Der Stachel saß tief. Er fühlte sich mutterseelenallein und tief verletzt. Nichts hatte er mehr gefürchtet und nun war es passiert. Irgendwie wusste er aber gar nicht mehr, was schlimmer war. Die Tatsache, dass Alex nun erfahren hatte was geschehen war oder der Verrat, den Isabelle in seinen Augen begangen hatte. Hatte er sich in ihr getäuscht? Er hatte ihr vertraut. Ihr das anvertraut, was er sich wochenlang selbst nicht eingestanden hatte. Auf ihre Hilfe und Unterstützung gehofft und mit ihrem Verständnis gerechnet. Nur ihr gegenüber hatte er es bisher ausgesprochen. Selbst alleine hatte er es nie getan, nie geschafft. Sie hatte gesagt, dass sie ihn lieben würde. Dass sie für ihn da sei und ihm nichts tun würde. Noch gestern.
Bei aller Enttäuschung war er zeitgleich wahnsinnig wütend. Am Liebsten hätte er jetzt etwas zertrümmert, Geschirr oder irgendetwas anderes. Hauptsache es würde zerspringen, auseinanderbrechen oder mit einem lauten Knall irgendwo dagegen schlagen. Erst als er mit seiner Faust gegen eine Mauer schlug und der Schmerz in seinem Gehirn ankam, blieb Jan stehen. Er wusste nicht, wie lange er schon herumgelaufen war. Irritiert sah er sich um und kam langsam wieder zu sich. Seine Rechte schmerzte und er stellte verwundert fest, dass er Schürfwunden davon getragen hatte. Auf der anderen Straßenseite standen zwei ältere Herren, die ihn kopfschüttelnd beobachteten.
Herrje, wie lange hatte er hier schon gegen die Wand geschlagen? Außerdem war ihm kalt, ohne Jacke, ohne Handy oder Schlüssel geschweige denn Geld war er von zu Hause losgelaufen. Die Gegend kam ihm vertraut vor, obwohl er ohne Ziel durch die Straßen gegangen war. Richtig. Das Hotel seiner Eltern war um die Ecke. Mit einem Mal spürte er eine tiefe Sehnsucht nach den Beiden. Und nach David. Abgehetzt betrat er das Foyer und eilte an die Rezeption. Er ließ sich mit dem Zimmer verbinden und seufzte erleichtert auf, als Anke sich meldete.
Der besorgte Blick seiner Mutter blieb ihm nicht verbogen, als sie ihm die Tür öffnete. Paul war mit David im Park, während sie für die Abreise gepackt hatte. Sie musterte ihn, fragte aber zu seiner großen Erleichterung nicht nach, bat ihn aber sofort ins Zimmer.
"Du blutest", stellte sie fest und deutete auf seine rechte Hand. Wortlos folgte Jan ihrem Blick, rührte sich aber nicht.
"Setz dich, ich schau mir das an." Anke ging an ihren Koffer und griff nach der kleinen Reiseapotheke. Während sie behutsam die meist oberflächlichen Schürfwunden abtupfte und bei der etwas tieferen die leichte Blutung stoppte, sah sie Jan immer wieder an. Irgendwann schloss er die Augen und hielt sie damit auf Abstand.
Beide fuhren sie dann zusammen, als das Telefon klingelte. Jan rührte sich nicht, während Anke sprach. Er konnte sich zusammenreimen, dass Alex oder Isabelle auf der Suche nach ihm waren. Und tatsächlich stand Alex keine zehn Minuten später im Raum. Er begrüßte Anke mit einem Kuss auf die Wange und musterte Jan einen Moment, dann blieb sein Blick an der Hand hängen.
"Was ist denn überhaupt los?", fragte Anke. Seufzend warf Alex einen Blick auf Jan. Der atmete zischend ein. Alex würde doch nicht....?
"Dazu kann ich nichts sagen. Vielleicht erklärt es dir dein Sohn bei Gelegenheit selbst. Nur jetzt würde ich ihn gerne mitnehmen." Suchend sah Alex sich um. "Wo sind David und Paul?" Nickend nahm er die Information auf, dass die beiden noch unterwegs waren. Dann deutete er auf Jans Hand.
"Was ist damit passiert?", fragte er weiter. Doch Anke zuckte mit den Schultern. "Jan?", sprach er seinen Schützling direkt an. "Okay, dann klären wir das später. Wie lange könnt ihr noch David nehmen? Ich denke, wir brauchen noch ein bissen Zeit", wandte er sich wieder an Anke.
Irritiert sah sie auf die Uhr am linken Handgelenk.
"Wir müssen bis 14 Uhr auschecken. Und wir haben es ja ein gutes Stück nach Hause. Viel später möchte Paul nicht los. Was ist los?"
Sie sah Jan an, der sich vom Sessel erhoben hatte. Alex reichte ihm einen Pulli, den er wohlweislich mitgebracht hatte.
"Mama, nicht jetzt", bat er leise und zog dankbar das warme Kleidungsstück über. Schweigend folgte er dann Alex.
In der Wohnung hatte Isabelle den Frühstückstisch abgeräumt und frischen Kaffee gekocht. Dankbar nahm sich Jan eine Tasse und setzte sich an den Tisch. Seine Wut war etwas verraucht, doch er schaffte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Geschäftsmäßig blieb Alex an der Spüle stehen und nahm die Tasse entgegen, die Isabelle ihm reichte.
"Lass uns über Diana sprechen. Nur wir drei, hier und jetzt", bat er. Doch Jan reagierte wieder nicht, kratzte sich nur immer wieder an den Unterarmen und spielte am Pflaster seiner Hand herum. Seufzend zog sich Alex einen Stuhl heran.
"Möchtest du etwas unternehmen? Sie anzeigen? Soll ich klären, was dafür nötig wäre?"
Stumm schüttelte Jan den Kopf.
"Okay. Akzeptiert. Was ich nicht akzeptiere ist, dass du dir weder für dich noch deinen Sohn Hilfe suchst."
"David geht’s gut und bei mir wird das schon. Ich brauche nur Zeit", antwortete Jan heiser. Kopfschüttelnd schluckte Isabelle einen Kloß im Hals herunter.
"David ist völlig durcheinander, du bist nur ein Schatten deiner selbst, ihr braucht Hilfe. Bitte, Jan. Tu es für den Kleinen. Er hat doch nur noch dich." Ihr Flehen schien an ihm abzuprallen. Sah er denn nicht, was wirklich los war?
"Das ist ganz einfach, Jan", mischte Alex sich ein. "Wenn du es schon nicht für David tust, dann für deinen Job. Ich mache dir einen Vorschlag. Du suchst dir hier in München in einer angemessenen Zeit einen Therapeuten oder eine Selbsthilfegruppe. Frau Dr. Jäger wird dich dabei mit Sicherheit unterstützen. Andernfalls werde ich dich aus dem Verkehr ziehen und dann kannst du davon ausgehen, dass der Schaden kaum noch zu kitten ist."
Sein Tonfall war eindeutig. Alex meine es absolut ernst.
"Willst du mich erpressen?", fragte Jan.
"Darum geht es mir nicht, und das weißt du", gab Alex direkt zurück. Vorsichtig räusperte sich Isabelle und warf Alex einen Blick zu. Der nickte, verließ leise die Küche und vorsichtig erklärte sie dann, dass sie David nicht hier lassen würde. Jan sprang so schnell auf, dass der Stuhl umfiel und krachend auf den Boden knallte.
"Wieso nehmt ihr mit mein Kind weg?", schrie Jan.
„Jan, niemand nimmt dir dein Kind weg. Du brauchst Zeit für dich und David braucht Stabilität. Geborgenheit. Verstehe doch bitte, dass du ihm das gar nicht geben kannst zur Zeit. Denk doch nur daran, wie die Wohnung ausgesehen hat Freitag.“ Außer Atem sah Isabelle ihn an.
„David bleibt bei mir“, beharrte dieser und funkelte sie an. Erschöpft setzte sich Isabelle wieder.
„Ich meine es gut mit dir, verdammt nochmal“, schimpfte sie.
„Ach ja? Gut? Hast du es deswegen Alex erzählt?“
Jans Blick war kalt und er tigerte durch die Küche.
„Ich hatte dich um etwas gebeten, schon vergessen?“ Wieder kratzte er sich an den Unterarmen und blieb am Fenster stehen.
Seufzend sah Isabelle ihn an. „Genau deswegen, Jan, ja. Du brauchst Hilfe, siehst du das nicht? Dein Sohn leidet furchtbar, weil es dir schlecht geht. Er glaubt, er sei daran schuld. Und niemand, am allerwenigsten ich, macht dir einen Vorwurf. Nimm es als Übergangsregelung. Ostern haben wir die Kita zu, dann komme ich mit David für zwei Wochen nach München. Dann sehen wir weiter. Wir schaffen das. Aber nur zusammen. Wir alle drei.“
Ihr Blick war bittend, als er sich abwandte.
„Keiner sagt, dass du ein schlechter Vater bist. Du bist der beste Papa, den sich ein Kind wünschen kann. Nur im Moment, da solltest du erst einmal schauen, dass es dir so schnell wie möglich besser geht. Ich finde den Vorschlag von Alex fair.“ Es gab einen Knall, als Jan seine Faust auf der Fensterbank landen ließ. Erschrocken fuhr Isabelle zusammen.
„Okay, reagier dich meinetwegen ab. Ich werde für David ein paar Sachen zusammen packen.“ Hilflos sah Jan ihr nach, als sie die Küche verließ.
Sein Kopf war zu voll.
Nichts kam mehr an.
Gleichzeitig hatte er Bilder vor Augen, die zu schnell vorbeiflogen.
Seine Seele schrie dabei.
Und sein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen.
Der Schutzwall, der ihn so wunderbar umgeben hatte, war einfach eingestürzt.
Ohne jegliche Vorwarnung.
Ungefiltert übermannten ihn seine Emotionen.
Hilflosigkeit
Wut
Liebe
Enttäuschung
Frust
Hass
Angst
Trauer
Er musste etwas davon los werden.
Die Last wurde zu schwer.
Das Gewicht drückte ihn nach unten.
Er musste sich befreien.
Sein Herz raste.
Die Hände wurden kalt.
Sein Atem ging unkontrollierbar schnell.
Panisch sah er sich um.
Seine Wut übernahm die Führung.
Als das erste Glas mit einem lauten Knall an der Wand zersprang, schrie er dagegen an.
Das Splittern der Scherben konnte er überdeutlich hören.
Es war das gleiche Geräusch, wie damals, als in ihm etwas zerbrochen war.
Ganz genau hatte er es gespürt.
Gewusst, dass es nicht einfach wieder geklebt werden konnte.
Es war doch seine Seele gewesen.
Das zweite Glas landete beinahe auf dem gleichen Punkt an der Wand und wieder wurde es begleitet von seinen Schreien.
Egal, was er zu greifen bekam, es landete immer an der gleichen Stelle.
In seiner Fantasie konnte er dort ihr Gesicht sehen.
Der Scherbenhaufen wuchs.
Doch irritiert nahm er wahr, dass ihn das Ergebnis nicht befriedigte.
Der Druck wurde nicht weniger.
Immer noch tat es so weh, dass es ihm die Luft nahm.
Was sollte er nur tun?
Gab es denn keinen Weg heraus aus diesem Labyrinth?
Immer noch dröhnte sein Kopf von all den Informationen des Tages.
So viel, was zu tun war.
So viel, was er entscheiden musste.
So wenig Kraft.
Ihm war schwindlig.
Fast, als würde sein Kopf platzen.
Das leichte Klopfen an der Tür ignorierte er.
Stattdessen ging er in die Knie und atmete durch.
Überall juckte es wieder, das machte ihn schon seit Stunden wahnsinnig.
Schließlich lehnte er sich an den Küchenschrank und blieb am Boden sitzen.
Vor der Tür wurde gesprochen, er konnte aber kein Wort verstehen.
Er betrachtete die Scherben, die sich fast auf dem ganzen Boden verteilt hatten.
Genau so fühlte er sich.
Zersprungen.
Irreparabel.
Zerbrochen.
Hunderttausend Einzelteile.
Eine weiße Scherbe zog ihn magisch an.
In seinen Händen fühlte sie sich federleicht an.
Ihre Kante war spitz und scharf.
Vermutlich müsste er gar nicht viel Druck aufwenden.
Ein weiteres Klopfen folgte.
Erschrocken ließ er die Scherbe fallen.
Er schlug die Hände vors Gesicht und presste die Augen fest zusammen.
Sein erster Reflex war, dass er sie wegschicken wollte.
Allein sein.
Nichts erklären müssen.
Doch eine zweite Stimme in ihm rief nach Hilfe.
Welcher sollte er denn nur trauen?
Der Druck auf seinem Brustkorb nahm weiter zu.
Fast erschien ihm sein Körper zu klein, zu eng.
Er war gefangen, kam nicht heraus.
Er nahm die Hände herunter und betrachtete erstaunt das Blut, das sich auf seinen Finger gesammelt hatte.
Wo kam das denn nun her?
Als er sein Zittern nicht mehr kontrollieren konnte, ging die Tür auf.
Er sah sie stumm an und ließ sich fallen.
Gleichzeitig fällte er eine Entscheidung.