Sein Kopf dröhnte und wenn er sich bewegte, hatte er das Gefühl, dass dieser jeden Moment platzen würde. Dazu war ihm unglaublich übel. Er rollte sich in die Seitenlange und kniff die Augen zusammen.
Was war nur schief gelaufen?
Stöhnend legte er sich eine Hand auf die Augen. Wie konnte einem nur so schlecht sein? Wenige Minuten später gab er auf und schleppte sich ins Bad. Keine Sekunde zu früh. Sein ganzer Körper zitterte, als er sich heftig erbrach, bis er nur noch Galle spuckte. Schweißnass lehnte er sich dann an die Wand und versuchte durchzuatmen. In weiteren Schüben schied der Körper aus, was er ihm wenige Stunden zuvor zugeführt hatte. Vor Schmerzen krümmte Jan sich und sein Puls flackerte unruhig.
Er verbrachte den Rest des Vormittags im Bad, erst gegen Mittag beruhigte sich sein Magen. Die Kopfschmerzen dagegen waren sogar noch heftiger geworden und ihm war so schwindlig, dass er zeitweise nicht aufstehen konnte. Irgendwie kämpfte er sich in die Küche und stürzte eine Flasche Wasser hinunter. Er fand eine letzte Schmerztablette, die von der nächtlichen Aktion verschont geblieben war. Immer wieder kamen ihm die Tränen, aus purer Verzweiflung. Irgendwann schaltete er sein Handy wieder ein. Wie zu erwarten war, hatte es Isabelle mehrfach versucht. Doch auch Arianes Namen erschien im Display. Er setzte an beide eine Nachricht ab, dass er sich den Magen verdorben hatte und sich später melden würde.
Sprechen wollte er im Moment mit keiner der beiden. Die bleierne Müdigkeit trieb ihn wieder ins Bett. Als er lag, wurde der Schwindel erträglicher und auch sein Puls normalisierte sich ein wenig. Jan schloss die Augen und versuchte zu begreifen, was er nicht wahrhaben wollte. In seinen Ohren rauschte es und sein Körper fühlte sich taub an. Sehnsüchtig schlug er die Augen auf und starrte das Fenster an. Seufzend rollte er sich nach einer Weile auf die andere Seite.
Anna sprach nicht.
Sie berührte ihn liebevoll, ließ ihre Hand an seiner Wange ruhen.
Sanft schüttelte sie den Kopf und ihr Blick durchbohrte ihn.
Jan musste schlucken, schaffte es aber nicht, ihr auszuweichen.
Und er wollte es auch gar nicht,
Er wollte so lange wie irgendwie möglich hier mit ihr stehen.
Schweigend und dennoch einander so nah.
Wie so oft brauchten sie keine Worte.
Stumm teilte er sich ihr mit und wusste, dass sie ihn verstand.
Und mehr, so einfach konnte es sein, wollte er doch überhaupt nicht.
Als sie ihn losließ und verschwand, rief seine Seele vergebens nach ihr.
Wieder nahm sie ihn nicht mit.
Als er erwachte, war es später Nachmittag. Er hatte wirr geträumt und noch immer fühlte er sich matt. In der Küche fand er Konserven, die Isabelle eingekauft hatte und er machte sich zumindest eine Suppe warm. Ein paar Löffel traute er sich zu, mehr bekam er nicht runter, aus lauter Angst, sich weiter übergeben zu müssen. Sein Hals fühlte sich wund an und wenn er morgen wieder auf die Bühne sollte, dann musste er ihn schonen.
Morgen.
Eigentlich hätte es kein Morgen mehr geben sollen.
Mit einer Wasserflasche setzte er sich in die letzten Sonnenstrahlen auf dem Balkon. Selbst dazu war er also unfähig.
Jan spielte mit der Zigarettenschachtel. Seine Finger wollten etwas zu tun haben, wieder kribbelte sein Körper unangenehm. Doch der Geschmack der Glimmstengel schreckte ihn ab. Er konnte es aber nicht verhindern, dass er sich wieder an den Unterarmen kratzte. Das Jucken war einfach nicht auszuhalten. Jan wollte alles aus sich herausschreien, aber es funktionierte nicht. Kein Ton kam über seine Lippen. Als ihm kalt wurde, ging er wieder rein und rief endlich zu Hause an. David freute sich, ihn zu hören und bettelte, dass er über die Kamera anrief, aber Jan vertröstete ihn. So musste der Kleine ihn nicht sehen.
Davids Erzählungen erwärmten sein Herz und er weinte lautlose Tränen, während er ihm zuhörte. Isabelle war mit ihm auf dem Abenteuerspielplatz gewesen und er hatte die Ziegen streicheln dürfen. Jan sehnte sich nach seinem Kind und er wollte gerade nichts anderes, als bei ihm sein. Wenn er jetzt gleich losfuhr, dann konnte er am späten Abend daheim sein. Vielleicht konnte er Robert überreden, dass er morgen erst die Abendvorstelllung spielen musste.
"Jan?", hörte er aus dem Hörer. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie David sich verabschiedet hatte. Er räusperte sich und rang um Fassung.
"Sorry, ich war abgelenkt."
Sie seufzte leise und er konnte hören, wie sie kurz mit David sprach, der lautstark im Hintergrund spielte. Dann wurde es leiser.
"Wie geht es dir? Was macht der Magen?" Irritiert zögerte er einen Moment, ehe er begriff.
"Besser. Keine Ahnung, was das war. Bin nur sehr müde." Immerhin stimmte der letzte Teil.
"Dann ruh dich aus, hörst du?" Er versprach es ihr. So gern er jetzt bei ihr wäre, es machte keinen Sinn. Sie fehlte ihm und doch sprach er es nicht aus. Nach dem Telefonat schrieb er nochmal an Ariane, damit sie sich keine Sorgen machte. Dann sah er eine Weile fern und schlief darüber ein.
Als es klingelte, saß er senkrecht im Bett. Dann klopfte es an der Tür und er konnte Arianes Stimme hören, die leise nach ihm fragte.
"Moment", rief er und sah sich hektisch um. Die Flaschen von gestern und den Aschenbecher stellte er schnell auf den Balkon, ließ den Rollo herunter und ging dann zur Tür. Besorgt musterte Ariane ihn, als er die Tür öffnete und sie hereinließ. Sie schwenkte eine Tragetasche.
"Ich habe dir Cola und Salzstanden mitgebracht. Das hilft doch immer. Du siehst völlig fertig aus", sagte sie und folgte ihm währenddessen ins Wohnzimmer. Auf die Cola verspürte er direkt Lust und bedankte sich.
"Morgen ist es bestimmt okay", murmelte er.
"Robert sagt, du sollst bis Zwölf Bescheid geben, ob du spielen kannst."
Jan nickte. Sie studierte sein Gesicht. Er konnte sehen, dass sie mißtrauisch war, doch er schaffte es, sie abzulenken und sie verabschiedete sich nach wenigen Minuten. Erleichtert kroch er wieder unter die Decke und schlief fast umgehend wieder ein. In seinen Träumen vermischte sich alles mögliche und immer wieder durchlitt er, was er vergessen wollte. Häufig schreckte er hoch und wurde zunehmend wütend auf sich. Nicht mal den Schritt aus dem Leben hatte hinbekommen. Was sollte er nur tun? Er war hin- und hergerissen. Den einen Moment wollte er am liebsten direkt ins Auto sitzen, nach Hause fahren und Isabelle alles gestehen, im nächsten erschien es ihm sinnvoller, hier zu bleiben und kurzfristig einen neuen Versuch in Angriff zu nehmen.
Gegen Neun stand er auf, duschte und trank einen Kaffee, ehe er mit seinem Sohn telefonierte. Diesmal kam er Davids Wunsch nach und nutzte die Videofunktion. Der kleine Kerl strahlte ihn an und ließ verlauten, dass sie schönes Wetter und er sich auf den Tag freute. Auch mit Isabelle sprach Jan dann etwas länger, sie umschifften aber tiefergehende Themen. Sie war überzeugt, dass er wieder auf dem Damm war und deutete erste Pläne für die Osterferien in München an. Sie lachten gar zusammen, als sich David immer wieder ins Bild drängelte, weil ihm hier und da Sachen einfielen, die er seinem Vater noch erzählen musste.
Das Telefonat hatte ihm gut getan. Ein wenig hatte es die Bilder der Nacht und seine Wut vertrieben. Mehr als einmal war er kurz davor gewesen, ihr reinen Wein einzuschenken. Nachdenklich hatte er dann Robert eine Nachricht geschickt und sich als spielbereit gemeldet. Kurz griff er nach dem Flyer, den Alex mit den anderen Unterlagen dagelassen hatte. Die dort genannte Homepage des psychologischen Krisenzentrums betrachtete er auf dem Laptop und klickte ein paar Informationen an. Doch schließlich klappte er das Gerät zu und steckte den Flyer wieder zwischen den Bücherstapel. Es wurde Zeit für die heutige Doppelshow.
Am Theater schickte Robert ihn zum Arzt, dort blieb Jan bei seiner Magen-Geschichte und bekam grünes Licht für die Auftritte. Mit Ariane, Gina und Femke nahm er eine Kleinigkeit in der Kantine zu sich und ließ sich erzählen, wie Gregors Einstand gewesen war. Offenbar hatte der seine Sache gut gemacht, trotzdem bekundete Femke, dass sie sich sehr freute, heute wieder mit ihm zu spielen. Seit der Premiere hatte sich ihr Zusammenspiel verbessert und Jan schätzte die junge Kollegin sehr. Obwohl sie kaum Erfahrung hatte, strahlte sie eine ungeheure Ruhe aus, war immer unaufgeregt und konzentriert.
Die Matinee war gut besucht und Jan fand sich schnell wieder hinein. In der Pause nutzte er die Gelegenheit nochmal mit David zu sprechen, der von seinem Abenteuer im Zoo schwärmte. Isabelle war mit Ihrem Bruder und dessen Freundin unterwegs gewesen und der Kleine hatte einen schönen Tag mit ihnen gehabt. Zudem hatte sie dem Kleinen erklärt, dass er nur noch ein paar Mal schlafen musste, eher er seinen Papa wiedersehen würde. Die kindliche Vorfreude rührte Jan. Auch er selbst hatte ja große Sehnsucht und es brach ihm das Herz, als der Kleine ihm sagte, wie lieb er ihn hatte.
Nachdem er aufgelegt hatte, durchwühlte er die Schublade in seiner Garderobe. Doch er fand nur die pflanzlichen Stimmungsaufheller aus der Apotheke. Davon hatte er schon genommen, ehe er das erste Mal an diesem Tag auf die Bühne getreten war. Er hatte auch hier keine Beruhigungs- oder Schmerztabletten mehr. Unruhig kontrollierte er auch nochmal das Regal und Jackentaschen, musste aber einsehen, dass er auf dem Trockenen saß. Hoffentlich hatte er später Glück und traf diesen Kerl in der Kneipe an. Den Arzt hier konnte er keinesfalls nochmal fragen. Mit zitternden Händen öffnete er eine Wasserflasche und trank einen großen Schluck. In einer halben Stunde begann die zweite Show, dann hatte er zwei Tage frei. Noch immer hatte er zwei Möglichkeiten und Jan wog im Kopf ab, was er tun sollte. Entsprechend unkonzentriert war er dann auf der Bühne. Femke wirkte verwirrt, als er das ein oder andere Mal seinen Einsatz verpasste.
Robert nahm Jan in der Pause beiseite und wollte wissen, was los war.
"In der ersten Show war doch alles prima. Was hast du?" Doch Jan zuckte mit den Schultern. Beantworten konnte er die Frage nicht. Ja, er war abgelenkt und fand keinen Rhythmus. Aber er konnte ja kaum sagen, dass ihm für eine bessere Leistung die richtigen Medikamente fehlten.
"Bist du noch nicht richtig fit, sollen wir Gregor rausschicken?", wollte Kevin nun wissen, während auch Ariane zu ihnen trat. Sie musterte ihn, wie er da stand. Mit leicht gehetztem Blick, zitternden Händen und wie er sich immer wieder verstohlen die Unterarme rieb. Jan warf ihr nur einen flüchtigen Blick zu.
Das Angebot war verlockend. In der Tat fühlte er sich unwohl. Langsam nickte er.
"Gut." Robert ließ die beiden zurück um Gregor zu informieren. Ariane griff nach Jans Hand.
"Was ist los? Du stehst ja gerade völlig neben dir?", erkundigte sie sich und Jan konnte die echte Sorge in ihrer Stimme hören.
"Kreislauf", meinte er nur knapp. Hoffentlich akzeptierte sie dies einfach. Er wollte nicht mit ihr diskutieren, sondern so schnell wie möglich hier raus. Ihm wurde der Raum zu eng und er sehnte sich nach frischer Luft.
"Jan, mach bitte keinen Blödsinn", sagte sie leise, als er sich umwandte, um in seine Garderobe zu gehen. Sie sah ihm noch nach, wie er hinter der Tür verschwand, dann ging sie seufzend in Richtung Bühne. Ein seltsames Gefühl aber, das blieb zurück.
Zügig hatte Jan das Theater verlassen und an der frischen Luft beruhigte er sich etwas. Er betrat die Kneipe, sah sich um und konnte den Kerl nicht entdecken. Mißmutig setzte er sich an die Bar. Der Wirt sah ihn erwartungsvoll an, doch Jan bestellte sich nur ein Wasser. Noch traute er sich nicht, Alkohol zu trinken. Sein Magen reagierte noch immer sehr empfindlich. Nach einer halben Stunde zahlte er und wollte gerade gehen, als der Unbekannte herein kam. Erleichtert trat Jan auf ihn zu und schilderte sein Anliegen. Immerhin konnte er etwas zur Entspannung direkt bekommen. Wie beim letzten Mal wickelten sie den Kauf schnell und unauffällig ab. Mehr, so sagte der Andere, würde er erst besorgen müssen, sah darin aber kein Problem. Flüsternd bot er Jan auch andere Stoffe an, doch Jan schüttelte den Kopf. Sie einigten sich auf einen Preis und fünf Minuten später schob Jan den Schlüssel in sein Türschloss.
Kaum, dass er in der Wohnung war, vibrierte sein Handy. Isabelle hatte eine Nachricht geschickt und er betrachtete mit schwerem Herz das Foto von seinem Sohn, der darauf friedlich schlief. Dazu hatte Isabelle einen kurzen Text geschrieben und wünschte ihm eine gute Nacht. Jans Entschluss geriet ins Wanken. Noch ehe er zu Ende gedacht hatte, steckte er eine der eben erstandenen Pille in seine Jackentasche, warf das Tütchen mit den restlichen Tabletten in die Schublade unter dem Herd und griff nach seinem Autoschlüssel. Eilig verließ er das Haus und betrat den Parkplatz hinter dem Haus.
Jan warf die Jacke in den Kofferraum, verstaute die Geldbörse in der Mittelkonsole und dockte das Handy in der Halterung an. Dann startete er den Motor und fuhr auf die fast leere Straße. Das Navi hatte schon gerechnet und nannte ihm eine Fahrzeit von dreieinhalb Stunden. Erst an der zweiten Ampel zögerte er wieder. Was machte er denn hier? Wenn er jetzt nach Hause fuhr, um die nächsten beiden Tage mit Isabelle und David zu verbringen, würde es nur schlimmer werden. Für alle. Hinter ihm hupte es und Jan fuhr erschrocken zusammen. Es war Grün geworden und er steuerte den Wagen auf die Straße in Richtung Autobahn. Die nächste Entscheidung fällte er innerhalb von Sekunden. Mit einem Ruck nahm Jan die Hände vom Lenkrad und schloss die Augen. Der Wagen geriet ins Schlingern und gleichzeitig raste Jans Herz. Fest kniff er die Augen zusammen und wartete.