Gespannt wartete Lars Martin auf eine Reaktion seines Patienten. Es war das erste Mal, dass er ihn wirklich forderte. Bisher hatte er sich darauf beschränkt, ihm Ruhe und Sicherheit mitzugeben, der gequälten Seele Trost geschickt und nachgefühlt, wie sich die Gesamtsituation entschärfte. Dazu hatte er versucht, die Blockaden zu lösen, was zu Jans Alpträumen geführt hatte.
Langsam wurde es Zeit, etwas weiter zu gehen. Das Trauma des Erlebten saß schon tief. Er wollte verhindern, dass es sich weiter festsetzte. Daher sprach er heute gezielt das Unterbewusstsein an. Einfach war das in der Tat nicht. Jan hatte gelernt, sich gut abzuschirmen. Vorsichtig tastete sich der Heilpraktiker vor und konzentrierte sich dabei. Hier und da machte er eine Notiz und beobachtete auch Jans noch so minimalen Bewegungen. Es war nun deutlich zu sehen, dass er sich unwohl fühlte. Sein Körper reagierte mit leichtem Schwitzen und Zittern. Auch seine Atmung ging etwas unruhiger. Offenbar hatte er ihn also erreicht.
Nach wenigen Minuten entschied er dann, dass es genug war. Die Rückmeldungen waren informativ. Aus seiner Sicht war Jan bereit für die Gesprächstherapie. Das Trauma wollte verarbeitet werden und es wurde höchste Zeit. Als sich Jan wieder entspannte, gab er ihm noch ein paar Minuten, ehe er aufstand und ihn kurz berührte. Wie in den vergangenen Tagen auch, ließ er Jan sich kurz sammeln, ehe er ihn in die Sitzecke bat. In diesen Minuten vervollständigte er seine Notizen und füllte die beiden Wassergläser auf. Als Jan sich setzte, lächelte er ihn an und lehnte sich im Sessel zurück.
»Ihr Abwehrmechanismus ist sehr ausgeprägt« meinte Lars Martin schließlich, während Jan nach seinem Glas griff. »Aber erzählen Sie mir mal, wie es sich für Sie anfühlte«, forderte er ihn dann auf. Jan kaute auf seiner Unterlippe, ehe er zu sprechen begann.
»Es war seltsam, als wenn etwas Störendes durch meinen Körper glitt«, meinte er dann. Mit einer Handbewegung hieß ihn Lars Martin, weiterzusprechen. »Es war unangenehm, ja. Ich hatte eine Sekunde lang das Gefühl, mein Herz könnte zerspringen.« Nickend betrachtete der Heilpraktiker seine Notizen.
»Ich möchte da beim nächsten Mal gerne weitermachen. Sie müssten das aber auch zulassen. Ein bisschen was müssen wir schon nach oben holen, ehe Dr. Funk den Rest übernimmt. Wir beide möchten, dass Sie optimal vorbereitet sind.«
Jan nahm einen weiteren Schluck und stellte das Glas dann ab. Der Heilpraktiker ahnte, welche Bedenken der Andere hatte. Bestimmt schloss er das Notizbuch und sah Jan an.
»Es muss sein. Nicht, weil sie jemand durch die Hölle schicken will, sondern weil es für den Prozess der Verarbeitung wichtig ist. Und wir werden alles geben, dass wir Ihnen helfen, so gut es nur geht. Dafür sind wir da und wir haben eine Strategie. Jemand besseren als Frau Dr. Funk werden Sie zu dieser Thematik nicht finden. Ihre Mitarbeit ist aber ausschlaggebend für den Erfolg.«
Jans Verunsicherung war noch immer spürbar.
»Frau Dr. Funk wird am Donnerstag dazu kommen. Wir schauen, wie weit wir zusammen gehen können.« Lars Martin füllte das Wasserglas auf und beobachtete Jan genau. Dann stand er auf, ging zu seinem Schreibtisch und kam mit einem Päckchen zurück. »Nehmen Sie vorm Schlafen jeweils eine hiervon. Die reichen wieder bis zur nächsten Woche. Damit sollten Sie etwas besser schlafen und sich auch besser erholen.« Mit diesen Worten reichte er Jan die Tabletten.
Zögernd räusperte sich Jan. »Wenn ich diese Therapie durchziehe und mich einbringe, kommt dann auch alles wieder so in Ordnung, wie es sein sollte?«, fragte er schließlich.
Lars Martin hob eine Augenbraue. Er ahnte was Jan meinte, aber er wollte auch, dass der es aussprach. Denn dass der Andere das Thema gerne umschiffte und nicht beim Namen nannte, war ihm nicht verborgen geblieben.
»Sie meinen, wenn Sie die Vergewaltigung verarbeitet und akzeptiert haben, ob Sie dann wieder sexuell aktiv sein können?«, fasste er demnach zusammen und ließ es nicht zu, dass Jan ihm auswich. Der nickte schließlich und senkte den Blick. Lächelnd sah ihn der Heilpraktiker an.
»Wie Ihre Psyche mit dem Thema umgeht, das ist bei jedem anders. Bei einigen klappte es auch davor schon wieder, andere brauchten länger, das ist komplett Ihnen überlassen. Erzwingen Sie es nicht. Lassen Sie sich Zeit und schauen einfach, was Ihnen gut tut und was nicht. Medizinisch gesehen ist ja alles in Ordnung.« Er überlegte kurz. »Wichtig ist, dass Sie einen Schritt nach dem anderen machen. Und einen wichtigen gehen wir am Donnerstag gemeinsam. Und die kommenden Wochen werden Ihnen helfen. Es wird Rückschläge geben, keine Frage. Sie werden zweifeln und niemand hat behauptet, dass es ein Spaziergang wird. Aber, Sie werden das schaffen. Ihr Umfeld ist stark, das ist ein großer Bonus.« Aufmunternd sah er ihn an. Im Großen und Ganzen hatte er ein gutes Gefühl. Der Donnerstag war entscheidend. Er wünschte es seinem Patienten, dass er schon so weit war.
Isabelle hatte wie immer mit David auf Jan gewartet und zusammen verließen sie das psychologische Krisenzentrum. Das Mittagessen nahmen sie zusammen bei einem Italiener ein, ehe sie mit David durch ein Museum bummelten. Obwohl Jan sich zusammenriss blieb Isabelle nicht verborgen, dass er etwas stiller war. Die neuen Tabletten hatte er ihr direkt ausgehändigt, leider hatte sie keine Gelegenheit gehabt, selbst mit dem Heilpraktiker zu sprechen. Und so lange David in Hörweite war, würde Jan von sich aus nicht anfangen zu erzählen. So übte sie sich in Geduld.
Wie in der Woche zuvor begleiteten sie Jam an Nachmittag zum Theater. David tobte durch den Innenhof und jagte eine Taube, als Jan Isabelle in seine Arme zog. Er schlang seine Arme um sie und sie lehnte ihren Kopf an seine Brust.
»Ich liebe dich« flüsterte er und stützte sein Kinn auf ihrem Kopf ab, dann küsste er sie auf die Stirn. Auch Isabelle legte ihre Arme um seine Hüften. »Du bist so still heute«, stellte sie leise fest. Im Hintergrund juchzte David und Ginas Stimme klang herüber. Offenbar ließ sich der Junge von der Italienerin bespaßen.
Langsam schüttelte Jan den Kopf.
»Es geht mir gut. Mach dir keinen Kopf. Ich bin so froh, dass ich dich habe«, antwortete er dann und sah ihr in die Augen. Isabelle lächelte und erwiderte seinen Blick. Er strahlte so viel Zärtlichkeit aus. Er berührte sie sehr und in diesem Augenblick wusste sie tausendprozentig, warum sie für und mit ihm kämpfte. Als er sie liebevoll küsste, war es fast so berauschend wie damals, bei ihrem ersten Kuss. Welcher beide überfordert hatte. Schmunzelnd löste sie sich aus seiner Umarmung und deutete auf Gina, die vor David kniete.
»Ich erlöse sie mal«, meinte Isabelle und drückte Jans Hand. Sie sah ihm nach der Verabschiedung nach, wie er mit Gina im Inneren des Theaters verschwand.
Gut gelaunt betrat Jan später die Wohnung, schlüpfte aus den Schuhen und schlich in das kleine Kinderzimmer. David schlief tief und fest. Vorsichtig drückte er ihm einen Kuss auf den Schopf und ging so leise hinaus, wie er hereingekommen war. Isabelle lag lesend auf der Schlafcouch, als er herein kam und begrüßte ihn freudig. Jan zog den Sweater aus und gab ihr dann einen Kuss. Während er von der Abendvorstellung erzählte, richtete sie sich auf und griff nach seinem Medikament. Als sie ihm die Tablette gab, lächelte sie.
Jan nahm einen großen Schluck Wasser, dann schlüpfte er zu ihr unter die Decke.
»Ab Donnerstag wird es ernst«, sagte Jan leise. Sie nickte bedächtig. Mehr musste er nicht erklären.
»Das ist gut«, antwortete sie und streichelte ihm sanft über die Wange.
»Ich habe keine Ahnung, ob ich ihr das erzählen kann«, sagte er und griff nach ihren Fingern.
»Doch, Jan, ich weiß es. Es muss auch sein, du quälst dich so. Und ich wette, dass es gar nicht so schwer werden wird. Sie ist ein Profi, weiß was sie tut« Sie beobachtete ihn und gab ihm schließlich einen sanften Kuss. »Ich liebe dich und ich glaube an dich. Wir schaffen es, zusammen. Und egal wie es dir anschließend geht oder auch, wenn es nicht so läuft, wie du es dir vorstellst, ich bin da für dich.«
Nun zog Jan sie fest an sich und erwiderte den Kuss ebenso zärtlich. Fast schüchtern wanderte Jans Hand an ihre Hüfte und Isabelle öffnete ihren Mund leicht. Seine vorsichtige Berührung jagte ihr einen Schauer über den Körper. Seufzend wurde sie etwas mutiger und intensivierte den Kuss. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Mit jeder Faser konzentrierte sie sich auf Jan und dessen Reaktion. Seine Zunge nahm das Spiel der ihren an und sie ließen sich in diesem Kuss fallen. Es fühlte sich an, als würden sie sich dabei neu kennen lernen.
Isabelle zog ihn etwas auf sich und griff mit ihrer freien Hand in seinen Nacken. Erfreut nahm sie zur Kenntnis, wie seine Hand langsam unter ihr Shirt wanderte. Ihr ganzer Körper bebte, als er sie sanft streichelte und ihre Brüste liebkoste. Wie sehr sie es vermisst hatte, begriff sie erst jetzt. Jan löste sich von ihrem Mund und seine Küsse bedeckten dann ihren Hals und den Nacken. Stöhnend krallte sie ihre Finger in seinen Rücken und hob ihr Becken. Würde es nach ihr gehen, sollte er damit niemals aufhören. Er war unfassbar liebevoll und sanft. Jan erkundete jeden Millimeter ihrer Haut, als könnte er sich nicht satt fühlen an ihr.
Immer wieder sah er sie unsicher an, doch sie bedeutete ihm jedes Mal, dass er unbedingt weiter machen sollte. Seine Hände streichelten sich langsam und gleichmäßig in tiefere Regionen vor. Vergessen waren alle Probleme der letzten Wochen und Tage. In diesem Moment wollte sie ihn einfach nur spüren und genießen. Mit geschlossenen Augen bedeckte Jan nun ihren Bauch und die Hüften mit weiteren Küssen.
Zu gerne wollte auch sie ihm etwas Gutes tun, doch er gab hier die Richtung vor. Schon den Versuch, sein Glied zu ertasten hatte er sanft aber bestimmt unterbunden.
Isabelle gab sich ihm vollkommen hin, ließ sich fallen. Ihre Hände krallte sie in das Laken als die Welle sie erfasste. Sie kam mit einer solchen Intensität, dass sie alles um sich herum vergaß. Jan zog sie in seine Arme, während sie noch heftig atmend nach Luft rang. Er hielt sie fest, küsste sie immer wieder und streichelte ihr über den Rücken. Auch sein Herz schlug kräftig, wie sie feststellte, als sie sich beruhigte. Sie ließ eine Hand über seinen Brustkorb wandern und kam an der Stelle zur Ruhe, an der sie seinen Herzschlag spüren konnte. Jan schluckte schwer und griff nach ihrer Hand.
»Bist du okay?«, fragte sie leise. Ohne zu antworten, schloss er die Augen und nickte leicht. Schläfrig bettete Isabelle ihren Kopf an seine Schulter. Noch immer spürte sie seinen unruhigen Puls.
»Ich liebe dich«, flüsterte sie. Dabei drückte sie leicht die Hand. Kurz zuckte sein Oberkörper, doch dann blieb Jan still liegen, vorsichtig erwiderte er den Händedruck. Verwirrt und übermannt von ihren Gefühlen, aber dennoch erschöpft, schlief Isabelle nach einer Weile ein.
Jan dagegen lag noch lange wach. Und er focht einen Kampf mit sich aus. Einerseits hatte es sich gut angefühlt. Isabelle zu berühren, sie zu streicheln, zu küssen und ihr Lust zu verschaffen war ihm wichtig. Es hatte ihn berührt, dass sie so auf ihn reagiert hatte. Sie hatte klar demonstriert, wie sehr sie ihn wollte. Andererseits war er verunsichert. Zunächst hatte er geglaubt, ihre Reaktion würde auch bei ihm etwas auslösen, aber der Moment war so schnell vorbeigewesen, wie er gekommen war. Stattdessen hatte sich Jan komplett auf seine Freundin konzentriert und erst jetzt kam der Frust dazu.
Er hatte es initiiert. Weil er es gewollt hatte. Und er hatte geglaubt, es würde funktionieren. Aber es war anders gekommen. Und Jan fühlte sich hilflos. Er liebte sie doch und wollte ihr das zeigen. Mit allem was dazu gehörte. Er rollte sich zur Seite und betrachtete im Halbdunklen das zarte Gesicht seiner Freundin. Selbst im Schlaf lächelte sie und wirkte so friedlich.
Was eine starke Frau er sich da ausgesucht hatte. Irgendwann, so schnell als möglich am Besten, wollte er wieder für sie da sein. Behutsam strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Sein Herz schien vor Liebe für Isabelle gerade überzulaufen, gleichzeitig war er unendlich traurig. Sie hatte schon so viel mitgemacht mit ihm, war immer wieder selbstlos für ihn da. Nahm Dinge in die Hand, regelte so viel und bot ihm jederzeit eine Schulter an.
Und er? Er hatte sie weggestoßen, mit ihr gestritten und sich verraten gefühlt. Und nun bekam er es nach all den Wochen nicht mal ordentlich hin, mit ihr zu schlafen. Jan spürte den dicken Kloß, der sich bildete und gleichzeitig wurde er wütend. Mit einem schnellen Satz verließ er die Schlafcouch und riss die Balkontür auf. Er drückte sie von außen wieder zu und sank auf einen der Gartenstühle. Unbewusst hatte er die Fäuste geballt. Lars Martin hatte ihn vor einiger Zeit gefragt, was er fühlte, wenn er an Diana dachte. Jan hatte es damals nicht in Worte fassen können. Und noch immer war da diese unfassbare Wut. Dafür gab es keine Beschreibung.
Gerade nun, in diesem Augenblick, schämte er sich fast für seine Gedanken. Aber er würde ihr am Liebsten weh tun. Seine Wut einfach an ihr abbauen. Er griff nach dem Sitzkissen, das auf dem zweiten Stuhl lag und drosch auf es ein. Doch es eignete sich nicht besonders gut und Jans Wut wandelte sich in Raserei. Er musste Dianas Gesicht in seinem Kopf auslöschen. Ausgelaugt warf er das Kissen in eine Ecke. Raus. Er musste diese ganzen Gefühle, die ihn beherrschten los werden. Nur wie? Hektisch sah er sich um. Es war zu eng. Kaum noch bekam er Luft. Mit einer schnellen Bewegung verließ er den Balkon, ließ dabei die Tür offen stehen und ging schnell durch das kleine Zimmer. Schweiß lief ihm über den Rücken, als er das Badezimmer erreichte. Er betrat den Raum nicht, er erschien ihm viel zu klein, dort würde er Platzangst bekommen. Panisch wandte sich Jan der Küche zu. Wie durch einen dunklen Tunnel irrte er durch den Flur. Endlich konnte er die Küchentür hinter sich zuwerfen. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und starrte die Wanduhr an. Sein Herz hämmerte in seiner Brust und der Kloß ließ sich nicht mehr wegschlucken.