Sie stand vor dem Fenster und sah ihn spöttisch an.
„Was soll das werden, wenn es fertig wird?“, fragte sie und zog eine Augenbraue hoch. Er starrte sie nur ungläubig an und zuckte mit den Schulter.
„Das weißt du doch“, murmelte er.
Noch immer stand sie vor dem offenen Fenster und betrachtete ihn sorgenvoll. Verwirrt drückte sich Jan in die Ecke des Sofas. Langsam schüttelte sie den Kopf.
„Du wolltest doch gehen“, stieß er hervor und dachte an die letzte Begegnung.
„Was glaubst du, warum ich wieder da bin?“, fragte sie. Darauf hatte er keine Antwort. Sie neigte den Kopf und kam auf ihn zu. „Deine Träume“, begann sie. Jan schluckte. Sie machte einen weiteren Schritt. „Der Glaube an die Liebe.“
Sie sah ihm fest in die Augen, fast bis auf den Grund seiner Seele. Nun stand sie vor ihm und berührte seine Wange. Ihre zarte Hand tat ihm gut und er schloss die Augen. „Die Liebe an das Leben“, flüsterte sie. „Ich wollte dich daran erinnern.“
Er atmete aus und hob seinen Blick. Dann schüttelte er wortlos den Kopf. Das alles gab es nicht mehr.
„Bleib“, bat er. Am liebsten würde er sie jetzt in seine Arme schließen.
„Nein, Jan. Ich passe auf dich auf, wie versprochen“, antwortete sie und ging wieder zum Fenster. „Mach es dir nicht so schwer.“ Sie drehte sich wieder zu ihm, kaum dass sie das Fenster erreicht hatte. Sehnsüchtig sah er sie an. Sie sollte nicht gehen. Sie verstand ihn doch besser, als er sich selbst.
„Anna, bitte“, flehte er.
Benommen setzte er sich auf. Vor dem Fenster wehte der Vorhang leicht im Wind und das erste Tageslicht schien durch die Ritzen des Rolladens. In diesem Moment fühlte sich Jan einfach nur alleine. Zu all den Gefühlen der letzten Tagen gehörte auch, dass er Isabelle schrecklich vermisste. An und für sich wollte er nichts, als sich einfach von ihr in den Arm nehmen zu lassen. Wieder schluckte er schwer und versuchte den Kloß im Hals weg zu atmen. So blieb er liegen, starrte das Fenster an und focht einen langen Kampf mit sich aus. Erst das Klingeln seines Handys unterbrach ihn.
David.
Er rollte sie auf die andere Seite und griff noch im Liegen nach dem Gerät. Es zog ihm das Herz zusammen, als der Kleine ihn fröhlich begrüßte und los plapperte. Nun konnte er seine Tränen kaum zurückhalten. Nach fünf Minuten gab der Junge das Telefon an Isabelle weiter.
„Guten Morgen“, sagte sie knapp. Sie war offenbar noch etwas sauer wegen des nächtlichen Anrufs.
„Hi“, sagte er nur und verschloss sorgsam sein Herz.
„Jan, können wir heute Abend über die Geschichte reden? In Ruhe? Ich bleibe auch länger auf“, schlug sie vor. Er kam in den Sitz und schwang die Beine aus dem Bett.
„Hat sich erledigt“, seufzte er. „Könnte heute Abend spät werden.“ Die nächste Lüge, die sich aus seinem Mund stahl. Er spürte ihr Zögern.
„Isabelle, es ist okay. Ich kann dir wegen des Termins noch nicht sagen, ob ich mich heute Abend vor der Vorstellung melden kann. Bitte gib David notfalls einen dicken Kuss von mir“, schob er schnell nach. Im Hintergrund hörte er den Kleinen quengeln.
"Wir müssen los", sagte sie leise. Er biss sich auf die Unterlippe und blinzelte eine Träne weg. Nun nur nicht weich werden.
"Ich liebe dich", sagte er stattdessen.
"Bitte melde dich", bat sie ihn, ehe sie das Gespräch beendeten. Jan warf das Handy auf die Schlafcouch und vergrub den Kopf in seinen Händen.
Jan kämpfte sich durch den Pressetermin. Interviews, Fotos, zahlreiche Bühneneinblicke. Robert und Alex wuselten hektisch herum und Jan atmete durch, als er endlich für eine halbe Stunde in die Garderobe konnte. Romy würde ihn gleich fertig machen, schnell drückte er zwei Tabletten aus dem Plister und spülte sie mit Wasser herunter. Gerade rechtzeitig, nur zwei Sekunden später öffnete Alex die Tür.
"Kannst du nicht anklopfen?", maulte Jan und schob die Schublade zügig zu. Verwirrt setzte sich Alex auf die Couch. Jan griff nach dem Hemd und drehte sich von Alex weg. Er hatte keine Lust, dass der jetzt die aufgekratzten Stellen zu Gesicht bekam. Er fuhr schnell aus dem Pulli und drehte sich erst wieder herum, nachdem er alle Knöpfe geschlossen hatte. Er musste sich beeilen, weil noch weitere Fotos gemacht werden sollten.
"Wie lange brauchst du mich nachher?", wollte Jan wissen.
"Gar nicht, ich denke, die haben genug Material. Morgen mailt er mir alles ins Büro, dann prüfen wir und das war es dann erst einmal", antwortete Alex ruhig. Es klopfte und Romy betrat den Raum. Im Schlepptau hatte sie, wie abgesprochen, den Fotograf und den Reporter. Jan verzog etwas das Gesicht, ließ sich dann aber beim Schminken fotografieren. Alex beantwortete dazu ein paar Fragen und auch Romy ergänzte hier und da. Als die Maske fertig war und sie wieder unter sich, stand Alex auf. Er legte Jan eine Hand auf die Schulter. "Dann sehen wir uns nach der Vorstellung", meinte er und verließ die Garderobe.
Die Vorstellung verlief richtig gut, Jan spürte selbst, dass es heute noch besser war. Der Reporter und der Fotograf waren völlig begeistert und verabschiedeten sich am Ende überschwänglich. Alex war dann guter Dinge, was den geplanten Artikel betraf. Er unterhielt sich kurz mit Gina und Ariane, scherzte mit Robert, ehe er auf die Uhr sah. Langsam wurde es Zeit für ihn, er wollte heute noch zurück nach Stuttgart. Von Jan verabschiedete er sich an der Bühnentür.
"Na dann, halt die Ohren steif. Melde ich bitte Dienstag, nach diesem Termin. Und wenn vorher irgendetwas ist, komm damit zu mir, hörst du?" Er wollte dem Anderen in die Augen sehen, doch Jan hatte den Blick schon gesenkt.
"Danke, Alex", murmelte er nur. Noch lange auf dem Heimfahrt grübelte Alex. Sein Gewissen regte sich etwas. Hatte er Jan zu viel zugemutet? Müsste er anders handeln? Ihn von der Bühne nehmen? Kurz dachte er an die Ereignisse rund um die Tour. Dort hatte er erst spät die Reißleine gezogen, fast zu spät. Nochmal wollte er diesen Fehler nicht machen. Aber Jan signalisierte nicht, was er wollte oder brauchte. Das machte die ganze Situation nur noch schwerer. Vielleicht würde der Termin nächste Woche einen Durchbruch bringen.
Mit der Tüte vom Kiosk in der Hand betrat Jan das Apartment. Schon auf dem Spaziergang vom Theater hatte er sein Handy ausgeschalten. Er hing die Jacke auf und brachte den Wein sowie die Zigaretten ins Wohnzimmer. Dann ging er in die Küche und öffnete die Schublade unter dem Herd. Erleichtert griff er nach der Pille und ging wieder nach nebenan. Aufgeregt betrachtete er, was er vor sich sah. Ob es reichen würde? Jan griff nach dem Laptop und öffnete ihn. Dort hatte er das Papier aufbewahrt und er ging alle Punkte durch. Er müsste an alles gedacht haben.
Zügig öffnete er die erste Flasche und nahm einen großen Schluck. Er konnte spüren, wie der Alkohol durch seine Blutbahn schoß. Es beruhigte beinahe. Er steckte sich eine Zigarette an und atmete tief durch. Neben der Couch stapelten sich einige Bücher, dazwischen fand Jan, was er suchte. Die Klarsichthülle mit den wenigen Fotos hatte er nach Neujahr immer bei sich gehabt.
Während er die erste Flasche leerte, betrachtete er die Bilder einzeln, dann packte er sie wieder beiseite. Dafür nahm er sich den Block und starrte in der nächsten halben Stunde das Papier an. Schlussendlich schrieb er nur ein paar wenige Zeilen und faltete den Brief zusammen. Nachdem er die zweite Flasche geöffnet hatte, zündete er zwei Kerzen an und löschte das Leselicht. Wieder setzte er sich auf das Sofa und betrachtete nun seinen Vorrat. Alles in ihm war auf einmal ruhig. Mit einem großen Schluck spülte er die ersten Beruhigungstabletten herunter. Er wusste ja, die würden eine Weile brauchen, bis sie wirkten. Wieder zündete er sich eine Zigarette an und rauchte diese langsam. Tatsächlich konnte er spüren, wie er müde wurde. Er drückte die Zigarette aus und nahm die letzten Tabletten in die Hand. Darunter war auch die Pille, die er gestern von dem seltsamen Typen gekauft hatte. Angeblich würd die dreimal so schnell und gut wirken. Hoffentlich, dachte Jan. Mit dem letzten Schluck aus der Flasche nahm er alle auf einmal. Dann ließ er seinen Kopf auf das Kissen sinken und sah den Kerzen beim Abbrennen zu. Als er wegdämmerte, sah er wieder Anna vor sich, die kopfschüttelnd auf ihn zu trat.