Heike hatte sich sofort bereit erklärt, David für knapp zwei Stunden zu nehmen. Ihre eigenen Kinder freuten sich über den Spielkameraden und gleichzeitig konnte sie unauffällig einen Blick auf ihn werfen. Mit klopfendem Herz saß Isabelle nun im Wartezimmer und blickte immer wieder zu Uhr. Sie war unendlich erleichtert gewesen, als sie am frühen Morgen mit der Therapeutin gesprochen hatte. Dr. Jäger hatte ihr einen späten Termin angeboten, als sie die Dringlichkeit heraushörte. Nun fühlte sich Isabelle ruhig und gespalten zugleich. Einerseits musste auch sie unbedingt mit jemandem reden und zum anderen ahnte sie, dass ihr Jan das erneut als Verrat auslegen würde. Als sich die Tür öffnete und sie freundlich in das Behandlungszimmer gebeten wurde, nahm sie mit nassen Händen Platz.
Nur wenige Augenblicke später betrat Frau Jäger den Raum und begrüßte sie. Nach ein paar auflockernden Sätzen rückte die Ärztin ihre Brille zu recht.
„Sie haben es am Telefon ja spannend gemacht, Frau Paul“, lenkte sie das Gespräch dann in die richtige Richtung. Isabelle holte tief Luft und begann zu erzählen.
Von der Zeit mit Jan bevor er nach München gegangen war, ihre seltsame Trennung, die Versöhnung, die ganzen Auffälligkeiten. Ernst hörte ihr die Therapeutin zu und machte sich eifrig Notizen. Stockend erzählte Isabelle weiter. Wie sie ihn am Freitag vorgefunden, wie es bei ihm ausgesehen und schließlich, was er ihr anvertraut hatte. Da sie ihre Tränen nicht zurückhalten konnte, reichte ihr Frau Jäger die Box mit den Taschentüchern. Endlich konnte Isabelle mal erzählen, wie ihr es dabei ging. Es tat ihr unendlich gut, und der Druck auf ihrer Brust wurde leichter. Sie schilderte, wie er trotzdem auf der Bühne stand und wie sie aber dann doch David herausgeholt hatte.
„Er braucht doch Hilfe und doch will er das nicht sehen, schlägt um sich, sobald man es vorschlägt. Er hat von mir verlangt, dass ich es niemandem erzähle.“ Noch immer unter Tränen schilderte sie Jans Wutausbrüche und sein Weglaufen. Nickend schenkte Frau Jäger das leere Wasserglas nach.
„Machen Sie sich keine Gedanken, dass sie zu mir gekommen sind. Erst mal fällt das alles unter die Schweigepflicht. Offiziell sind Sie ja als Patientin hier.“ Isabelle lächelte schief und griff dankbar nach dem Glas. Danach schüttete sie weiter ihr Herz aus. Erzählte von ihrer Angst um ihn, um David, um ihre Beziehung. Dass sie nicht mehr wusste, wie sie mit ihm umgehen sollte und sich Vorwürfe machte, dass sie nicht einfach in München geblieben war.
„Aber ich muss doch arbeiten, David braucht ein geregeltes Leben“, seufzte sie.
„Absolut und es ist gut so, dass sie sich dabei nicht vergessen. Zudem aus meiner Sicht eine richtige Entscheidung, das Kind heraus zu nehmen aus dieser Situation. Und ja, Sie haben recht. Ihr Freund muss sich Hilfe holen. Dringend.“ Sie stand auf und ging zu ihrem Schreibtisch. Eine Weile blätterte sie still eine Unterlage durch, während sich Isabelle wieder fing.
Mit einem Lächeln kehrte Frau Jäger zur Sitzgruppe zurück. Zunächst reichte sie Isabelle eine Broschüre, dann eine Visitenkarte.
„Mit einem hat Ihr Freund recht. Männer werden oft nicht als Opfer wahrgenommen und das Vorurteil, dass man einem Mann gegen seinen Willen nicht stimulieren kann, hält sich hartnäckig. Dass ihm dies widerfahren ist, zudem von einer ehemaligen Vertrauensperson, kann er vermutlich selbst nicht akzeptieren.“
Sie deutete auf die Broschüre.
„Da stehen viele hilfreiche Tipps drin, auch für Sie.“ Dann deutete sie auf die Visitenkarte. „Eine Studienkollegin von mir, sie praktiziert in München. Sie hat sich schon vor Jahren auf das Thema spezialisiert und hält viele Vorträge zu dem Thema. Auch wir Ärzte sehen vielleicht nicht immer aufmerksam genug hin, wenn es sich um einen Mann handelt. Wenn ich mir jetzt die Protokolle der letzten Sitzungen ansehe, fällt mir vielleicht auch auf, dass ich es hätte ansprechen können, wer weiß. Wobei die letzten Gespräche alle telefonisch waren.“
Interessiert studierte Isabelle die Karte.
„Wie schnell könnte er da einen Termin bekommen?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Wenn Sie mögen, kündige ich Sie morgen an, das könnte das Thema beschleunigen“, antwortete die Therapeutin. Isabelle hätte ihr vor Dankbarkeit um den Hals fallen können.
„Frau Paul, noch eins. Ihr Freund steckt aufgrund des Traumas vermutlich in einer neuen depressiven Phase. Verlassen Sie sich nicht darauf, dass er sich hierum kümmert. Gerade weil er so dagegen ist, wird er das nicht schaffen. Organisieren Sie den Termin. Falls Sie nicht selbst dabei sein und Sorge tragen können, dass er dort auch erscheint, dann ziehen Sie eine vertraute Person hinzu.“
Nachdenklich blätterte Isabelle durch die Broschüre. Dr. Jäger reichte ihr einen weiteren Flyer.
"Scheuen Sie sich auch nicht, Kontakt zu einer Akutberatung aufzunehmen. In München gibt es ein wunderbares psychologisches Krisenzentrum. Ich hatte gerade noch Kontakt deswegen zu meiner Studienkollegin." Wieder griff sie zu ihrem Block und notierte sich etwas. Geduldig beantwortete sie weitere Fragen und Isabelle verabschiedete sich eine halbe Stunde später mit einem positiven Gefühl. Endlich kam Bewegung ins Spiel. Sie wusste, wer Jan konkret helfen konnte. Nun musste er es nur noch wollen.
Schwungvoll wurde sie dann von David empfangen, der schon sehsüchtig auf sie gewartet hatte. Isabelle wusste, er sehnte sich nach einem Telefonat mit seinem Vater. Heike lächelte verständnisvoll und ließ sie mit dem Kleinen alleine, während sie Jan versuchte zu erreichen. Es war schon etwas knapp heute, die Vorstellung würde in fünfzehn Minuten beginnen. Und in der Tat nahm Jan nicht ab. David war enttäuscht und verzog weinerlich das Gesicht.
"Der Papa versucht es dann bestimmt in der Pause. Er weiß ja, dass dann gleich Schlafenszeit für dich ist." Sie nahm ihn auf den Schoß und gab ihm einen Kuss. Sofort schmiegte er sich an sie. Auch Isabelle genoss diese Kuscheleinheit, stand dann aber auf und ging mit ihm auf dem Arm rüber zu Heike, die gerade den Abendbrottisch richtete. Auch Alex würde jeden Moment nach Hause kommen.
"Wollt ihr mit uns essen oder wird das zu spät?", fragte Heike.
"Das ist lieb, da essen wir gerne mit", meinte Isabelle und setzte David ab, der sich sofort mit der etwas älteren Chiara um einen Platz zankte. Gelassen ging Heike dazwischen und löste den Streit auf. Isabelle ging der Anderen zu Hand und kaum, dass der Tisch gedeckt war, stand Alex in der Küche und begrüßte sie herzlich. Beim Essen sprachen sie nur über Belanglosigkeiten. Noch kurz durften die Kinder anschließend zusammen spielen, ehe Isabelle los wollte. Zur Pause in München wollte sie daheim sein. David sollte die Chance haben, mit Jan zu sprechen. Sie half Heike beim Abräumen. Die wiederum begann ohne weitere Nachfrage mit ihrer Einschätzung.
"Soweit ich das beurteilen kann, und ich habe ihn jetzt nur oberflächlich abgefragt, hat David mitbekommen, dass irgendetwas zwischen seinen Eltern passiert ist. Was er spürt ist, dass Jan zutiefst verletzt wurde. Und er versteht, dass es seine Mutter war, die ihm weh getan hat. Dazu kommt, dass David selbst sehr empfindlich auf Emotionen reagiert. Sprich, er spürt sehr schnell, wie es in Jan aussieht und passt sich dem an. Über seine Mutter möchte er nicht sprechen. Da kommt vieles zusammen Sie hat ihn so oft verlassen und enttäuscht, dass er jegliches Vertrauen in sie verloren hat. Das Einsperren kommt dann noch dazu und nun mal das Wissen, dass sie schuld ist, an Jans Zustand."
Seufzend lehnte sich Isabelle an die Anrichte, während Alex umgezogen dazu kam. Heike lächelte ihn an, ehe sie fortfuhr.
"Im Großen und Ganzen geht es David gut. Natürlich glaubt er, dass er auf seinen Papa acht geben muss und daher finde ich es gut, dass er erst einmal aus der Situation heraus ist." Es fiel Isabelle fast ein Stein vom Herzen. Heike gab ihr noch ein paar Tipps und anschließend fuhr sie mit David in die Wohnung. Der Kleine war hundemüde, wollte aber unbedingt auf den Rückruf von Jan warten. Also kuschelte sich Isabelle schon mal mit ihm in sein Bett. Endlich rief Jan an und David griff begeistert nach dem Handy.
Als der Kleine schlief, setzte sich Isabelle mit den Broschüren in den Lesesessel. Leo leistete ihr Gesellschaft, während die verschmuste Katzendame vermutlich bei David schlief. Seit Montag abend hatte sie kaum mit Jan gesprochen. Er meldete sich immer nur kurz, sprach hauptsächlich mit seinem Sohn und ihr schlechtes Gewissen meldete sich abermals. Auch heute hatte sie ihn gebeten, sich nach der Vorstellung nochmal zu melden. Sie wollte wissen, ob er sich um die Selbsthilfegruppe gekümmert hatte. Wie gestern schon, hatte er darauf ausweichend geantwortet und vermutlich würde sie, wie gestern, heute nichts mehr von ihm hören.
Sie klappte das IPad auf und googelte die Kollegin von Dr. Jäger. Die Therapeutin hatte ihr versprochen, sich um die Mittagszeit zu melden. Hoffentlich konnte sie einen Termin in München beschleunigen. Den ganzen Abend überlegte sie schon, wen sie notfalls bitten könnte, Jan zu begleiten. Sie scrollte auf der Homepage nach unten und las einige der verlinkten Artikel. Noch lange beschäftigte sie sich mit dem Thema und erst gegen Mitternacht zog sie ins Bett um. Jan müsste längst zu Hause sein, doch gerührt hatte er sich nicht mehr. Sie musste ihm unbedingt sagen, dass er das so nicht machen konnte.
Es gipfelte in diesem Morgen, als weder sie noch Alex Jan erreichen konnten. Isabelle war gefühlsseitig Achterbahn gefahren. Erst war sie sauer gewesen, da der morgendliche Anruf aus blieb. Nicht ihretwegen, sondern weil David sehnsüchtig darauf gewartet hatte.
Tieftraurig hatte der Kleine im Spielzimmer gesessen und konnte nur mit Mühe von Kristina abgelenkt werden. Das ging nicht. Jan hatte es dem Jungen versprochen. Isabelle ahnte, wie sich David fühlen musste und sie war wirklich unsagbar sauer geworden.
Erst, als sie ihn auch im weiteren Verlauf des Vormittags nicht erreichen konnte, hatte sich Sorge in ihr breit gemacht. Hätte sie besser in München bleiben sollen? Warum nur, zog sich Jan wieder so zurück? Der Abschied war innig und liebevoll gewesen, aber seitdem hatten sie kaum wirklich gesprochen. Sie hatte gehofft, dass er ohne Verpflichtung etwas besser zur Ruhe kommen könnte. Schließlich hatte sie es mit der Angst bekommen und Ariane angerufen. Die Ältere hatte eine gute Stunde später kurz geschrieben, dass es Jan gut ging und er sich zeitnah bei ihr melden würde. Auf diesen Anruf hatte sie nun wieder eine weitere Stunde gewartet. Immer wieder hatte sie kurzen Kontakt zu Alex, der auf dem Weg nach München im Stau stand. Der versprach, mit Jan darüber zu sprechen. Auch das Thema Therapie hatte Isabelle ihm mitgegeben. Dr. Jäger hatte gute Neuigkeiten gehabt, ihre Kollegin hatte einen Notfallplatz frei, Jan konnte nächsten Dienstag beginnen, sofern er das wollte. Als nun endlich ihr Handy klingelte, ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf.