Sie hatten ihn toben lassen. Isabelle hatte es in der Seele weh getan, doch Alex hatte sie zurückgehalten. Sie wusste, dass er recht hatte, ein Eingreifen wäre sinnlos gewesen. Jan hatte ihr Angst gemacht, seine Verzweiflung hatte sie sehr mitgenommen und sie war Alex dankbar, dass er an ihrer Seite war. Jan hatte in der Küche ganze Arbeit geleistet und erst als es still geworden war, hatte sie versucht ihn durch die Tür anzusprechen. Kurz darauf hatten sie den Raum betreten. Erst hatte Isabelle Sorge gehabt, Jan hätte sich an einer der zahlreichen Scherben verletzt, doch Alex hatte die Situation sofort erfasst. Schnell war er zur Spüle geeilt und hatte ein Handtuch befeuchtet. Während sie auf Jan einredete, hatte er seinem Freund das Handtuch in den Nacken gedrückt. Mit einem zweiten Tuch hatte Isabelle ihm dann das Blut aus dem Gesicht gewischt und seinen Kopf nach hinten gelegt. Zweimal hatte Alex gefragt, ob er einen Arzt rufen sollte.
Das Nasenbluten hatte dann schnell aufgehört und auch Jans Puls normalisierte sich. Er war wieder ansprechbar und bekam Farbe ins Gesicht. Vorsichtig hatte Isabelle ihn durch die Scherben ins Wohnzimmer dirigiert, während Alex sich an die Beseitigung des Chaos gemacht hatte.
Dann hatte Jan sie überrascht. Er hatte seine Zustimmung gegeben, dass David mit ihr kommen sollte. Noch während sie darüber sprachen, war Alex wieder dazugekommen und hatte beiden Tee gebracht. Jan versprach seinem Freund und Agenten, sich in den kommenden Tagen um eine Selbsthilfegruppe zu bemühen. Isabelle streichelte dankbar seinen Handrücken. Erleichterung machte sich in ihr breit. Dann bat Jan darum, seinen Eltern weder von seinem Ausbruch noch von der Vergewaltigung zu erzählen. Zögernd sah Isabelle zu Alex, der bedächtig nickte.
"Du weißt aber schon, dass sich Anke auch so ihre Gedanken macht und dein seltsamer Auftritt von heute Morgen ihr Sorgen bereitet?", fragte Alex behutsam. Isabelle sah Jan lange ins Gesicht und drückte seine Hand.
"Lassen wir einfach stehen, dass der Stress Jan zugesetzt hat. Alles andere sehen wir dann. Wenn er sich Hilfe sucht und kurzfristig mit einer Aufarbeitung beginnt, kann er immer noch später entscheiden, wie viel er seinen Eltern sagen möchte", argumentierte Isabelle. Wie froh sie war, dass Jan sich nicht mehr wehrte. Dass er es angehen würde. Ihr war beinahe ein Stein vom Herzen gefallen. So fiel es ihr schon leichter, ihn in München zurück zu lassen. Alles würde in Ordnung kommen. Sie wollte sich in den nächsten Tagen intensiv um David kümmern und hoffte von Herzen, dass der Kleine ihr vertraute und ohne Probleme mit ihr kommen würde.
Zusammen mit Alex brachte sie die Küche in Ordnung, während Jan auf dem Balkon zwei Zigaretten rauchte. Vermutlich hatte er diesen Ausbruch gebraucht. Er wirkte viel ruhiger, hatte sich ein bisschen gefangen und schien gewillt, seine Probleme zu lösen.
Alex hatte sich dann verabschiedet, Heike wartete nun schon viel länger auf ihn, als vereinbart. Er versprach, sich telefonisch bei Jan im Laufe der Woche zu melden und erinnerte ihn eindrücklich daran, dass er jederzeit ein offenes Ohr haben würde. Kurz darauf waren Anke und Paul mit David gekommen und nur kurz geblieben. Paul hatte zügig auf die Autobahn gewollt. Jan hatte sich bei seiner Mutter für den Vorfall im Hotel entschudligt und sich dann sehr herzlich von beiden verabschiedet. Lange er Anke an sich gedrückt und ihr versprochen, dass jetzt nach der Probenzeit alles wieder ins Lot kommen würde.
Erst dann hatten sie David gemeinsam erklärt, dass er mit Isabelle nach Hause fahren würde. Der Kleine war sofort Feuer und Flamme. Die Aussicht auf den Kindergarten, seine Freunde, sein Zimmer und die Katzen trösteten ihn darüber hinweg, dass er den Papa in den kommenden Tagen nur via Skype sehen würde. Während Isabelle für den Kleinen und sich gepackt hatte, saß Jan mit ihm in Kinderzimmer. Erstmals seit zwei Tagen hatte Isabelle endlich das Gefühl, dass es aufwärts ging.
Am frühen Nachmittag half ihr Jan mit dem Gepäck und bat sie dann um ein paar Minuten alleine mit seinem Sohn. Schmunzelnd beobachtete Isabelle, wie David sich an Jan schmiegte, als der ihn anschließend zum Auto trug.
"Alles klar, Großer?", fragte Jan und setzte den Kleinen in den Kindersitz.
"Klar, Papi", antwortete der. "Ich passe ganz doll auf die Isi auf, versprochen!" Nun musste sie wirklich lachen. Keine dumme Idee von Jan, wie sie fand. Der schnallte den Jungen an und rückte ihm einen Kuss auf die Wange.
"Papa hat dich sehr lieb, nicht vergessen. Sein ein braver Räuber und höre bitte auf die Isa." Eifrig nickte David und strahlte ihn an.
"Nachher sage ich dir noch Gute Nacht."
Jan wuschelte ihm durch die Haare und schloss dann die Tür.
Er wandte sich Isabelle zu und zog sie in seine Arme. Auch sie schlang die Arme um ihn und genoss die kurze, unaufgeregte Nähe. Erst sprachen sie kein Wort.
"Danke. Und verzeih mir, dass ich so ungerecht war", murmelte er. Überrascht löste sie sich von ihm.
"Es ist okay, Jan. Ich kann dich verstehen. Ich hoffe einfach nur, dass du verstehst, dass ich es nur gut meine. Denn ich liebe dich."
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen kurzen Kuss, den er zögernd erwiderte.
"Fahr bitte vorsichtig und pass mir gut auf mein Goldstück auf."
Isabelle nickte und stieg dann in den Wagen. Sie schob den Schlüssel ins Zündschloß, Jan lehnte noch an der offenen Tür. Seinen Blick konnte sie nicht deuten, eine Sekunde schien er vollkommen woanders zu sein. Sie drückte die Home-Taste des Navis und schnallte sich an. Noch immer stand Jan an der Tür und hielt die Tür offen.
"Ich liebe dich, bitte glaub mir das und vergesse es nicht", sagte er leise, dann drückte er die Tür zu. Isabelle warf ihm noch eine Kusshand zu, dann fuhr sie vorsichtig aus der Parklücke. David winkte und Jan hob kurz die Hand, während sie sich in den Verkehr einfädelte. Über den Rückspiegel konnte sie noch sehen, dass Jan stehen blieb und ihnen nach sah. Hätte sie doch bleiben sollen? Seufzend bog sie an der nächsten Kreuzzung ab und verlor ihn aus den Augen.