Das psychologische Krisenzentrum hielt eine Reihe von Sofortmaßnahmen bereit, unter anderem eine erste telefonische Beratung. Lars Martin engagierte sich seit bereits acht Jahren in dieser Organisation und war einer der Notfallkontakte, die an diesem Nachmittag Dienst hatten. Zu seinen Aufgaben gehörte es, dem Anrufer zuzuhören, die Lage deeskalierend zu begleiten und einzuschätzen sowie nach Möglichkeit weitere Maßnahmen zu ergreifen. Dafür konnte er in seinem System jederzeit sehen, wie viele Notfallplätze für Akutgespräche zur Verfügung standen oder wo sich eines der Teams befand, das auch mobil vor Ort helfen würde, falls Gefahr im Verzug war.
Über 14.000 Anrufe nahm die Telefonbereitschaft pro Jahr an. Lars Martin war gerade 50 geworden und bereits seit 12 Uhr in der Leitstelle. Vor einer halben Stunde hatte er ein sehr schwieriges Telefonat beendet und dann doch ein mobiles Team losgeschickt. Danach hatte er sich eine Pause gegönnt. Die Leitstelle war gut besetzt und er trank einen Kaffee, ehe er an die Anruferin dachte, die er schon oft gesprochen hatte. Manche Schicksale gingen ihm näher als andere und die Jugendliche tat ihm leid. Er hoffte, dass sie über das Krisenteam vor Ort passende Unterstützung erhielt. Er räumte seine benutzte Tasse in die Spülmaschine und steckte das Headset wieder an. Langsam schlenderte er zurück in den Raum und setzte sich an seinen Platz, drückte zwei Tasten um sich wieder anzumelden und meldete sich nur Sekunden später routiniert, als der nächste Anrufer durchgestellt wurde.
Konzentriert checkte Lars Martin während des Telefonats die Auslastung der Anlaufstellen in Wohnortnähe des Anrufers. Bei möglicher Suizidgefährdung zählte immer die Zeit. Er wog die Lage kritisch ab, zwei unentdeckte Versuche hatte sein Gesprächspartner bereits hinter sich. Zeitgleich behielt er die mobilen Teams im Auge, die derzeit alle unterwegs waren. Leider keines in unmittelbarer Nähe. Durch zielgerichtete Fragen konnte er ungefähr einschätzen, wo sich der Mann befand.
Nach eigener Aussage war er in seiner Wohnung, allein. Lars Martin betrachtete die Karte, am nächsten dran war die Leitstelle. Auch hier wurden Notfallgespräche geführt, ein Notarzt war immer abrufbereit, dazu ein Fundus von bis zu acht Psychologen auf Bereitschaft und er selbst würde das Gespräch auch übernehmen können. Parallel hielt er das Telefonat am Laufen, signalisierte dem Gesprächspartner, dass er zuhörte und versuchte einfühlsam, mehr zu erfahren. Wie immer legte er einen Kontaktbogen an und ergänzte Informationen, die er erhielt. Das Programm war in der Lage, in Sekundenbruchteilen anhand markanter Eckdaten zu prüfen, ob es sich um einen wiederholten Anrufer handelte oder um einen Erstkontakt.
Einige Angaben musste Lars Martin zunächst schätzen, doch er konnte sich zu 98% darauf verlassen, als ihm das System keinen Treffer meldete. Warum sich so viele Menschen erst so spät oder oft fast zu spät Hilfe holte, konnte er nicht immer verstehen. Mit einigen sprach man tatsächlich öfter, erlebte mit, wie sie in der Spirale abwärts fest hingen und konnte rechtzeitig eingreifen. Schwer waren Fälle wie dieser, wenn jemand schon ganz unten war und zügig überzeugt werden musste, sich nichts an zu tun. Und oft konnten dann nur die Kollegen helfen, die er losschicken musste. Sofern er dann den tatsächlichen Aufenthaltsort in Erfahrung bringen durfte. Eine Handyortung mussten sie von Fall zu Fall beantragen und dauerte leider oft zu lang, auch wenn die Schnittstellen eng waren. Noch war er hier hin- und hergerissen. In seiner Praxis hatte er bisher nur zweimal mit ähnlich gelagerten Fällen zu tun gehabt. Bisher jedenfalls, hatte der Anrufer noch stockend erzählt, was genau ihn beschäftigte, aber er zwei mißglückte Suizidversuche sprachen eine eindeutige Sprache. Auf einen dritten wollte es Lars Martin nicht ankommen lassen.
*
Das Sprechzimmer war in sanften Tönen gehalten und die Ruhe übertrug sich auch auf Jan. Wie er nach dem einstündigen Telefonat dann hierher gefunden hatte, konnte er kaum sagen. Sein Gesprächspartner, der ihn mit ruhigem Ton geführt hatte, machte irgendwann den Vorschlag. Entweder kam Jan in die Anlaufstelle oder er würde ein Team zu ihm schicken. Erst da hatte Jan realisiert, was er alles erzählt hatte. Nun saß ihm der ältere Mann gegenüber. Neugierig musterte er ihn. Er sah nicht aus, wie sich Jan einen Therapeuten vorgestellt hatte. Sein Kopf war kahl, er trug eine modische schwarze Brille und einen Vollbart. Letzterer stand so in einem völlig Kontrast zu seinem Haupthaar, dass Jan seinen Blick kaum abwenden konnte. Zwei wache, blaue Augen sahen ihn an.
Er hatte sich als Lars Martin vorgestellt und es war derjenige, mit dem Jan schon telefoniert hatte. Bekleidet mit hellen Jeans und einem Polohemd saß er in seinem Sessel und musterte seinerseits Jan. Der fühlte sich unsicher, ob dem, was er gerade tat. Das eine war es gewesen, anonym am Telefon mit jemanden zu sprechen. Etwas ganz anderes war es jedoch, nun jemandem gegenüber zu sitzen. In diesem Gespräch hatte Jan aber gespürt, und nur deswegen saß er nun hier, dass man ihm zuhörte und ihn ernst nahm. Und er wurde nicht verurteilt für das, was er getan hatte.
"Ich finde es sehr gut, dass Sie hier her gekommen sind. Ein sehr wichtiger erster Schritt", bekräftigte Lars Martin nun. Jan sah auf seine Schuhspitzen. Noch fühlte sich dieser erste Schritt aber nicht gut an.
"Wissen Sie was, wir machen jetzt erstmal eine Entspannungsübung. Würden Sie sich drauf einlassen?", wurde er dann gefragt. Während Jan sich auf dem Sofa ausstreckte, erklärte Lars Martin, dass er in erster Linie Heilpraktiker war. Er würde Jan gerne zunächst helfen, Ruhe in sich zu finden und ihn als erstes soweit stabilisieren, dass er weg von den Suizidgedanken kam. Was nicht von heute auf morgen passieren musste, wie er betonte.
"Vertrauen Sie mir, wir haben hier schon vielen Menschen helfen können, die ähnlich verzweifelt waren wie Sie", schloss er die Rede ab und reichte Jan eine Decke. Was hatte er schon zu verlieren? Jan konzentrierte sich auf die Stimme des Mannes, die entspannende Musik, die auf einmal leise zu hören war und schloss die Augen. Er konnte spüren, dass der Andere ab und an um ihn herum ging, ansonsten herrschte viel Schweigen. Erst irritierte Jan dies, doch plötzlich konnte er spüren, wie etwas in ihm aufgab und er sich tatsächlich fallen lassen konnte.
Fast war er enttäuscht, als Lars Martin ihn bat, sich langsam aufzusetzen. Beinahe eine Stunde war vergangen.
"Wie fühlen Sie sich?", wurde er gefragt.
Während Jan in den Sitz kam, dachte er nach. "Ein bisschen Druck ist weg", gab er zu. Der Andere lächelte.
"Ich habe versucht, es ein wenig aufzuweichen. Da tobt ganz schön viel in Ihnen. Das wird Zeit und Geduld brauchen."
Er blickte auf seinen Notizblock. Da hatte Jan also richtig gehört, er hatte ab und an das leichte Kratzen des Kugelschreibers wahrgenommen. Dann erklärte ihm der Heilpraktiker, welche Zusatzausbildung er hatte und was er damit tun konnte. Fasziniert hörte Jan ihm zu und er wusste, hätte er das vor dieser Übung erfahren, er hätte es als Humbug abgetan. Doch gerade hatte er es ja gespürt und noch immer fühlte er sich etwas befreiter.
"Ich würde gerne mit Ihnen arbeiten."
Jan nickte.
"Aber nicht alleine. Das, was Sie erlebt haben, muss durch einen Spezialisten begleitet werden." Aus seiner Hosentasche zog Jan die Visitenkarte, die ihm Alex gegeben hatte. Er würde es nie zugeben, aber er hatte die Karte in den letzten Tagen immer bei sich gehabt. Nun reicht er sie weiter.
"Eine sehr gute Kollegin, die sehr viel Zeit hier bei uns verbringt", wurde ihm bestätigt.
"Sie wartet auf meinen Anruf, ich hätte eigentlich gestern dort erscheinen müssen, aber durch, nun ja...", meinte Jan leise. Wissend stand der Andere auf.
"Ich habe schon oft mit Frau Funk zusammengearbeitet. Lassen Sie mich mit ihr sprechen." Nun griff er nach seinem Terminkalender. "Ich würde das gerne die nächsten Tage noch eng takten. Morgen und am Feiertag ein Telefonat und Samstag ein Termin hier?", fragte er dann. Jan nickte zögerlich. "Dann stimme ich ab, ob Frau Funk dabei sein kann, ist Ihnen das recht?" Stirnrunzelnd sah er Jan an, der sich etwas in seinen Gedanken hatte treiben lassen.
"Herr Lehmann, wir tun nichts, was Sie nicht möchten. Aber wir sind dafür da, Ihnen zu helfen. Und ich kann Sie nicht gehen lassen, wenn ich das Gefühl habe, dass Sie die nächstbeste Möglichkeit für einen neuen Versuch nutzen." Beschämt senkte Jan den Kopf. In ihm herrschte noch immer ein großes Durcheinander.
"Ich gebe Ihnen für heute und morgen noch was für die Nacht mit." Er reichte ihm eine kleine Pillendose. "Wir machen einen Schritt nach dem anderen. Erst mal holen wir Sie aus dem Strudel und dann erst gehen wir das Problem an." Wieder wurde Jan genauestens gemustert.
"Sie sollten ihrer Freundin alles erzählen. Sie wird ein wichtiger Teil der Therapie werden." Jan zog seine Unterlippe zwischen die Zähne und nickte wieder. Er hatte nur noch keine Ahnung wie.
Am Telefon jedenfalls nicht. Als er geschafft von dem Tag wieder auf dem Sofa lag, rief er zwar Zuhause an, erzählte aber nicht, wo er gewesen war. Und Isabelle, die spürte, dass er etwas auf dem Herzen hatte, beschloss, dass sie in den nächsten Tagen besser von Angesicht zu Angesicht sprechen konnten. Sie hatte schon gepackt und würde direkt nach dem Frühstück losfahren. Jan lag noch lange wach und überlegte, wie er es ihr gestehen sollte. Ihm war klar, wenn er das vernünftig schaffen wollte, dann brauchte er sie und dazu musste er schonungslos ehrlich zu ihr sein.
Er fürchtete, dass sie ihm die Lügen der letzten Woche nicht verzeihen würde und erkannte erstmals, dass er an ihrer Stelle zutiefst enttäuscht wäre. Spät schrieb er Ariane eine kurze Nachricht, aber sie sollte wissen, dass er ihr zugehört hatte. Erst dann nahm er das Medikament und kroch unter die Decke. Er hatte Angst vor der Therapie, das war die Wahrheit. Angst davor, dass er zusammenbrechen würde, wenn er schildern sollte, was genau passiert war.
Lars Martin war ihm sympathisch. Er hatte durchaus das Gefühl, dass er ihm vertrauen konnte. Wie wohl die Ärztin war? Würde er es einer Frau erzählen können? Über all seine Gedanken schlief er und wachte tatsächlich erst am Folgemorgen wieder auf.
Isabelle hatte schon geschrieben, dass sie unterwegs war. Unruhig lief Jan durch die Wohnung und versuchte Ordnung zu schaffen, was ihn tatsächlich beinahe überforderte. Mittlerweile kam es ihm vor, als würde er alles überstürzen. Woher sollte er die Kraft nehmen? War er fähig zu kämpfen? War das nicht zu viel? Ehe es sich Jan versah, liefen seine Gedanken Amok. Er saß auf dem Balkon und rauchte eine Zigarette, während er versuchte, sich zu sortieren. Dann griff er zum Telefon und zögerte kurz. Doch dann wählte er die Nummer von Lars Martin und wartete. Der Heilpraktiker nahm nach dem dritten Klingeln das Gespräch an und ließ Jan einfach nur reden. Und er brachte ihn mit seiner beruhigenden Art dazu, sich zu entspannen.
"Sehen Sie sich nicht den ganzen Berg an. Das nützt nichts. Niemand erwartet, dass Sie bis morgen alles gelöst haben", empfahl er ihm. Er bot ihm an, ihm ein bisschen Mut auf den Weg zu geben, was Jan mit geschlossenen Augen annahm. Das Lob, das er erhielt, weil er sich gemeldet und darauf eingelassen hatte, tat ihm gut. Und wirklich, er spürte sofort wieder, wie etwas Druck abfiel und er besser atmen konnte. Ja, erst einmal musste er mit Isabelle sprechen. Und darauf, nur darauf musste er sich konzentrieren. Er wollte sie nicht verlieren. Das wurde ihm immer klarer. Er vereinbarte mit Lars Martin eine Zeit für den Karfreitag und legte dann wieder auf. Tatsächlich war es ihm gar nicht so schwer gefallen, sich ihm anzuvertrauen, wie er befürchtet hatte. Mit einem Lächeln im Gesicht sah er auf, als die Wohnungstür auf ging.
David war glücklich in Jans Arme gelaufen und Isabelle hatte verstohlen beobachtet, wie sich Vater und Sohn liebevoll begrüßten. Der Junge erzählte pausenlos, als er auf Jans Schoß in der Küche saß, während Jan sichtlich bewegt mit den Tränen kämpfte. Unterwegs hatte sie eingekauft und räumte nun die Lebensmittel weg. Im Vorbeigehen wuschelte sie David durchs Haar und gab Jan einen Kuss auf die Stirn. Das Pflaster dort war schon deutlich kleiner, als noch in der Klinik. Der Kleine hatte sich an seinen Vater gekuschelt und genoss es sichtlich, dass sie wieder zusammen waren. Jan schob ihn sich etwas zurecht, damit er ihm an den Blutergüssen nicht zu sehr weh tat.
Isabelle klappte die Einkaufsbox zusammen und lehnte sie an die Wand. Ihr Vorschlag zu einem Spaziergang zum Spielplatz wurde angenommen, David brauchte nach der langen Fahrt dringend Bewegung. Und auch Jan nickte. Es war sonnig und mild draußen. Sie spazierten raus aus der Innenstadt in den Park, den Jan vor Wochen entdeckt hatten und der Kleine tobte ausgelassen über die Wiesen. Wie selbstverständlich griff Jan nach Isabelles Hand und sie gingen gemütlich weiter. Den Jungen hatte sie immer im Blick und als sie den Spielplatz erreichten, stürmte er jubelnd auf die Klettergerüste und Schaukeln zu.
Alle Bänke waren besetzt, so dass sie in einer kleineren Entfernung stehen blieben. Der leichte Winde hatte längst ihre Haare zerzaust, so dass sie in ihrer Tasche nach einem Haargummi suchte. Als sie sich den Zopf gebunden hatte, zog Jan sie zu sich. Sie schmiegte ihr Gesicht an seine Brust und zog den vertrauen Duft ein. Sie spürte seinen Herzschlag und fühlte sich ihm so nah, wie sehr lange nicht. Erst ein Rufen Davids holte sie aus ihrer Intimität, was Isabelle sehr bedauerte. Verlegen sammelte sie sich, während Jan seinem Sohn winkte, der von der Rutsche aus gerufen hatte. Sie ließen ihn toben, bis er hungrig war, kehrten in einen Biergarten ein und aßen dort mit dem Kind Schnitzel und Pommes. Auf dem Rückweg spendierte Isabelle ein Eis, welches David selig verspeiste.
Der Tag war friedlich, getragen von positiven Gefühlen und am frühen Abend genoss Jan seine Rolle als Vater. Er badete David nach dem Abendbrot und brachte ihn danach ins Bett. Geduldig laß er ihm vor und wartete, bis er eingeschlafen war. Liebevoll betrachtete er das schlafende Kind. Es war gut, dass er ihn wieder bei sich hatte. Seufzend erhob sich Jan aus dem Bett und löschte die Lichter. Dann ging er nach nebenan, ließ das Babyphone auf dem Couchtisch liegen und sah Isabelle an, die mit einem Buch auf der Schlafcouch lag.
Lange hatte er gehadert, wie er das Gespräch beginnen sollte. Nun griff er nach seinem Laptop und setzte sich auf den Boden. Dann räusperte er sich und lenkte Isabelles Aufmerksamkeit auf sich. Und sie hatte es geahnt. Unterschwellig hatte sie gespürt, dass er etwas loswerden wollte. Sie klappte ihr Buch zusammen, kam in den Sitz und nickte ihm zu. Zitternd reichte er ihr ein Blatt Papier und sah sie mit traurigen Augen an.
"Bitte, verurteile mich jetzt nicht", bat er leise.