und sie sah ihm fest in die Augen. Er fixierte ihren Blick und konzentrierte sich auf ihren Rhythmus und langsam wurde er ruhiger. Endlich normalisierte sich sein Atem und auch sein Puls beruhigte sich. Isabelle gab ihm einen Kuss auf die Finger seiner Hand, dann reichte sie ihm wieder das Wasserglas. Sie verließ das Bett und kehrte nur wenige Minuten später mit einem Handtuch und einem frischen Shirt zurück. Jan hatte sich mittlerweile auf die Kante der Schlafcouch gesetzt und atmete gierig die Luft ein, die durch das geöffnete Fenster herein kam. Ohne Worte half sie ihm, damit er sich trocknen und umziehen konnte. Die Bettdecke hatte sie schon auf den Balkon gebracht.
»Hast du noch irgendwo Kuscheldecken, Plaids, irgendwas?«, fragte sie ihn. Jan fuhr in das frische Oberteil und deutete mit dem Kopf zum Regal an der Wand.
»In einer der Boxen sollte etwas sein.« Seine Stimme gehorchte ihm noch nicht wieder richtig, sie klang kratzig und zittrig zugleich. Zügig hatte sie gefunden, was sie suchte und reichte ihm eine große Decke.
»Möchtest du darüber sprechen?«, fragte sie dann und setzte sich zu ihm. Unsicher hob Jan seinen Kopf. Er hatte noch gar nicht alles sortiert bekommen und der Traum hatte sich so real angefühlt, wie lange nicht. Der Heilpraktiker hatte ihn vorgewarnt, dass dies passieren konnte, da er an den abgespeicherten Erinnerungen gearbeitet hatte. Es war Jan unangenehm, dass er sich jetzt nicht kontrollieren konnte, als Isabelle ihn ansprach.
Kaum, dass die Bilder wieder präsent waren, begann er zu zittern und auch eine Träne ließ sich nicht zurückhalten.
»Du musst nicht, Jan. Aber ich bin da, wenn du möchtest.«
Zärtlich strich sie über seine Hand.
»Komm, lass uns versuchen noch was zu schlafen.« Sie zog ihn sanft mit sich und löschte das Licht.
Isabelle auschte aufmerksam auf Jans Atem. Sie war erschrocken, als sie wach wurde und er wild um sich geschlagen und laut gerufen hatte. Dass David nicht wach geworden war, grenzte an ein Wunder. Diesmal hatte sie mehr verstanden, was er erzählt hatte und sie musste schlucken, als sie alles begriff. Dass er es auf diese Weise immer und immer durchleben musste, tat ihr in der Seele weh. Und wenn er sich nur ansatzweise so gewehrt hatte, wie er es in seinen Träumen tat, dann war Diana der Teufel in Person.
Müde beobachtete Jan seinen Sohn, der mit zwei anderen Jungen in seinem Alter im Sandkasten spielte. Isabelle hatte ein kleines Picknick organisiert und ihn überredet, mit an die frische Luft zu kommen. Der freie Montag tat gut. Wenn er ehrlich war, dann hatten ihm die beiden Doppelshows alles abverlangt. Dazu die unruhige Nacht und die immer wiederkehrenden Träume. Jan lag auf der Picknickdecke und rollte sich auf den Rücken. Der Himmel war wolkenlos und die Sonnenstrahlen wärmten sein Gesicht. Es war zwar noch zu kalt für kurze Sachen, aber bestes Wetter, um den Kleinen draußen zu beschäftigen. Isabelle packte gerade ein wenig Obst aus und griff nach der Thermoskanne mit Tee, die sie mitgebracht hatte. Nur noch wenige Tage würde sie bleiben und ihre bevorstehende Abreise bescherte ihm eine Unruhe.
Am liebsten wäre ihm, sie würde samt David bleiben. Nur sie gab ihm gerade diese Ruhe, die ihm half. Keine Frage, er war Ariane mehr als dankbar. Sie war da, ohne großes Aufhebens darum zu machen und gab fast unsichtbare Hilfestellungen. Aber nur bei Isabelle konnte er sich einfach anlehnen und fallen lassen. Der Heilpraktiker arbeitete mit ihm an Techniken, damit er auch alleine zur Ruhe kam, aber Jan brauchte sie. Ihre Wärme, ihre Liebe und ihren Geruch. Und er brauchte den Kleinen. Der ihn mit allerlei Blödsinn ablenkte und zum Lachen brachte. Der ihm die unschuldigste Liebe entgegenbrachte, die es auf der Welt nun mal gab. Nun spürte er ihre Hand an seiner Wange und schlug die Augen auf. Sie lächelte und strich sich ihre Haare zurück. Dann rief sie David etwas zu und ermahnte ihn, nicht zu übermütig zu sein.
Die Mutter der anderen beiden Jungs winkte ihr kurz zu und signalisierte, dass sie auch ein Auge auf David hatte, der gerade die Leiter zur Rutsche erklimmen wollte.
«Ich geh gleich rüber«, murmelte Jan und wollte sich aufsetzen. Doch Isabelle schüttelte den Kopf.
»Bleib ruhig liegen. Ich mach das schon. Das Raubtier hat so oder so bestimmt Hunger und Durst.« Sie zwinkerte in der Sonne und stand langsam auf. Gemütlich ging sie auf die andere Frau zu und Jan sah ihr zu, wie sie sich unterhielt und gleichzeitig auf David achtete. Der wiederum fiel ihr kurz darauf quietschend in die Arme und drückte sich an sie. Man konnte sehen, wie lieb er sie hatte und wie er an ihr hing. Wahrscheinlich käme niemand Ausstehendes auf den Gedanken, dass sie nicht seine Mutter war.
David gehorchte ihr zudem meist ohne zögern und hüpfte nun an ihrer Hand zurück in Richtung Picknickdecke. Jan setzte sich auf und nahm David auf seinen Schoß. Beherzt griff der Kleine nach den mitgebrachten Apfelstücken. Wenige Minuten später war er aber schon wieder auf und davon Richtung Sandkasten. Beide genossen die Ruhe, Isabelle behielt den Jungen im Blick, während Jan wieder etwas döste.
»Sehr müde?«, fragte sie ihn irgendwann. Müde war der falsche Ausdruck, dachte Jan. Er war einfach nur erschöpft.
»Vielleicht kann mir der Martin morgen noch was anderes zum Schlafen aufschreiben«, überlegte er. Isabelle nickte und streichelte ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Du musst mal richtig durchschlafen«, bestätigte sie. Ihre Zärtlichkeiten, die kleinen Gesten, entspannten ihn. Mit geschlossenen Augen hörte er auf die Geräusche der Natur, das Kinderlachen vom Spielplatz und das Rauschen der Bäume. Er merkte gar nicht, wie er dabei einschlief und reagierte verwundert, als sie ihn eine Stunde später sanft weckte, damit sie nach Hause gehen konnten, ehe es zu kalt draußen wurde