Eine Platzwunde an der Stirn.
Ein verstauchtes Handgelenk.
Rippenprellungen.
Blutergüsse.
Vermutlich eine Gehirnerschütterung.
Isabelle saß seit einer halben Stunde an Jans Bett und beobachtete ihn sorgenvoll. Die Platzwunde war genäht worden. Die linke Hand war bandagiert. Alles in allem war Jan glimpflich davon gekommen. Er stand allerdings unter einem schweren Schock. Das erfahrene Traumateam hatte ihn aber bereits nach 12 Minuten stabilisiert bekommen. Sie selbst war mit Alex aus Stuttgart durch die Nacht gefahren, die Polizei hatte Jans Notfallkontakt gegen halb eins verständig gehabt. Noch immer verstand Isabelle nicht, warum er überhaupt in seinem Wagen unterwegs gewesen war. An und für sich hätte Jan auf der Bühne stehen sollen, als er den Unfall gehabt hatte.
Viel mehr hatten sie bisher auch nicht erfahren. Der Wagen war von der Straße abgekommen, in die Böschung gerutscht und hatte sich überschlagen. Keine Bremsspuren. Die Polizei vermutete einen Sekundenschlaf, hatte Jan aber noch nicht befragen können. Die Ärzte hatten ihn nach der Erstversorgung und einem MRT ruhig gestellt und als nicht vernehmungsfähig erklärt. Viel zu lang hatten sie im Wartebereich ausharren müssen, bis sie zu ihm gelassen worden waren. Nun saß sie hier, während Alex den Papierkram erledigte. Sie griff nach Jans unverletzter Hand und streichelte sanft über seinen Handrücken. Der Monitor piepste weiterhin gleichmäßig vor sich hin. Sie hatte bisher nicht mit ihm sprechen können. Er war zwar laut dem behandelten Arzt bei der Einlieferung ansprechbar gewesen, aber seit dem er versorgt worden war schlief er. Die Ärzte hatten strenge Ruhe angeordnet, gerade mit der Gehirnerschütterung war nicht zu spaßen. Innere Verletzungen, so hatte ihr der Oberarzt versichert, konnten sie ausschließen.
Die Tür ging und Alex kam leise herein. Er reichte ihr einen Pappbecher mit Kaffee. Es war jetzt kurz vor sechs und sie beide hatten wenig geschlafen.
"Wegen des Schocks und der Gehirnerschütterung werden sie Jan die nächsten 24 Stunden überwachen. Alles andere sind leichte bis mittlere Verletzungen, die gut ausheilen werden. Mit den Rippen wird er Geduld brauchen", meinte Alex. Beruhigend berührte er sie an der Schulter. "Es hat zu keiner Zeit Lebensgefahr bestanden, sein Schutzengel hat ganze Arbeit geleistet", schob er flüsternd nach.
"Hast du Anke und Paul angerufen?", wollte Isabelle wissen. Alex schüttelte den Kopf. Er erklärte, dass er Jans Eltern nicht unnötig hatte in Unruhe versetzen wollen. Isabelle gab Jan einen sanften Kuss auf die Wange, dann stand sie auf und drückte Alex den leeren Becher in die Hand.
"Lass uns in die Wohnung fahren. Jan wird ein paar Dinge brauchen. Wir sollten uns auch ein bisschen ausruhen." Den Schlüssel hatte sie mit Jans Sachen von der Schwester erhalten. Im Grunde nur sein Rucksack und die Jacke. Alles was er am Körper getragen hatte, war in der Notaufnahme zerschnitten worden.
Alex nickte. Er musste Robert erreichen. Herausfinden, was mit Jans Auto passiert war. Außerdem wartete Heike auf seinen Anruf. David hatten sie bei Alex´ Familie gelassen. Nochmal musterte Isabelle ihren Freund. Der würde die nächsten Stunden noch schlafen, das hatte ihr das Pflegepersonal versichert. Außerdem hatte ihr eine der Schwestern versprochen, dass sie sofort anrufen würde, sollte sich an Jans Zustand etwas ändern. Sie streichelte nochmal über Jans Gesicht, dann folgte sie Alex.
Erst im Apartment brach sie in Tränen aus. Stumm war sie durch die Räume gegangen und hatte nur noch den Kopf geschüttelt. Alex war ihr wortlos gefolgt.
"Was ist denn hier passiert?", fragte er.
Isabelle riss das Fenster in der Küche auf. Den Balkontisch zierte ein übervoller Aschenbecher. Zahlreiche leere Weinflaschen standen am Boden vor der Tür. Das Bettzeug lag durchwühlt auf der Couch. Überall Kleidung, Tablettenschachteln, Essensreste.
Knapp eine Woche hatte sie ihn allein gelassen. Mehr nicht. Alex strich ihr über den Rücken, dann nahm er sie in den Arm. Sie weinte sich an seiner Schulter aus. Erst jetzt fing sie an zu begreifen, dass der Unfall auch ganz anders hätte enden können. Alex kommentierte ihren Ausbruch nicht. Zusammen räumten sie auf. Während Isabelle Kaffee aufsetzte, besorgte Alex ein kleines Frühstück. In Jans Kühlschrank hatte nur noch Schimmel gelebt. Isabelle hatte sich gefragt, ob er überhaupt noch etwas zu sich nahm.
"Wir müssen etwas unternehmen. Jan verliert offenbar den Boden unter den Füßen", stellte Alex fest. Traurig hob Isabelle den Kopf. Sie sah Jans ältesten Freund an. Dann atmete sie tief durch.
"Warum war er nicht am Theater, Alex?"
Der zuckte mit den Schultern. Er wartete auf den Rückruf Roberts, dem er auf Band gesprochen hatte.
"Ich habe kurz mit dem Ermittler gesprochen. Es gab keinen anderen Unfallbeteiligten und sie werden Jan morgen befragen, sofern die Ärzte das erlauben. Den Besuch auf dem Revier können wir uns sparen", antwortete er.
"Und das Auto?", fragte sie vorsichtig
Alex atmete schwer durch.
"Schrott. Schau es dir bitte nicht an", bat er. "Warten wir ab, ob er später fit genug für ein Gespräch ist. Er hatte mir versprochen, dass er sich um die Therapie kümmert und morgen zu diesem Termin geht. Das wird ja nun vermutlich nicht möglich sein. Ich stimme dir aber zu, dass wir eng an ihm dran bleiben sollten."
Isabelle nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und dachte angestrengt nach.
Nur mit Mühe konnte sie Anke davon überzeugen nicht in den nächsten Flieger zu steigen. Nachdem sie Jans Eltern versichert hatte, dass Jan erstmal Ruhe brauchte, telefonierte sie lange mit dem Träger der Kita und ihrer Kollegin. Dann packte sie eine Tasche für Jan und wartete auf Alex, der sich mit Robert am Theater getroffen hatte. Auch mit der Spezialistin hatte er telefoniert.
"Ich habe den Termin morgen schon abgesagt", meinte er und nahm ihr die Tasche ab. "Sie hält ihm den Platz aber frei, wir sollen uns melden, wenn er aus dem Krankenhaus kommt. Robert ist völlig entsetzt. Offenbar gab es gestern Abend Probleme, er hat Jan in der Pause am Abend nach Hause geschickt." Nachdenklich folgte Isabelle ihm zum Auto. "Er hatte für Dienstag einen freien Tag beantragt. Vielleicht wollte er nach Hause kommen", überlegte er laut.
Überrascht sah Isabelle ihn an.
"Aber das hätte er mir doch gesagt. Wir haben am Nachmittag telefoniert, er war relativ gut gelaunt, aber von einem freien Tag war nie die Rede." Sie lehnte den Kopf an die Fensterscheibe. Oder hatte Jan sie überraschen wollen?
"Ich habe mit meinem Chef und meiner Kollegin gesprochen. Bis Ende der Woche habe ich mich beurlauben lassen. Danach sind sowieso Osterferien, die ich mit David hier in München verbringen wollte. Wenn es in Ordnung ist, fahre ich mit dir zurück nach Stuttgart und hole den Jungen. Jan wird bestimmt noch im Krankenhaus bleiben müssen und dann krank geschrieben sein. So sind wir vor Ort und bekommen vielleicht etwas Struktur rein. Vor allem möchte ich, dass er schnellstmöglich den Termin bei Dr. Funk nachholt."
Alex lenkte den Wagen wieder in das Parkhaus, das sie erst vor ein paar Stunden verlassen hatten. Schnell fand er einen Platz und parkte ein.
"Isa, wir werden vermutlich auch mit Robert reden müssen. Zumindest darüber, dass Jan eine schwierige Zeit durchmacht. Er ist sowieso etwas misstrauisch und weiß ja um Jans Schwierigkeiten im Herbst. Wir dürfen hier Jan aber wiederum nicht vorgreifen. Es wäre schön, wenn du mich hinsichtlich dieses Vorgehens unterstützen würdest. Dass er vielleicht von selbst darauf kommt, dass er Robert reinen Wein einschenken muss. Früher oder später", bat Alex auf dem Weg zum Fahrstuhl. Isabelle konnte Alex verstehen und sie beneidete jenen um seinen Job derzeit nicht. Für sie alle war es eine Gratwanderung.
Auf der Station trafen sie direkt auf den Arzt, der Jan in der Nacht aufgenommen hatte. Dr. Kerner informierte sie ruhig und sachlich. Jans Werte hatten sich stabilisiert und sie hatten die Medikamente reduziert. Im Moment wartete man darauf, dass er aufwachte.
"Frau Paul, auf dem Anamnesefragebogen fehlen die Medikamente, die Herr Lehmann in den letzten Wochen genommen hat. Könnten Sie uns dazu etwas sagen?", fragte er, während er etwas in der Krankenakte studierte. Bedauernd schüttelte sie den Kopf.
"Wir haben uns nur an den Wochenenden gesehen in den letzten Wochen, davor waren wir kurzzeitig getrennt."
Der Arzt hob den Kopf. "Nichts regelmäßiges also?", erkundigte er sich. Hilflos dachte sie nach.
"Im Winter hatte er ein pflanzliches Antidepressivum bekommen, meines Wissens nimmt er das aber schon länger nicht mehr. Warum fragen Sie?" Der Arzt klappte die Mappe zu.
"Wir mussten ja einen Bluttest für die Polizei durchführen. Insgesamt war das Blutbild etwas diffus", erläuterte er dann ausweichend. Isabelle fühlte sich unbehaglich an den Krankenhausaufenthalt in Wien erinnert. "Nichts dramatisches, aber ich hätte es gerne abgeklärt", meinte Dr. Kerner. Isabelle versprach, sich in der Wohnung nochmal umzusehen. Alex runzelte nachdenklich die Stirn, während sich Dr. Kerner ein paar Notizen machte. Endlich durften sie zu Jan.
"Perfektes Timing", begrüßte sie eine der Schwestern. "Er kommt gerade zu sich." Tatsächlich lag Jan mit geschlossenen Augen im Bett und reagierte nur leicht, als Isabelle ihn leise ansprach. Sie hatte sich wieder den Hocker herangezogen und nahm seine Hand in ihre. Alex hielt sich diskret im Hintergrund, während die Schwester an den Zugängen hantierte.
"Geben sie ihm ein bisschen Zeit, damit er sich orientieren kann", riet sie. "Ich schaue in einer Viertelstunde wieder vorbei." Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer.
Jan öffnete seine Augen und sah sie an. Isabelle konnte sehen, dass er einen Moment brauchte um zu verstehen, wo er sich befand und warum. Eine Träne kullerte ihm über die Wange, der Monitor piepste gleichzeitig. Jans Puls hatte sich beschleunigt. Sanft wischte Isabelle ihm über das Gesicht.
"Alles halb so schlimm", versuchte sie ihn zu beruhigen.
Heiser bekundete er, dass er müde war und Schmerzen hatte. Mit ruhiger Stimme erklärte Isabelle, welche Verletzungen er sich zugezogen hatte.
"Auf der Stirn wird nur eine kleine Narbe bleiben. Die Hand und die Rippen werden ein bisschen brauchen. Und wegen der Gehirnerschütterung wirst du hier noch unter Beobachtung bleiben."
"Aber ich muss Mittwoch wieder arbeiten", warf er ein. Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Erst jetzt gab sich Alex zu erkennen, der bislang am Fenster gestanden hatte. Er trat an das Fußende, so dass Jan ihn sehen konnte,
"Erstmal keine Bühne für dich. Absolute Schonung in den nächsten Tagen, dann sehen wir weiter." Jan kniff die Augen zusammen und wieder schluckte er schwer. Matt drehte er den Kopf in Isabelles Richtung.
"Es tut mir leid, dass ihr extra wegen mir her kommen musstest." Unwirsch schüttelte sie den Kopf.
"Mach dir jetzt darüber keine Gedanken." Sanft streichelte sie seine Hand. Unauffällig nickte Alex ihr zu und ließ die beiden dann alleine. Abgelöst wurde er von der Schwester, die bei Jan nach dem Rechten sah. Nach Rücksprache mit dem Arzt veränderte sie die Dosierung der Medikamente, die er über den Tropf erhielt. Sie mahnte Isabelle, dass für Jan Schlaf die beste Medizin war. Und dass er sich bei aufkommendem Schwindel sofort melden sollte. Dann verschwand aber auch sie wieder und Isabelle setzte sich auf die Bettkante.
Jan hielt ihre Hand in seiner und sah sie mit traurigen und müden Augen an. Auf sie wirkte er furchtbar mitgenommen. Auf ihr Nachfragen konnte er zu dem Unfall selbst nicht viel sagen.
"Wo ist David?", fragte er dann.
"Keine Sorge, der ist bei Heike und es geht ihm gut. Er war auch ganz normal in der Kita und hat bisher nichts mitbekommen", beruhigte sie ihn. Jan kaute auf seiner Unterlippe und sah sie dann flehentlich an.
"Kannst du bleiben?", wollte er dann wissen. Lächelnd strich sie ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
"Die sind ziemlich streng. Aber ich bleibe jetzt hier, bis du eingeschlafen bist, wäre das für den Anfang okay? Und ich komme später nochmal vorbei." Jan nickte und schloss die Augen.
"Lass mich einfach nur nicht alleine." Nachdenklich beobachtete sie ihn, wie er sich erst wehrte und dann doch schnell einschlief. Als er ruhig atmete gab sie ihm einen Kuss und schlich sich leise aus dem Zimmer. Wieder konnte sie mit den Schwestern vereinbaren, dass man sie anrief, sollte sich irgendetwas ändern.
"Frau Paul, wenn sie hier einfach sitzen wollen und da sind, dann geht das für mich in Ordnung", meinte jemand hinter ihr. Schnell drehte sie sich herum. Eine etwas ältere Schwester nickte ihr freundlich zu. "Ich bin Schwester Angela, wenn irgendwas sein sollte, dann kommen Sie einfach zu mir. Bitte gönnen Sie ihrem Freund aber Ruhe, dann sieht morgen die Welt schon ganz anders aus." Dankbar lächelte Isabelle zurück, ehe sie sich verabschiedete.
Alex wartete in der Cafeteria auf sie und winkte ihr, als sie sich suchend um sah.
"Alles okay?", fragte er und schob ihr ein Stückchen Kuchen zu. Er hatte unbedingt etwas Süßes gebraucht und dann nochmal mit seiner Frau telefoniert. David hatte natürlich nach Isabelle und seinem Vater gefragt.
Isabelle lehnte dann seine Einladung auf ein gemeinsames Essen mit ihm und Robert ab. Sie wollte bei Jan bleiben.
Es fiel ihr am Abend dann nicht leicht, Jan zurück zu lassen. Aber sie musste erstmal nach Stuttgart zurück. David holen und ein paar Dinge erledigen. Sie versprach ihm, spätestens in zwei Tagen wieder da zu sein. Mindestens so lange sollte auch Jan noch im Krankenhaus bleiben.
Im Auto schwiegen Alex und sie. Beide hingen ihren Gedanken nach.
Jan hatte sie mehrfach gebeten, schnell wiederzukommen. Er war völlig durch den Wind. Laut dem Klinikpersonal würde sich das bessern, er stand nach wie vor unter Schock. Dr. Kerner hatte angeregt, dass sich Jan mit einer Notfallpsychologie unterhalten sollte um den Unfall aufzuarbeiten. Immerhin war es keine Lappalie. Die Ärzte waren vielmehr überrascht, dass Jan ohne wirklich große Blessuren davon gekommen war. Vermutlich würde ihm das helfen, aber Isabelle ahnte, dass Jan sich weigern könnte. Aus lauter Angst, man würde dann auf sein Geheimnis stoßen. Isabelle seufzte und veränderte ihre Sitzhaltung. Sie musterte der Alex, der schweigsam und konzentriert auf die Straße sah. Er hatte eine tiefe Furche auf der Stirn. Als er bemerkte, dass Isabelle ihn betrachtete, warf er ihr einen schnellen Blick zu. Er lächelte schief und sprach dann aus, was Isabelle nicht zu Ende denken wollte.
"Was, wenn dir der Tatsache ins Auge blicken müssen, dass Jan den Unfall absichtlich herbeigeführt hat?"