Später fragte sich insbesondere Isabelle, ob sie es hätten kommen sehen müssen. Ob es vermeidbar gewesen war. Die Situation spitzte sich rasend schnell zu, dabei hatte alles gut begonnen. Ihre Rückkehr in den Alltag war geprägt von Isabelles Einzug, Jans Therapieplan und Dianas Rückkehr aus den Staaten. Schnell ging damit bei Jan eine Überforderung daher, die er nur schwer in den Begriff bekam, obwohl er sich seiner Therapeutin zunächst offen anvertraute. Die Trauerarbeit und Aufarbeitung seiner Verluste beschäftigte ihn sehr, da blieb wenig Platz für das, was sonst noch passierte.
Diana wollte Umgang mit David
Der Kleine wiederum wollte seine Mutter sehen.
Das Jugendamt hatte feste Besuchstage angeordnet.
Obwohl Jan auf den Einzug Isabelles gedrängt hatte, fiel ihm die Nähe dann schwerer, als er zugeben wollte.
Als sie sich an einem Morgen geliebt hatten, überkam ihn eine eigentümliche Panik. Ihm war klar, dass Isabelle nicht Diana war und dennoch war da eine Angst.
Was, wenn auch sie es nicht ernst meinte?
Was, wenn er sich viel zu schnell auf sie einließ und wieder verletzt wurde?
Was würde er damit auch David an tun?
Der hatte auf den Einzug Isabelles positiv reagiert und freute sich vor allem darüber, dass auch die beiden Katzen jetzt in der Wohnung lebten. Innerhalb weniger Tage hatten Jan und Isabelle den Umzug dann über die Bühne gebracht. Mit Isabelle und den Stubentigern zogen ihr Sofa, ihr Schminktisch und ihre persönlichen Dinge ein. Alle anderen Möbel hatte sie verkauft und einen Nachmieter hatte sie ebenfalls schon an der Hand. Er ließ ihr in der Wohnung freie Hand. Hatte lediglich die letzten Habseligkeiten Dianas zusammengepackt und in den Keller verbannt. Alle Zeichen standen auf Richtung Zukunft.
Und dennoch bekam er gewisse Gedanken schwer in den Griff. Isabelle reagierte geschockt, als er in der ersten gemeinsamen Therapiesitzung zu gab, dass er einen Nachmittag ziellos herumgefahren war und sich der Gedanke, dass sie ohne ihn besser sei dran, tief festgesetzt hatte. Seine Ängste dominierten ihn. Er fühlte sich hilflos. Dr. Jäger zog das Netz enger. Jeden zweiten Tag wolle sie ihn sehen und sie trug ihm ein paar Aufgaben auf.
Gefühlstagebuch.
Einen Abschiedsbrief an Jakob.
Und einen an Anna.
Es war nicht so, dass Jan hier blockte, im Gegenteil. Er wollte vor seinem Start in München ein paar Meilensteine erreichen.
Die Produktion dort hatte etwas besorgt auf die Blinddarm-Operation reagiert. Für Mitte Februar war der Probenstart festgesetzt worden und Hanno war guter Dinge, dass Jan bis dahin weit genug sein würde. Die Fäden waren gezogen und sofern er sich weiter schonte, sollte die Narbe gut heilen. Körperlich sah es deutlich besser aus als psychisch und das ein oder andere Mal fragte sich auch Isabelle, ob München eine gute Idee war oder wie er dort zurecht kommen sollte. Doch Jan versprach ihr und Alex immer wieder, dass er sich rechtzeitig äußern würde, sollte er selbst Bedenken haben. Natürlich war auch ihr bewusst, Alex hatte ihr da immerhin reinen Wein eingeschenkt, dass Jan diesen Job dringend brauchte.
Zumal sich gerade der Agent damit konfrontiert sah, dass sich bisher keinerlei Angebote oder Möglichkeiten für den Rest des Jahres herauskristallisierten. Als hätten sich alle Verantwortlichen stillschweigend abgesprochen. So bitter es klang, aber Jan musste in München erstmal beweisen, dass er tragbar für eine Produktion war. Gerüchte hatten die Runde gemacht, das hatte sich nach den Vorfällen im Herbst nicht vermeiden lassen. Der Stempel "unzuverlässig" und "launenhaft" prangte offenbar über Jans Namen. Ein weiterer Punkt, der die Gesamtsituation nicht verbesserte und weitere Ängste schürte.
Wenn er ganz allein war, bekam er manchmal keine Luft. Enge in ihm trieb ihn viel nach draußen, in geschlossenen Räumen hielt er kaum aus. Und dann lief er umher und versuchte dem Karussell in seinem Kopf Herr zu werden. Und Mitten in diesen Kampf mit sich selbst platzte Diana.
Sie ritt ihre erste Attacke und traf auf einen unbewaffneten Jan. Und jeder Hieb traf, er war ihr schutzlos ausgeliefert.
Eigentlich hatte Jan den Kleinen nach seiner Therapiestunde in der Kita abholen sollen. Sein Plan war gewesen, den Tag mit dem Kind zu verbringen, ehe Diana ihn für fünf Tage abholte.
Doch die Sitzung hatte ihn geschafft. Seine Vorsätze kamen mehr als einmal ins Wanken. Dr. Jäger hatte ihn in den 90 Minuten gefordert und ihm kaum eine Verschnaufpause gelassen. Jedenfalls kam es ihm so vor. Jan war fast so erschöpft, als hätte er drei Stunden Sport gemacht. Mehr Offenheit, hatte sie letztendlich gefordert. Ja, er hatte selbst gemerkt, dass er sie heute nicht an den Kern heranlassen wollte. Zu groß waren die Befürchtungen seinerseits.
Angsthase, schimpfte er jetzt mit sich selbst, als er im Lesesessel auf die Straße sah. Was war das nur immer?
Er hatte es Isabelle versprochen.
Seinen Eltern.
Er hatte es sich selbst versprochen.
Wütend stand er auf und lehnte sich ans Fenster. Warum klang es in der Theorie nur so einfach? Oder besser, warum fiel es ihm in der Praxis so schwer? Es war ja nicht so, dass er Dr. Jäger nicht vertraute. Sie hatte ihm deutlich gesagt, dass sie ihm helfen könnte, sofern er es zuließ. Es war ganz allein seine Entscheidung. Seine Wut auf sich selbst nahm zu.
Warum stellte er sich so an? Energisch ließ er die Faust auf die Wand knallen. Überrascht vom Schmerz rieb er sich dann die Rechte.
Am liebsten würde er sich jetzt im Bett verstecken. Stattdessen hatte er sich mit den Fotos aus der Erinnerungsbox beschäftigt.
Warum war da nur so viel Zorn in ihm?
Sein Bruder hatte schon recht. Er bekam es einfach nicht auf die Reihe. Mittlerweile könnte er Isabelle sogar verstehen, wenn sie gehen würde. Was wollte sie überhaupt mit einem Wrack wie ihm? Mit den Fotos vor sich, saß er an die Couch gelehnt auf dem Boden. Er verstand sich nicht mehr. War denn alles umsonst? Die Türklingel rieß ihn aus seinen Gedanken. Als er die Wohungstür öffnete, erstarrte er.
"Du?", fragte er erstaunt.
Diana sah erschöpft aus. Sie war blass, hatte Ringe unter den Augen und ihre Haare wirkten ungepflegt. So kannte er sie nicht.
"Ich wollte David abholen.", sagte sie.
Kommentarlos ließ er sie in die Wohnung. "Der ist noch in der Kita.", antwortete Jan knapp und ging voraus in die Küche.
"Wir hatten vereinbart, dass ich ihn heute abhole." Resignierend folgte sie ihm. Jan deutete zum Tisch und reichte ihr auf Nachfrage ein Glas Wasser.
"Er konnte heute länger bleiben, soll ich ihn später vorbeibringen?", fragte er und lehnte sich an die Arbeitsplatte. Kurz musste er an die eskalierte Situation an Davids Geburtstag denken.
"Jan, das ist nicht fair. Ich habe mein Kind vermisst und mich gefreut ihn zu sehen." Sie verzog ihr Gesicht.
"Verdammt, Diana. Was ist schon fair?", fuhr er sie an. Erschrocken stellte sie ihr Glas ab.
"Was ist denn mit dir los?", wollte sie wissen.
"Das geht dich nichts an.", knurrte er. Langsam ging er zum Fenster.
"Wann wird er hier sein? Dann komme ich nachher wieder."
Jan zuckte mit den Schultern. Da er nicht mehr mit Isabelle gesprochen hatte, wusste er nicht, wann sie nach Hause kam und den Kleinen mitbrachte. Aber das wollte er Diana nicht auf die Nase binden.
"Du weißt es nicht?" Fassungslos sah sie ihn an. Jan schloss die Augen und zählte bis zehn.
"Jan, ich habe dich was gefragt? Wo ist David?"
Zähneknirschend neigte Jan den Kopf in ihre Richtung.
"In der Kita. Ich bringe ihn nachher zu dir.", zischte er leise.
Irritiert sah Diana zur Uhr. "Es ist schon fast 17 Uhr."
Jan versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren.
"Na gut. Dann fahre ich jetzt selbst hin und hole ihn ab. Hast du schon was für ihn zusammengepackt?" Ohne seine Antwort abzuwarten verließ sie die Küche in Richtung Kinderzimmer. Hektisch folge ihr Jan. Grob nahm er ihr die Reisetasche aus der Hand.
"Du tust mir weh.", beschwerte sie sich. Während Jan stumm die Tasche mit Kleidung und Spielsachen füllte, lehnte sie am Türrahmen.
"Was ist bitte los mit dir?", fragte sie vorsichtig.
Ach, durchfuhr es ihn. Auf einmal interessierte sie es.
"Lass doch diese Heuchelei.", schrie er und ließ die Tasche fallen. Tatsächlich wich Diana einen halben Schritt zurück.
"Seit wann interessiert es denn Madame, wie es mir wohl geht? Oder wo ihr Sohn steckt? Das war dir doch sonst immer alles scheiß egal."
Frustriert setzte er sich auf das Sofa und vergrub seinen Kopf in seinen Händen.
"Es tut mir leid.", hörte er dann Diana flüstern.
"Es tut dir leid.", äffte er sie barsch nach. "Großes Kino, Diana. Du hast diese Familie zerstört. Dieses wunderbare Kind verlassen. Alles für deine Eitelkeit. Und alles was dir einfällt, ist, dass es dir leid tut?"
Nein, seine Tränen sollte sie nicht sehen, also hielt er den Kopf weiter vergraben. Fast erschrak er, als er auf einmal ihre Hand auf seinem Rücken spürte. Sofort versteifte er sich.
"Du hast recht.", sagte sie dann zögerlich. "Ich habe vollkommen egoistisch und dumm gehandelt. Jetzt weiß ich das auch.", lenkte sie ein und fuhr im über den Rücken. Überrascht hob er den Kopf und sah sie an. Was war das denn nun?
"Dir geht es nicht gut, das sehe ich doch.", flüsterte sie. "Und ich vermisse dich. Und David . Meine kleine Familie.", seufzte sie.
"Was soll das, Diana?" Er entzog sich ihrer Hand. In ihren Augen standen Tränen. Eilig erhob er sich und brachte Distanz zwischen sich und ihr.
"Jan, ich habe einen großen Fehler gemacht. Kannst du mir nicht verzeihen?" Ihre Frage erwischte ihn unvorbereitet. Wie in Trance setzte er sich auf Davids Bett.
"Verzeihen?", wiederholte er tonlos. "Wie stellst du dir das vor?" Wieder kam sie zu ihm.
"Bitte. Jan, lass es uns nochmal versuchen. Für David. Er braucht uns doch beide." Sie griff nach seiner Hand und suchte seinen Blick. Schnell senkte er den Kopf. Wie oft hatte er in diese Augen gesehen? Sie brachte ihn völlig durcheinander.
"Ich weiß, ich habe vieles falsch gemacht. Gerne würde ich dir beweisen, dass ich es anders kann." Mit ihrer freien Hand streichelte sie ihm über die Wange. Dabei drehte sie seinen Kopf in ihre Richtung.
"Jan, bitte verzeih mir.", bat sie und näherte sich seinem Gesicht.
Sein Herz raste und sein Mund wurde trocken. Was passierte hier gerade? Ehe er es sich versah, küsste ihn Diana auf den Mund. Zärtlich spielte ihre Zunge mit seinen Lippen, doch er brachte es nicht fertig, diese zu öffnen.
"Lass das!", schrie er sie an und stieß sie weg. Mit einem Satz war er an der Tür. Wuttränen brannten in seinen Augen. Was dachte sie sich? Was hätte er beinahe zugelassen?
"Bitte geh.", keuchte er und ließ sie allein im Kinderzimmer zurück. Doch sie folgte ihm ins dunkle Wohnzimmer.
"Gib mir doch eine Chance.", bat sie erneut.
"Diana! Geh! Sonst vergesse ich mich. Niemals in meinem ganzen Leben werde ich dir verzeihen können. Ich ertrage dich nicht." Mit zu Fäusten geballten Händen stand er am Fenster.
"Aber ich liebe dich!", rief sie.
Hilflos schloss er die Augen. Was hätte er vor Monaten für diesen Satz alles getan? Nun wurde ihm nur noch schlecht. Am liebsten hätte er sie jetzt durchgeschüttelt. Was tat sie nur? Warum hatte er nur immer noch Gefühle für sie? Sein Körper sendete widersprüchliche Signale aus.
Langsam drehte er sich zu ihr.
"Du? Mich lieben? Das soll ich glauben?", fragte er. Dabei schüttelte er den Kopf. "Hältst du mich für einen Idioten? Willst du mich lächerlich machen?" Abwehrend hob sie die Hände.
"Ich meine es ernst. Das musst du mir glauben. Die letzten Wochen waren die Hölle. Jan, ich will dich zurück. Ich würde alles dafür tun." Tränen liefen ihr nun über ihr Gesicht. Wieder zählte Jan bis zehn.
"Geh.", fauchte er wieder. Als sie stattdessen einen Schritt auf ihn zu machtem griff er nach dem Windlicht auf dem Beistelltisch. "Ich sagte, geh!", schrie er und warf das Windlicht neben sie an die Wand, wo es krachend in Einzelteile zersprang. Fassungslos sah Diana ihn an.
"Ich werde um dich kämpfen.", sagte sie leise und drehte sich auf dem Absatz um. "Bring David bitte später zu meinen Eltern.", schob sie nach und zog die Wohnungstür mit einem lauten Knall hinter sich zu. Leer und nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, sank Jan in sich zusammen.
Am liebsten nichts mehr fühlen oder spüren. Am liebsten ganz weit weg. Einfach nur Ruhe und Frieden. Kein Kummer, keine Sorgen. Das Dunkel um ihn herum nahm zu und in der Stille kam er langsam zur Ruhe. Auf der Straße war ab und an ein Auto zu hören. Hier und da eilten Schritte vorbei. Er verharrte in der gleichen Position und nahm keine Konturen wahr. Alles verschwamm. Sein Herz war schwer und er musste mühsam schlucken. Irgendwie drückte ihm irgendetwas die Luft ab. Von seiner Magengegend aus, nahm ein ungutes Gefühl seinen Weg auf. Er blinzelte und versuchte die aufkommenden Gedanken zu verscheuchen.
Jedes ihrer Worte war ein Treffer gewesen. Kein oberflächlicher, oh nein. Jeder Schuss war gezielt gesetzt gewesen und hatte ins Mark getroffen. Wie kleine Giftpfeile hatten sie sich in ihn hineingebohrt. Und das Gift verteilte sich rasend schnell. Es kroch durch seinen Körper und lähmte ihn regelrecht. Vorsichtig rollte er sich zusammen und schloss die Augen. Es sollte aufhören. Alles drehte sich. Mit einer Hand stütze er sich ab. Drückte sie fest gegen die Lehne des Sofas. Und wenn es keinen Ausweg aus diesem Teufelskreis gab? Wenn er sich in seinem eigenen Labyrinth aus Gefühlen verlaufen hatte?
Eine feuchte Katzennase stupste ihn an und holte ihn ins Hier und Jetzt zurück.
Kämpferisch hob Jan den Kopf.
Nein, er würde sich jetzt nicht damit befassen.
Das führte zu nichts.
Er wollte den Gedanken, dass es Diana ernst meinen könnte, nicht zulassen.
Dazu fehlte ihm die Kraft, denn er hatte keine Ahnung, was dies mit ihm machen würde.
Isabelle durfte ihn keinesfalls so sehen. Auf keinen Fall wollte er sie hiermit belasten.
Er atmete tief ein und aus und erhob sich, sammelte die Scherben des Windlichts ein.
Wenn man genau hin sah, konnte man eine kleine Delle an der Wand erkennen. Nun gut, darum konnte er sich morgen kümmern.
Mimi beobachtete ihn aus sicherer Entfernung.
Nachdem er den Müll entsorgt hatte, ging er ins Bad und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Ja, er sah mitgenommen aus.
Vielleicht konnte er das auf die Sitzung schieben.
Er zog das verschwitzte T-Shirt aus und kümmerte sich um die Narbe. Diese zog unheimlich und er betrachtete sie kritisch.
Vorsichtig cremte er sie ein und nahm sich ein frisches Shirt aus dem Schrank.
Noch während er die Schublade schloss, drehte sich ein Schlüssel in der Wohnungstür und er hörte David lachen.
Schnell warf er einen hastigen Blick in den Spiegel, fuhr sich durch die Haare und atmete nochmal durch.