Dr. Funk hatte eine spezielle Therapieform vorgeschlagen und nur zwei Tage nach Isabelles Abreise aus München wollte sie damit beginnen. Jan schwirrte der Kopf, noch ehe die Sitzung richtig begonnen hatte. In der ersten halben Stunde hatte Frau Dr. Funk ihm ausführlich erklärt, wie bei der EMDR-Therapie vorgegangen wurde. Und welche theoretische Annahme hinter dem Ansatz steckte.
»Sie merken es ja selbst. Das Trauma blockiert aktiv das Sprachzentrum. Dieser Spruch vom sprachlosen Entsetzen passt an und für sich hervorragend. Im Grunde arbeiten die beiden Gehirnhälften nicht mehr synchron. Die Bilder sind da, aber die Worte nicht. Die EMDR zielt also darauf ab, dass wir die Gehirnhälften synchronisieren, damit findet automatisch eine Aufarbeitung statt und der Heilungsprozeß kann beginnen. Parallel können Sie dadurch auch Abstand gewinnen und irgendwann darüber sprechen, ohne dass die Erinnerung Sie wieder lähmt.«
Für Jan klang dies perfekt. Nach wie vor fühlte sich nicht in der Lage, die Tat in Einzelheiten zu schildern. Obwohl er sie beinahe Nacht für Nacht erleben durfte. In Ausschnitten, Fragmenten, manchmal nur andeutungsweise. Ab und an wusste er zwar, dass er geträumt hatte, doch ohne sagen zu können, was genau. Er sehnte sich danach, die Bilder aus seinem Gedächtnis zu streichen.
In dieser Sitzung hatten sie viel Zeit damit verbracht, dass Jan einen sicheren Ort in sich fand und diesen auch jederzeit nutzen konnte. Sei es während der Therapie an sich, danach oder wenn ihn Panikattacken quälten. Ihm war das gar nicht schwer gefallen. Er hatte sofort die Werkstatt vor sich gesehen, den Geruch von Holz und die Arbeit mit den Händen. Sie hatten es intensiv geübt, weiter war die Therapeutin erstmal nicht gegangen. Aber sie hatte ihn gewarnt. Durch die Anwendung konnte es zu einer erhöhten Traumaktivität kommen. Und das bekam Jan in den folgenden Tagen zu spüren.
Obwohl er es in der Theorie und im Beisein der Therapeutin ganz gut hinbekam, allein im Apartment und am Theater fand er einfach nicht genügend Ruhe für den sicheren Ort. Auf ihr Anraten hat, hatte er sich einen frischen Verschnitt besorgt und trug das Stückchen bei sich.
Wieder war da viel Druck, den er an seinen Armen auslebte. Irgendwann reichten die eigenen Fingernägel nicht mehr. Jan achtete penibel darauf, dass ihn niemand ohne Pulli und Langarmshirt zu Gesicht bekam. Längst hatte er sich auch Schnitte am linkten Unterarm zugefügt, aber es verschaffte ihm nur wenig Erleichterung.
Auf der Bühne war es eine Gratwanderung. In einer Vorstellung konnte er sich kaum abgrenzen, wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. Am nächsten Tag spielte er sich den Kopf frei, was das Publikum mit Szenenapplaus belohnte. Jan vermisste Isabelle und David sehr. Er sehnte sich nach ihrer Nähe und jeden Tag spürte er mehr, dass ihm alles über den Kopf wuchs. Ariane war zwar viel an seiner Seite, aber ihm fehlte Isabelles Ruhe. Er steigerte sich regelrecht in den Gedanken hinein, dass alles gut wäre, könnte er nur abends seinen Kopf an ihrer Schulter vergraben und die Welt aussperren.
Natürlich blieb im Krisenzentrum nicht verborgen, dass er sich schwer tat. Und auch die Selbstverletzungen wurden thematisiert. Dr. Funk sprach erneut aus, dass sie ihn gerne in einer Klinik sehen würde. Doch Jan wehrte sich. Immerhin müsste er dann eine Lösung mit dem Theater finden, seinen Job aufgeben und sich dort erklären. Wobei ihn Robert nach einer der Sitzungen auch wieder nach Hause geschickt hatte. In einer anderen Vorstellung hatte Jan von sich aus nach dem ersten Akt um Ersatz gebeten. Die Intendanz war hellhörig geworden. Klatsch und Tratsch erzählten längst davon, dass Jan offenbar nicht in der Lage war, das Pensum zu gehen.
Er rauchte zu viel. Aß zu wenig.
An schlechten Tagen wünscht er sich, dass er einen der Versuche besser durchgezogen hätte.
Seine Wut auf Diana wuchs weiter und zeitgleich verachtete er sich zutiefst.
Sein ganzer Körper schmerzte und ließ sich nur betäuben, in dem er weitere kleine Schnitte in die Haut setzte.
Der Ekel aber, der ließ sich nicht abwaschen, selbst wenn er fünfmal am Tag unter die Dusche stieg und die Haut schrubbte, bis auch da Blut floß.
Dann kam der Tag, der Jan endgültig Grenzen setzte. Schon in den letzten Nächten hatte er schlecht geschlafen, viel geträumt und sich mit Diana, aber auch Anna auseinandergesetzt. In der Stunde mit Dr. Funk hatte er es nicht geschafft, sich auf sie einzulassen. Obwohl er es gewollt hatte. Sie mehr oder wenige angefleht hatte. Nochmal hatte sie ihm erklärt, dass die Begleitung in einer stationären Therapie für ihn die bessere Lösung sein könnte. Nicht, weil sie sich nicht zutraute ihm helfen zu können, sondern weil er viel zu intensiv reagierte. Mehrmals hatten sie darüber gesprochen, dass er vermutlich schon seit Jugendtagen an einer nicht erkannten und daher nicht behandelten Depression litt, die durch das Trauma genährt wurde.
In der Folge hatte er Isabelle nicht erreicht, dabei hatte er fast zwei Stunden lang im Minutentakt ihre Nummer gewählt. Sie hatte ein Meeting gehabt und hatte ihn beinahe panisch zurückgerufen. Sie hatte auf ihn eingeredet, dass er sich endlich krank schreiben lassen sollte, aber davon hatte Jan nichts hören wollen. Um ein wenig von dem Chaos in ihm loszuwerden, war er zu einem langen, intensiven Lauf aufgebrochen.
Jan hatte die Dusche heiß eingestellt und stand minutenlang regungslos darunter. Nun war seine Haut fast so rot, wie sie sich anfühlte. Ganz langsam und etwas vorsichtig fuhr er mit den Fingernägeln über die abheilenden Schnitte am linken Oberarm. Als sich die erste Kruste löste, hielt er inne. Der Juckreiz war in ein Pochen übergegangen und sein ganzer Arm war jetzt empfindlich. Schnell zog er sich ein Shirt an und schlüpfte in einen Hoodie. Eilig räumte er seine Sachen zusammen. Er war viel zu spät dran. Jetzt betrat er das Theater durch den Seiteneingang und schrieb sich beim Pförtner ein. Alle anderen waren schon da, wie er erkannte. Sein Verstand sagte ihm, dass er eine Kleinigkeit essen sollte. Allein der Gedanke verursachte Jan Übelkeit, trotzdem nahm er den Umweg über die Kantine.
Mißmutig biss er von seinem Brötchen ab. Schon der erste Bissen schnürte ihm die Kehle zu. Er kaute langsam und musste kräftig schlucken, um ihn herunter zu bekommen. Der zweite Bissen war fast noch schlimmer. Dennoch kämpfte er ihn herunter. Nach einer Weile gab Jan auf. Er schob den Teller von sich und kramte sein Handy heraus. Nochmal mit Isabelle sprechen, ehe er sich umziehen musste.
Diesmal ging sie sofort ran, war aber bei ihren Eltern. Im Hintergrund hörte er David, der mit ihrer Mutter lachte. Das war beinahe schon zu viel für Jan. Mit brüchiger Stimme erkundigte er sich, was sie machten.
Ein gemeinsames Abendbrot, erfuhr er.
Gott, wie sehr er die beiden vermisste.
Wie gern er jetzt einfach stundenlang ihrer Stimme gelauscht hätte.
Noch fünf Tage.
Noch fünf beschissene Tage, dann konnte er für eine Nacht zu ihnen.
Eine Konzertprobe.
Jan schüttelte sich unwillig, als Isabelle andeute, dass sie zum Ende kommen musste. Sie bat ihn aber, sich später nochmal zu melden. Was er ihr versprach, dann legte er auf.
Die Unruhe bekam er nicht in den Griff. Ebensowenig das schlechte Gefühl im Magen. Ihm war übel und auch das Jucken wurde nicht besser. Verzweifelt hatte Jan versucht, etwas Erleichterung zu erlangen, doch auch als beide Unterarme zahlreiche Kratzspuren aufwiesen, wurde es nicht besser. Mit viel Willenskraft ließ er sich beim Einsingen nichts anmerken, jedenfalls schien Robert unbeeindruckt und zufrieden. Schnell zog sich Jan in seine Garderobe zurück. Er war fertig vorbereitet und es waren noch 45 Minuten bis zum Vorstellungsbeginn.
Nach einer schnellen Zigarette ließ er sich auf Sofa fallen. Wieder dieser Schwindel. Wenn er die Augen schloss, drehte sich alles. Zudem kamen ihm unangenehme Erinnerungsfetzen in den Sinn. Bitte nicht jetzt, dachte er und mit trockenem Mund versuchte er, den sicheren Ort heraufzubeschwören. Ihm wurde heiß, dann kalt. Der Druck in seinem ganzen Körper spürbar.
Mit rasendem Herz setzte er sich auf.
Er tastete nach dem Stück Holz in seiner Hosentasche.
Dann ging er zum Fenster, steckte sich eine neue Zigarette an. Langsam rollte er einen Ärmel des Hemdes nach oben. Ohne weiter nachzudenken, drückte sich Jan die Zigarette in den linken Unterarm.
Der Schmerz war ungeheuerlich. Viel stärker, als er gedacht hat. Er kniff die Lippen aufeinander, um nicht laut aufzuschreien. Nach einem kurzen Moment ließ er die Zigarette fallen und taumelte zum Sofa. Was eine Erleichterung. Der äußerliche Schmerz betäubte tatsächlich alles andere. Schnell blinzelte er die Tränen weg, die ihm durch das Brennen in die Augen geschossen waren. Interessiert betrachtete er die Stelle. Erst der Caller riss ihn aus seinen Gedanken. Nur noch zehn Minuten, stellte er überrascht fest. Er zog das Hemd zurecht, schlüpfte in die Anzugjacke und warf seinem Spiegelbild einen kritischen Blick zu. Schon klopfte es und Ariane holte ihn wie üblich ab. Schnell setzte er ein unverbindliches Lächeln auf. Das Pochen der Brandwunde versetzte ihn beinahe in Euphorie.