In seiner Brust war kein Platz.
Jedes Wort riss ein weiteres Stück aus seinem Herzen.
Er bekam keine Luft.
Die Worte brauchten immer länger, bis er sie verstand.
Ihm wurde kalt.
Dann heiß.
Wieder kalt.
Ein Rauschen in seinen Ohren.
Nebel vor seinen Augen.
Ein Surren so laut, dass er dachte, sein Kopf würde explodieren.
Schweiß.
Überall.
An den Händen.
Auf der Stirn.
Er lief ihm den Rücken herunter.
Sein Mund ganz trocken.
Der Geschmack von Galle.
Übelkeit.
Sein Herz raste.
Er dachte, es würde zerspringen.
Er glaubte nicht, dass er das überleben würde.
Endlich schwieg der Kleine.
Er brauchte Luft.
Warum war da keine frische Luft?
Wieso machte keiner das Fenster auf?
Der Schweiß wurde kalt.
Das Zittern ging durch seinen ganzen Körper.
Er höre, wie seine Zähne aufeinanderschlugen.
Das durfte einfach nicht sein.
Jan wollte weg.
Aber seine Beine gehorchten ihm nicht.
Sein ganzer Körper machte, was er wollte.
Wieder schnappte er nach Luft.
Ganz verzerrt drangen die Stimmen einer Eltern an sein Ohr.
Aber wo war sie?
Er schlug um sich, als er berührt wurde.
Das durfte niemand.
Nur sie.
Keuchend sah er sich um. Alles drehte sich so schnell.
Er konnte seinen Blick gar nicht fixieren.
Sein Brustkorb schmerzte, ebenso der Kopf.
Überall juckte es.
Wie Tausende von Ameisen.
Weg.
Er musste weg.
Verzweifelt versuchte er, nach ihr zu rufen.
Aber auch das gelang ihm nicht.
War sie weg?
Aber warum?
Sie hatte es doch versprochen.
Im ersten Moment hatte er keine Ahnung, wo er sich befand. Hämmernde Kopfschmerzen begleiteten seine Aufwachphase. Dazu hatte er einen seltsamen, trockenen Mund. Er lag auf der Seite. Mit dem Blick zum Fenster. Vorsichtig öffnete er seine Augen. Nur um sie sofort wieder zu schließen. Das helle Licht schmerzte und verstärkte den Druck im Kopf. Er kniff die Augen fest zusammen. Langsam ließ das zusätzliche Stechen nach.
Jan traute sich kaum, sich zu bewegen. Seine Glieder fühlten sich schwer wie Blei an. Nochmal versuchte er, die Augen zu öffnen. Diesmal langsamer, nach und nach. Das Fenster war geöffnet, die Vorhänge zugezogen. Dennoch drang genug Licht in den Raum. Auf dem Nachttisch stand ein Glas Wasser und eine halbvolle Flasche. Daneben lag eine Medikamentenpackung. Jan rollte sich behutsam auf den Rücken. Sofort beschwerte sich sein Kopf und ihm wurde schwindlig. Während er sich darauf konzentrierte, dass er nicht zu wild Achterbahn fuhr, sammelte er seine Gedanken. Nur bruchstückhaft kehrten Erinnerungsfetzen zurück.
Davids Bild.
Seine Erklärungen dazu.
Jan presste die Lippen aufeinander.
Dennoch entfuhr ihm ein Laut.
Langsam setzte sich das wirre Puzzle in seine Kopf zusammen.
Seine Angst.
Der Panikanfall.
Sein Vater, der versuchte in zu beruhigen.
Er, der nach Isabelle verlangt hatte.
Weil nur sie ihm Halt geben konnte.
Wieder sein Vater, der ihn zwang, ihn anzusehen.
Mit ihm zu kommen.
Durchzuatmen.
Erst, als er dachte, er würde es nicht länger aushalten, war sie da gewesen.
Hatte ihn gehalten und getröstet.
Ihm versprochen, dass alles gut werden würde.
Dann die Alpträume in der Nacht.
Die kaum auszuhalten gewesen waren.
Schlimmer als zuvor.
Überfallartig, kaum dass er die Augen geschlossen hatte.
Seine Mutter, die bei ihm gesessen hatte.
Wie gerne hätte er ihr das erspart.
Wo war Isabelle in diesem Moment nur gewesen?
Ihm kam in den Sinn, dass sie ihm irgendwann Tabletten gegeben hatte.
Danach wurde es dunkel.
Und erst jetzt wieder hell.
Stöhnend versuchte er sich aufzusetzen.
Er griff nach dem Wasserglas und nahm einen großen Schluck. Fast konnte spüren, wie die Flüssigkeit durch seinen Körper lief. Er atmete langsam ein und aus, schwang die Beine aus dem Bett und wartete, bis der erneute Schwindel besser wurde. Doch noch ehe er aufstehen konnte, öffnete sich die Tür.
"Du bist ja wach, wie schön", meinte Isabelle, ehe sie sich neben ihn setzte.
"Hey", murmelte er. Prüfend sah Isabelle ihn an.
"Wie fühlst du dich? Wir haben dir heute Nacht zum Schlafen etwas mehr geben müssen. Das kann zu Lasten des Kreislaufs gehen, aber du hast uns ganz schön erschreckt. Und du hast wirklich getobt."
Betrübt streichelte sie ihm über die Wange.
"David?", fragte Jan matt. Über Isabelles Gesicht huschte ein Lächeln.
"Der hat sich erschrocken, weil du so heftig auf seine Erzählung reagiert hast. Aber Anke und Martin haben ihn gut abgelenkt. Er hat dann auch bei Martin und Nele geschlafen. Mach dir keinen Kopf, heute morgen war er schon wieder fröhlich und dein Bruder nimmt ihn später mit zum Fußballtraining der Bambinis."
Verwirrt sah sich Jan um. "Wie spät ist es denn?", wollte er wissen.
"Kurz nach Zwei", erklärte sie. "Dein Vater macht gerade den Wochenendeinkauf. Anke ist mit David nochmal auf dem Ponyhof. Unten wartet Suppe auf dich. Nach der Nacht wollten wir dir die Chance zum Ausruhen geben", fuhr sie fort. "Es war schlimm, oder?", fragte sie flüsternd. Jan konnte nur nicken.
"Okay."
Sie streichelte über seinen Arm und seinen Rücken. Mit kratziger Stimme erklärte Jan, dass er Kopfschmerzen hatte. Isabellebrachte ihm eine Tablette und setzte sich wieder zu ihm.
Leise erzählte sie ihm, dass sich Heike gleich Montag um seinen Sohn kümmern würde. Jan hatte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt und sich an sie geschmiegt.
"Er ist so tapfer", meinte er heiser. Isabelle nickte.
"Er ist fantastisch. Ein echter Kämpfer", lächelte sie. Dann wurde sie ernst. "Dass David das so gut beschreiben kann, finde ich bemerkenswert. Aber, er hat natürlich keine Ahnung, was genau vorgefallen ist. Und er könnte es in seinem Alter noch nicht verstehen." Sie machte eine kleine Pause. Jan hörte ihr geduldig zu. "Was er aber sehr wohl versteht ist, dass du große Angst hattest. Dass du leidest. Und ich denke, David versteht auch, dass du deswegen krank bist. Und natürlich beschäftigt ihn das." Sie streichelte ihm über das Gesicht.
"Wird Sina aussagen?", fragte Jan. Isabelle zuckte mit den Schultern. Sie hatte Alex eine Fotografie des Bildes geschickt und der hatte Dianas Schwester damit konfrontieren wollen. Noch aber hatte sie nichts wieder von ihm gehört.
"Sie hat es gewusst. War mit im Haus.....", sagte er dann bekümmert. Nickend gab ihm Isabelleeinen Kuss auf die Wange.
"Wir müssen David helfen", meinte Jan leise.
Isabelle streichelte ihm über den Rücken.
"Er braucht einen gesunden Papa. Die Gewissheit, dass es dir gut geht. Also diskutiere bitte nicht mehr über diese Klinik. Tu es für Dabid, wenn du es schon nicht für dich selbst oder mich tust. Ich verspreche dir, dass ich mich gut um den Kleinen kümmern werde. Wir alle tun das."
Jan hatte seine Arme um ihre Hüfte geschlungen.
"Ich brauche dich", sagte er mit kratziger Stimme. Nochmal streichelte Isabelle ihm über das Gesicht. Wieder fieberte er, wie so oft nach langen und unruhigen Nächten.
"Ich weiß. Und ich bin da." Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. Dann nahm sie seine Hand und führte diese an die Stelle ihrer Brust, an der ihr Herz schlug. "Hier drin bist du. Und ich bin in deinem Herz. Immer. Auch wenn ich nicht bei dir sein kann", sagte sie mit fester Stimme. Sie verharrten eine Weile, dann konnte sie ihn überzeugen aufzustehen, zu duschen und mit ihr in die Küche zu kommen.
Tatsächlich hatte sich Jan hungrig über die Suppe hergemacht. Es tat gut, etwas in den Magen zu bekommen, ausnahmsweise quälte ihn nicht sofort ein Brechreiz. Der Schwindel wurde besser und Jan zog sich anschließend zu einem langen Telefonat mit Dr. Funk zurück. Auch dieses Gespräch half ihm, er musste unbedingt über diese Panikattacke sprechen. Jan war furchtbar kalt. Noch immer quälte ihn dieser Juckreiz und auch das Fieber stieg am Nachmittag wieder. Mit David kuschelte er ein bisschen in der Bibliothek, ehe Martin den Kleinen abholte. Seine Mutter hatte ihm eine dicke Decke rausgesucht und mit ihrem Hausarzt telefoniert. Offenbar hatte der sich mit der Therapeutin abgestimmt, so genau bekam Jan das alles dann gar nicht mit. Nur, dass Dr. Niehues irgendwann da war, ihm etwas spritze und sich daraufhin in ihm alles ein wenig beruhigte.
Er musste geschlafen haben. Es war isabelle, die ihn vorsichtig weckte.
"Du hast einen Platz", informierte sie ihn behutsam
Jan kam in den Sitz und zwinkerte.
Das war schneller gegangen, als er gedacht hatte.
"Dr. Funk hat dich heute morgen nochmal neu priorisiert und nach eurem Gespräch herumtelefoniert. Wir können uns morgen die Ludgeri Klinik bei Münster ansehen und ein Aufnahmegespräch führen."
Das waren Jan zu viele Informationen auf einmal. Wie morgen? Musste er dann schon bleiben? Er schluckte schwer und griff nach Isabelles Hand. Die lächelte aufmunternd.
"Schau, ganz hier in der Nähe. Laut Nele hat die Einrichtung einen hervorragenden Ruf. Bis Mittwoch musst du dich entscheiden. Morgen haben wir einen Termin dort. Der Leiter ist wohl ein Studienkollege von deiner Therapeutin und sie hat ihm alle Unterlagen schon geschickt."
Jan wusste gar nicht, was er jetzt noch sagen sollte. Angst. Er hatte furchtbare Angst und hätte sich am liebsten nur die Decke über den Kopf gezogen und versteckt. Musste er das jetzt entscheiden?
Isabelle sah ihn schweigend an. Dann rückte sie näher.
"Jan, jetzt wird alles gut. Dort wird dir geholfen werden", sagte sie.
Sie fuhr mit einem Finger über seine Wange.
"Liebling, du schaffst das", schob sie nach.
Jan zog sie einfach nur in seine Arme, sein Herz schlug viel zu schnell.
Allein die Vorstellung, dass er sie für einige Woche nicht sehen, spüren, riechen, halten durfte, machte ihn traurig.
Auf einmal wollte er unbedingt nur sie und David um sich haben.
Für immer, für den Rest seines Lebens.
Beruhigend, weil er zu zittern begonnen hatte, streichelte ihm Isabelle über den Rücken. Sie legte viel Hoffnung und viel Fröhlichkeit in ihre Stimme. Machte ihm Mut und malte sich die Zukunft aus. Die neue Wohnung, wenn er dann entlassen werden würde. Ihr Neubeginn. Am Tag zuvor hatten sie sich zwei Exposes angesehen, die Alex geschickt hatte. Beide Vorschläge wären im Viertel, in dem sie auch jetzt lebten. Jan hatte Isabelle die Entscheidung und freie Hand überlassen.
Jetzt fuhr sie über die Narben und noch nicht verheilten Schnitte und Wunden an seinem linken Unterarm. Betrachtete nachdenklich sein Gesicht. Sah ihm dann ruhig in die Augen. Bis auf seine Seele.
"Isa, du wartest doch, oder?", wollte er mit belegter Stimme wissen.
Ganz sanft legten sich ihre Lippen auf seine.
"Jetzt, wo wir zusammen so weit gekommen sind, gehe ich doch nicht einfach. Wo denkst du hin? Ich liebe und glaube an dich. Du nimmst dir jetzt bitte diese Zeit. Ich warte auf dich, David, deine Eltern, deine Freunde. Niemand, der dich wirklich liebt, lässt dich ausgerechnet jetzt fallen." Isabelle lehnte sich an ihn. "Es wird alles gut, Jan. Es wird schmerzhaft und vermutlich intensiv werden. Aber da sind Profis, die wissen wie sie dich begleiten, wann sie dich fordern und auffangen müssen. Du hast nur einen Job: gesund werden. Physisch wie psychisch."
Lautlose Tränen liefen ihm über das Gesicht. Wie machte sie es nur, dass sie ihm immer wieder diese hellen Tupfen in seine Dunkelheit schickte? Er war so unglaublich müde und erschöpft, dennoch vermochten ihre Worte, dass er sich spüren konnte. Irgendwo war in dieser Hülle aus Schmerz, Scham und Müdigkeit noch er selbst. Und er wollte da raus.