Die Nacht war erstaunlich ruhig gewesen. Das Beruhigungsmittel hatte Jan ordentlich Schlaf gegönnt. Am Morgen war er sehr still gewesen. Eine Stunde lang hatte er mit Lars Martin telefoniert, danach er mit David gespielt und gekuschelt. Der Kleine war zwischenzeitlich von Aaron und dessen Vater abgeholt worden. Das hatte Isabelle schon vor ein paar Tagen ausgemacht. Isabelle hatte schon früh in Hannos Praxis angerufen, damit sie während der kurzen Samstagssprechstunde nicht ewig im Wartezimmer sitzen mussten.
Nun saßen sie im Behandlungszimmer des Hausarztes.
»Wie geht es dir?«, fragte Hanno, nachdem er beide begrüßt hatte. Er sah Jan von der anderen Schreibtischseite an.
»Müde«, antwortete der einsilbig. Hanno nickte. »Ja, das glaube ich dir.« Isabelle griff nach Jans Hand.
»Was ist los?«, fragte sie dann. Ihr war Hannos ernster Tonfall nicht entgangen.
Seufzend rückte Hanno seine Brille zurecht und studierte nochmals am Bildschirm ein paar Daten.
»Deine Blutwerte sind eine Katastrophe.«
Ernst setzte er die Brille ab und erklärte, wie sich eine Depression auch über das Blutbild erkennen ließ. »Den Zusammenhang von Cortisol und Serotonin hatte ich ja schon im Herbst erklärt. Aber nun haben wir auch andere Auffälligkeiten.«
Geduldig ging er auf einige der Werte sowie Biomarker ein. »Dazu kommt der hohe Entzündungswert. Ich glaube nicht, dass der allein von der Brandwunde so hoch ist. Dein Körper ist hochgradig im Stress und tut was er kann. Ihm fehlen gleichzeitig Vitamine und Nährstoffe. Hier müssen wir auf jeden Fall handeln. Umgehend.«
Aufmunternd lächelte er Isabelle an. Sie hatte ihm aufmerksam zugehört. Eine Bewertung der Fakten fiel ihr aber schwer.
»Das Antidepressiva von Dr. Funk ist sehr gut und wird hier auch helfen, aber das dauert seine Zeit. Wir werden uns dazu austauschen, ob wir das Präparat wechseln und das alles beschleunigen. Kurzfristig zumindest. Gleichzeitig muss Jan seinem Körper eine Pause gönnen. Vor allem muss er vernünftig essen, damit das System arbeiten kann. Und wir müssen zu den Entzündungswerte etwas einfallen lassen.«
Er bat Jan, den Arm frei zu machen und betrachte die Wunden sorgfältig. Isabelle schielte nur hin, Jan hatte ihr keinen ausführlichen Blick gegönnt. Hanno drehte Jans Arm etwas ins Licht, dann nickte er. Zunächst wollte er alle Schnitte und auch die Brandwunde beobachten, schrieb aber ein Antibiotika auf und erklärte auch Isabella, auf was sie achten sollte. Sie erinnerte das alles auf unangenehme Art und Weise an die Komplikationen mit der Blinddarmnarbe. Noch so eine Tortur wollte sie Jan ersparen, deswegen hörte sie aufmerksam zu. Dabei ging ihr sowieso kaum in den Kopf, dass sich Jan zuerst mit den eigenen Fingernägel, dann mit einer Rasierklinge und zuletzt einer Nagelschere, aber eben auch mit der brennenden Zigarette selbst verletzt hatte.
Hanno schrieb Jan krank. Rückwirkend ab gestern, was hoffentlich die Lage am Theater entspannte. Und er fand deutliche Worte, als Jan wegen der Probe am Montag leise widersprechen wollte.
»Keine Chance, Jan. Du hast Fieber, nimmst Antibiotika und Antidepressiva. Bist auf ein Gewicht abgemagert, das mir Kopfzerbrechen bereitet und vorgestern bist du zusammengeklappt. Hier ist Schluss. Keine Probe, nicht mit mir. Alles andere besprichst du bitte mit Dr. Funk.«
Er lehnte sich über den Schreibtisch. «Und mit mir auch keine Bühne. Bis auf Weiteres. Notfalls weisen wir dich gegen deinen Willen ein, Gefahr im Verzug. Du vergisst, dass du mich gegenüber deinen Therapeuten von der Schweigepflicht entbunden hast. Wir werden alles dafür tun, dass du keine weiteren Dummheiten machst. Jan, es ist keine fünf vor Zwölf mehr. Da bist du lange drüber. Die Kollegin ist schon dabei, eine passende Klinik für dich zu suchen. Wir werden dich auf alle Wartelisten der Welt setzen, notfalls bringen wir dich solange in einer Notaufnahme unter.«
Am Dienstagmorgen hatte Jan einen Termin in München. Alex würde ihn fahren, er hatte sich mit Robert und dem Intendanten verabredet. Isabelle betrachtete Jan, während sie die Krankmeldung und die Rezepte an sich nahm. Ihr wäre wohler, Alex könnte ihn zu Dr. Funk begleiten. Oder besser noch, sie selbst könnte dies tun.
Neben ihr atmete Jan tief durch, dann senkte er den Kopf. Hanno war noch nicht fertig und gab Jan einen letzten Appell mit ins Wochenende. Montag wollte er ihn direkt wiedersehen.
»Du willst leben. Zumindest hast du das deiner bezaubernden Freundin versprochen. Du hast einen Sohn, der seinen Vater braucht. Hör also auf, dich mit Händen und Füßen gegen alles zu wehren, was man dir Gutes tun möchte.«
Wieder griff Isabelle nach Jans Hand. Er schluckte und drehte seinen Kopf in ihre Richtung. »Können wir einfach nur nach Hause gehen?«, fragte er leise.
Er blieb still. Noch immer war David mit Aarons Familie unterwegs und zurück in der Wohnung verschwand Jan fast sofort im Bett. Vielleicht war Schlaf tatsächlich im Moment das Beste. Isabelle hatte alle Medikamente besorgt und dann ein wenig im Netz gestöbert. Hannos Worte hallten in ihr nach. Nicht nur Jans Psyche kämpfte, sein ganzer Körper war in Aufruhr. Lange, da war sie sicher, konnte das nicht mehr gut gehen. Sie fasste sich ein Herz und schrieb Herrn Sauer eine lange Mail, dann klickte sie sich durch ein paar Foren. Als es klingelte, schreckte sie hoch.
Schnell hatte sie frischen Kaffee aufgesetzt und dabei Alex zugehört. Er war bei Jule gewesen und hatte den Umschlag mitgebracht, den Jan dort gelassen hatte. Voller Ekel hatte Jule gelesen, was Jan niedergeschrieben hatte. Nach der Hälfte hatte sie abgebrochen und Alex angerufen. Isabelle reichte Alex einen Kaffee und musterte den Umschlag. Sie setzte sich und reichte Jans Krankmeldung weiter. Alex schob sie in seine Mappe. Nachdenklich erzählte Isabelle, was Hanno alles gesagt hatte. Auch, dass Dr. Funk bereits die nächsten Schritte eingeleitet hatte. Seufzend lehnte er sich zurück.
”Vielleicht wirklich besser so. Du kannst das nicht leisten, Isa. Da müssen Profis ran. Ausgebildete Menschen, die wissen, wie sie damit umgehen und vor allem wissen, wie sie ihm helfen können. Jan muss zur Ruhe kommen und mit Verlaub, auch du musst das. David ebenso. Damit auch du mal ohne Sorge um ihn sein kannst. Das wird dir helfen und auch dem Jungen.«
Leise stimmte Isabelle ihm zu. Sie fühlte sich ausgelaugt und was viel schlimmer war, hilflos. Sie hatte sich sehr zwingen müssen, nicht alle fünf Minuten ins Schlafzimmer zu laufen und nachzusehen, ob Jan wirklich schlief. Sie hatte sich dabei ertappt, dass sie im Badezimmer einige Utensilien in den Apothekerschrank eingeschlossen und den Schlüssel abgezogen hatte. Und sie musste sich eingestehen, dass sie ihn am Liebsten keine Sekunde aus den Augen lassen würde. Das war nicht gut, nicht gesund. Das war ihr absolut klar. Sie brauchte eine Pause. Zeit für sich und David, der immerhin ebenfalls Aufmerksamkeit benötigte. Jan in guten Händen zu wissen, würde ihr helfen.
»Ich würde gerne mitfahren«, überlegte sie. In der Tür tauchte Jan auf. Ein wenig fitter sah er aus, aber noch immer glänzten seine Augen.
»Es tut mir leid wegen der Probe«, meinte er an Alex gewandt. Der deutete auf den Stuhl neben sich.
»Mach dir darüber keinen Kopf.«
Jan setzte sich. Isabelle reichte ihm eine Wasserflasche und ein frisches Glas. Alex schob Jan den Umschlag zu. Ein leichtes Zucken umspielte Jans Mundwinkel. Sein Gesichtsausdruck war nicht deutbar. Dann zuckte er die Schultern.
»Ich wollte verhindern, dass Diana das Sorgerecht bekommt, wenn mir etwas passiert. Daher habe ich alles aufgeschrieben und darum gebeten, dass David bei Jule oder Isabelle bleiben kann."
Isabelle schloss die Augen, ihr wurde schlecht. Ihr Kampf schien aussichtslos. Immer wieder kam Jan an einen Punkt, an dem er keinen Sinn sah. Sie spürte, dass sie bald nicht mehr konnte.
»Ich wollte Jule endlich erzählen, was los ist. Dachte aber, ich schaffe es nicht. Da fiel mir der Umschlag ein. Eigentlich hatte ich den noch einwerfen wollen, aber es dann vergessen.« Jans Antwort kam leise.
Alex nickte.
»Verstehe. Ich kann nachvollziehen, dass du entsprechende Vorsorge für David treffen möchtest, dazu kannst du dich die Tage mit Dr. Frey austauschen.« Seufzend blickte er zwischen den Beiden hin und her.
»Das hier jedenfalls, nützt gar nichts. Und entgegen deiner Annahme, wird Jule als Patin nicht automatisch gefragt.«
Es herrschte ein unangenehmes Schweigen. Schließlich stand Alex auf.
»Ruht euch aus. Beide.«
Isabelle begleitete ihn zur Tür. Alex musterte sie wieder.
»Kommst du zurecht? Soll ich hier bleiben und du nimmst dir eine Auszeit?«, bot er ihr an.
»Danke. Nein. Ich möchte hier sein, wenn David nach Hause kommt«, antwortete sie. Der Kleine konnte nicht noch mehr Durcheinander gebrauchen«, erwiderte sie.
»Falls ihr was braucht, melde dich. Ansonsten sehen wir uns dann morgen, wenn Anke und Paul da sind.«
Er küsste sie zum Abschied auf die Wange und verließ die Wohnung. Isabelle lehnte sich an die Tür und atmete durch.
Jan hatte über Kopfschmerzen geklagt und sich nach einer Tablette auf die Couch zurückgezogen. Als sie mit den Vorbereitungen für die Bolognese, die sie David versprochen hatte, fertig war, meldete sich Aarons Vater. Er würde den Jungen pünktlich nach Hause bringen. Prima, dachte sie und deckte schon mal den Tisch. Bestimmt war David aufgedreht und müde vom Tag in der Sporthalle. Sie war heilfroh, dass der Kleine so gut beschäftigt gewesen war, sie hätte es heute nicht geschafft. Leise betrat sie das Wohnzimmer und beobachtete nur kurz, wie sich Jan unruhig umherwälzte. Ganz fest hatte er die Lippen aufeinandergepresst. Isabelle entschied, ihn zu wecken.
»Jan?« Vorsichtig berührte sie an der Schulter und er schlug die Augen auf. Er brauchte einen Moment, dann hatte er sich gesammelt.
Isabelle setzte sich zu ihm gesetzt und nahm seinen Kopf in ihren Schoß. «David wird gleich hier sein«, meinte sie und massierte ihm leicht die Schläfen. »Wir können dann direkt essen.«
Jan brummte leise..
»Du hast schlecht geträumt«, stellte sie dann fest.
Er sah ihr in die Augen und holte Luft.
»Wir sollten uns eine andere Wohnung suchen. Ich ertrage es hier nicht«, sagte er schließlich. Aufmerksam sah Isabelle ihn an.
»Alles hier erinnert mich an Diana. Wir haben hier zusammen gelebt. Vergiss die guten Erinnerungen, die negativen sind einfach stärker«, erklärte er.
»Okay«, meinte sie. Im Grunde überraschte es nie nicht.»Und an was hast du gedacht?«, wollte sie wissen. Und vor allem, wie schnell? Aber das sprach sie nicht aus. Jan drehte sich auf die Seite.
»Irgendwas, was dir gefällt. Vielleicht in der Nähe, wegen der Kita.«
Isabelle zuckte kurz zusammen. War dies der richtige Moment, um ihm von dem Jobwechsel zu erzählen? Sie streichelte ihm durch die Haare, verharrte kurz an seiner Stirn und dann an seiner Wange. Noch immer hatte er leichtes Fieber.
»Mach du das einfach. Alex kann dir helfen«, flüsterte Jan. Er schlang seine Arme um sie und genoss einfach nur ihre Nähe. »Es tut mir so leid«, murmelte er schläfrig.
Isabelle zischte leise. »Hör auf damit. Deine Entschuldigungen brauche ich nicht. Was ich möchte ist, dass du jetzt nicht aufhörst zu kämpfen.«
Jan schloss die Augen. Nur zwei Minuten später reagierte er schon nicht mehr.
Er verschlief Davids Rückkehr. Nur mit Mühe konnte Isabelle den Jungen davon abhalten, dass er ins Wohnzimmer stürmte. Glücklicherweise war David vollkommen erledigt. Nach einer ordentlichen Portion Nudeln und einem Bad, schlief er beinahe sofort ein. Im Arm hielt er seinen Teddy und sein Gesicht leuchtete noch von der Aufregung. Isabelle ließ ihn alleine, richtete auch für Jan eine Portion, die sie bei Bedarf nur aufwärmen konnte. Er musste essen, ob er wollte oder nicht.
Wieder meldete sich ihr Handy. Alex hatte geschrieben, dass Jans Eltern informiert waren und gegen frühen Nachmittag in Stuttgart sein wollten.
Nicht alles hatte er ihnen erzählt, das wollte er Jan überlassen. Nur, dass sie dringend gebraucht wurden und sie sich alle zusammensetzen mussten.
Erleichtert atmete Isabelle auf.
Dann sah sie nach Jan, der im Moment friedlich schlief.
Zärtlich sah sie ihn an. Wenn er nur kämpfte, dann konnte auch sie stark bleiben, dessen war sie sich sicher. Noch ein bisschen Geduld, ermahnte sie sich. Nochmal piepste ihr Handy und kündigte eine Email an. Herr Sauer hatte geantwortet . Aufgeregt öffnete sie die Mail.