Jan stand am offenen Fenster und blies den Rauch aus. Dann drückte er die Zigarette aus und wandte sich langsam wieder Alex zu.
Der deutete auf den Pizzakarton vor sich.
"Magst du wirklich nichts mehr?"
Jan schüttelte den Kopf. Er hatte immerhin drei Stücke herunter gekämpft. Allein der Gedanke an mehr, hob seinen Magen ein Stück. Sie hatten gemeinsam die Presseaktion des Theaters durchgesprochen und die Interviewfragen bearbeitet. Sie waren gut voran gekommen und zu Jans großer Erleichterung kamen sie langsam zum Ende. Er musste bald ans Theater.
Alex nahm sich noch von der Pizza, dann räusperte er sich.
"Ariane meinte, dass das nicht deine erste Nacht in der Garderobe war", meinte er fast beiläufig. Jan drehte sich wieder zum Fenster und kratzte sich über die Stelle am Unterarm, die ihn seit Tagen mit Juckreiz quälte.
"Nein", antwortete er nur. Daraufhin konnte er Alex seufzen hören.
"Hast du über meinen Vorschlag nachgedacht?"
Jan atmete tief durch und nickte.
"Und?", fragte Alex erstaunt. "Wirst du dich um Hilfe kümmern?" Wieder nickte Jan leicht, blieb aber ansonsten in unveränderter Haltung stehen. "Dann habe ich eine gute Neuigkeit für dich. Wir haben jemanden hier in München empfohlen bekommen. Dienstag Vormittag könntest du dort einen ersten Termin wahr nehmen. Frau Jäger hat ihre Beziehungen spielen lassen."
Mit einem Ruck wandte sich Jan nun doch um.
"Wer hat mit der Jäger gesprochen?", zischte er.
Abwehrend hob Alex seine Hände.
"Das tut doch nichts zur Sache, Jan. Wir haben hier jemanden vor Ort und es kann beinahe sofort los gehen, Ist dir eigentlich klar, wie lange du ansonsten auf einen Termin warten kannst?"
Betont langsam ging Jan zur Spüle und füllte ein Glas mit Wasser. Auf dem Tisch hatte Alex mehrere Broschüren und eine Visitenkarte platziert.
Psychologisches Krisenzentrum.
Notfallnummern.
Die Kontaktdaten einer Dr. Funk.
Jan warf nur einen flüchtigen Blick darauf, als er sich an den Tisch setzte.
Dann schob er alles unter seinen Laptop.
"Dienstag, zehn Uhr. Wirst du hingehen?"
Jan kaute auf seiner Lippe und nickte schließlich. Anders würden Alex keine Ruhe geben.
Dienstag.
Mit dem Daumen bearbeitete Jan den Punkt am Arm.
Dachte an den Plan.
Ruhig taxierte er Alex.
"Wer?", fragte er wieder. "Du?", bohrte er nach, als Alex beharrlich schwieg. "Alex, ich schwöre dir, ich lass das Interview platzen. Also, wer?" Entnervt stand Alex auf und sammelte seine Unterlagen ein. Jan beoachetet ihn genau.
"War es Isabelle?", fragte Jan und machte keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. Alex stand schon an der Tür. Jan wusste, er hatte ins Schwarze getroffen. Noch ein Verrat. In seiner Brust brannte es. Wenn Isabelle in diesem Tempo weitermachte, dann würde es bald jeder wissen. Das bestärkte ihn nur in seinem Vorhaben, er musste ebenfalls schnell sein.
"Sie macht sich Sorgen, es geht ihr selbst nicht gut damit. Verständlich, dass sie sich Hilfe sucht, oder?", gab Alex schließlich zur Antwort.
"Sie hatte mir etwas versprochen. Und nun erzählt sie es erst dir, dann der Jäger. Wem denn noch alles? Wissen es schon alle?", schrie Jan.
"Hast du dich mal gefragt, was du ihr mit diesem blödsinnigen Versprechen abverlangt hast? War das fair, Jan? Diese Frau liebt dich, will dir helfen und wird von dir permanent angegangen. Was soll das?"
Überrascht, dass Alex laut wurde, sprang Jan von seinem Stuhl auf.
"Fair, was ist schon fair?", fauchte er dabei. Mit zwei großen Schritten war er aus dem Raum und knallte hinter sich die Tür hinter sich zu. Seufzend folgte Alex ihm und blieb im Flur stehen.
"Vergiss das Interview, ich mache das nicht. Und jetzt lass mich vorbei, ich muss in der Tat los. Und von mir aus, dann erzählt der ganzen Welt, wie mein Privatleben in Schutt und Asche liegt. Auch egal." Jan griff nach seiner Jacke und dem Rucksack, dann eilte er durch das Treppenhaus.
Es juckte ihn in den Fingern, doch er rief Isabelle nicht an, als er unterwegs war. Ariane hatte auf ihn warten wollen, doch Jan hatte sich aufgrund des Besuchs von Alex entschuldigt. Schnell betrat er die Apotheke und besorgte, was er dringend benötigte. Ein wenig mißtrauisch hatte ihn die Dame dort beäugt, so dass Jan beschloss, notfalls noch eine andere Apotheke aufzusuchen. Nicht, dass man sich hier an ihn erinnerte. Im Kiosk vor dem Theater kaufte er noch Zigaretten, zwei Energydrinks und eine handvoll Schokoriegel. Im Theater begrüßte er nur flüchtig die Kollegen, die ihm auf dem Weg zu seiner Garderobe begegneten. Er wollte sich schnell umziehen, ehe Romy zum Schminken kam. Keinesfalls wollte er riskieren, dass noch jemanden die wundgekratzten Arme auffielen.
Zu seiner Überraschung stand dann Jule vor ihm, kaum dass er in das Hemd geschlüpft war.
"Hey", murmelte er und begrüßte sie mit einer kurzen Umarmung.
"Ich dachte, mein letztes Schminken vor dem Mutterschutz gehört dir", lachte sie und revanchierte sich mit einem Wangenkuss. Jan nahm am Tisch Platz und sie begann routiniert mit der Arbeit.
"Du hast dich sehr rar gemacht, wir haben uns kaum gesehen", meinte sie dann und warf ihm über den Spiegel einen fragenden Blick zu. Jan war das durchaus unangenehm.
"Ich bin dir sehr dankbar, dass du David so oft genommen hast und immer für ihn da warst", gab er dann kleinlaut zu. Jule nickte hinter ihm und prüfte den Sitz des Mikros.
"Ich bin seine Patentante und egal was ist, der Kleine ist immer Willkommen. Auch, wenn wir jetzt bald eine andere Situation zu Hause haben, das sollst du wissen."
Lächelnd griff sie nach der Puderdose. Jan konnte sehen wie sehr sich Jule auf ihr Kind freute und es versetzte ihm einen kurzen Stich.
"Wisst ihr, was es wird?", fragte er.
"Keine Chance, Jan. Das verraten wir euch erst, wenn es soweit ist", gab sie zurück und bedeutete ihm, kurz die Augen zu schließen. Flink fuhr sie mit dem Pinsel durch sein Gesicht. "Aber versprochen, du wirst einer der Ersten sein, der es erfährt", versprach sie ihm, als er die Augen wieder aufschlug.
Ernst sah Jan ihr im Spiegel in die Augen. "Die erste Zeit wird unvergessen, genießt das. Wenn du das Kleine das erste Mal im Arm hast und es betrachten darfst, diesen Geruch in der Nase hast, das sind Augenblicke, die unendlich kostbar sind. Konzentriert euch auf eure kleine Familie und gebt dem Kennenlernen Zeit. Es wird sich alles verändern."
Sie musste schlucken und strich ihm über die Schulter.
"Danke, Jan. Das hast du schön gesagt."
Er brach den Augenkontakt ab und räuspere sich.
"Fertig?", fragte er.
"Wenn du es bist", lachte sie und trat einen Schritt zurück. Umständlich erhob sich Jan und nahm sie in den Arm.
"Danke. Komm gut nach Haus und Grüße an Tom. Ich hab dich lieb, Jule", murmelte er. Sie löste sich und strich ihm über den Arm, dann räumte sie schnell zusammen.
"Hab eine schöne Vorstellung und wir telefonieren die Tage mal."
Jan zog sich das Sakko an und sah ihr nach, als die den Raum verließ. Noch knapp 20 Minuten, Zeit für die Tabletten. Zielsicher griff er nach dem Stimmungsaufheller und spülte die beiden Tabletten mit einem der Energydrinks herunter. Er atmete ruhig durch. Er griff nach dem Handy, wählte Isabelles Nummer an und sprach kurz mit David, der schon müde war. Isabelle selbst vertröstete er auf später, er war zu enttäuscht, um sich jetzt mit ihr auseinanderzusetzen. Er legte das Telefon in die Schublade und schloss diese ab. Nun konnte es seinetwegen los gehen.
"Das war gut. Richtig gut", meinte Alex dann, nachdem Jan ihn in die Garderobe gebeten hatte. Seit einer Stunde war die Vorstellung zu Ende und er wollte nur noch nach Hause. Er war bereits umgezogen und packte seine Tasche zusammen. Er war müde und wollte nur noch seine Ruhe. Ihm graute vor dem morgigen Nachmittag, aber er wolle Robert nicht hängen lassen.
Erschöpft ließ Jan die Tasche auf dem Tisch stehen und setzte sich auf den Stuhl. Alex lehnte an der Tür und musterte ihn.
"Kann ich mich auf dich verlassen? Morgen, über das Wochenende und vor allem Dienstag?"
Jan zupfte an seinem Schal. Er nickte, sah Alex aber nicht an.
"Und bitte lass Isabelle nicht so hängen. Denk an David, der Kleine vermisst dich. Sei fair, wenn du sie sprichst. Sie hat das nicht getan um dir zu schaden. Aber auch sie muss irgendwo loswerden, was dir passiert ist. Sie sucht doch nur nach Hilfe. Gerade für dich."
Konzentriert schob Jan die Lippen aufeinander und er ballte seine Faust. Warum nur sah niemand ein, dass es hierfür keine Hilfe gab?
"Ja, ist gut", antwortete er heiser.
Ganz langsam öffnete er die Faust wieder und atmete durch.
"Vielleicht wäre es doch ganz gut, wenn du Diana anzeigen würdest. Ich könnte mit Dr. Frey sprechen......."
Jan riss die Augen auf und unterbrach seinen Freund harsch.
"Das bringt nichts Alex, ich habe es recherchiert. Ihr Wort gegen meins, Keine Beweise, keine Chance." Ein paar Sekunden lang gewährte er ihm einen Blick in seine Seele. "Alex, bitte", flüsterte er. Schließlich nickte Alex.
"Dann sehen wir uns morgen. Schlaf dich erst mal aus, du siehst völlig fertig aus." Jan stand auf, griff nach seiner Tasche.
Alex folgte ihm aus der Garderobe, die Jan absperrte.
Seine Gedanken überschlugen sich. Schnell steckte er sich eine Zigarette an und zog den beruhigenden Geschmack auf. Langsam schlenderte er durch den Hof und schlug den Weg Richtung Apartment ein. Sein Hirn arbeitete auf Hochtouren. Er trat die Zigarette aus und blieb stehen. Er wollte noch nicht nach Hause. Da wartete niemand. Alex schlief im Hotel und würde nicht mitbekommen, ob und wann Jan kam. Er sah sich um. Der Kiosk an der Ecke hatte schon zu. Schade, seine Weinvorräte waren aufgebraucht. So ein Schlummertrunk wäre jetzt genau richtig. Zielstrebig ging er die Straße weiter entlang. Vielleicht hatte die kleine Kneipe noch auf, die er die Tage schon entdeckt hatte. Zumindest ein Bier, das wäre jetzt hilfreich. Jan hatte Glück. Er setzte sich direkt an die Theke, orderte ein Bier und sah sich um. Nur wenige Personen saßen noch an den Tischen oder an der Bar. Direkt neben ihm war frei. Gut, dachte er sich und griff in seine Hosentasche. Schnell steckte er die Pille in den Mund und griff nach seinem Bier. Er setzte es gerade wieder ab, als er angesprochen wurde.
Immer wieder warf Jan einen Blick auf das Tütchen vor ihm. Er war immer noch sprachlos, ob seines unverhofften Erfolgs. Niemals in seinem Leben hätte er gedacht, dass es so leicht sein konnte. Bisher hatte er keinerlei Erfahrungen auf diesem Gebiet umso erstaunter und faszinierter war er von der kleinen Pille. Erst war er erschrocken, weil er so direkt angesprochen wurde. Schlussendlich hatte er sich überwunden und sich etwas zur Entspannung ausgesucht. Zum Testen, wie er es sich selbst sagte.
Nun saß er in seinem Apartment und wählte endlich Isabelles Nummer. Verschlafen wurde abgenommen.
"Jan? Ist was passiert", fragte sie.
"Nein, aber du wolltest doch, dass ich mich melde", antwortete er knapp und zog an seiner Zigarette.
"Es ist halb zwei", gab sie etwas verärgert zurück.
"Tja, das sind nun Mal meine Zeiten." Was wollte sie denn nun? Meldete er sich nicht, war sie sauer. Nun rief er an und sie schimpfe schon wieder.
"Hast du was getrunken?", fragte sie.
"Ja, ein Feierabendbier mit den Kollegen."
Die Lüge glitt ihm problemlos über die Lippe, noch ehe er zu Ende gedacht hatte. Erst nach dem vierten Bier hatte er sich nach Hause aufgemacht. Ein schweres Seufzen war die Antwort.
"Warum warst du bei der Jäger?", fragte er leise.
"Jan, lass uns morgen früh in Ruhe darüber sprechen", bat sie.
Er biss sich auf die Lippe. Er wollte aber jetzt darüber reden. Wieder war eine Entscheidung über seinen Kopf hinweg getroffen worden. Wie ein kleines Kind wurde er vor vollendete Tatsachen gestellt. Doch er schluckte die Worte herunter. Offenbar interessierte es niemanden, was er dazu sagte. Er sollte einfach nur funktionieren.
"Gut. Dann bis später", sagte er schnell und beendete das Telefonat, ohne eine Antwort abzuwarten. Neugierig betrachtete er wieder die kleine Pille vor ihm. Morgen würde er für die Bühne das Mittel aus der Apotheke testen. Mal sehen, mit dieser hier hatte er andere Pläne. Lächeln schlüpfte er aus der Jeans, löschte das Licht und kroch unter die Decke. Wie immer lullte ihn die Beruhigungstablette schnell ein, doch einen erholsamen Schlaf fand er nicht.