Alt war sie geworden, stellte Jan überrascht fest. 13 Jahre, und sie war gealtert, als wären es 20 gewesen.
Mit zittrigen Händen bastelte sie am Grablicht herum, die Kerze wollte nicht brennen.
"Darf ich?", fragte Jan vorsichtig. Ohne ihn anzusehen, nickte sie. "Es klappt einfach nicht.", antwortete die Frau mit zittriger Stimme und reichte ihm das Licht. Behutsam nahm er ihr das Feuerzeug aus den Händen und zündete das Licht an. Er schützte die empfindliche Flamme und stellte die Kerze auf die Grabplatte. Sonderlich gepflegt war das Grab nicht, die Schrift schon ziemlich vom Moos bewachsen. So sollte das doch nicht sein, dachte er.
Seufzend kam er langsam wieder in den Stand, das Ziehen erinnerte ihn daran, dass bücken noch keine so gute Idee war. Er drehte sich zu der kleinen Frau um. Die grauen Haare lugten unter einer bunten Mütze hervor, ihr Blick war traurig und einsam. Erst jetzt realisierte sie, wer er war. Das Erkennen dauerte eine Sekunde, dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und nahm ihn in den Arm.
"Jan, das ist ja schön.", murmelte sie, während auch er sie umarmte. So standen sie bestimmt fünf Minuten. Dann löste sich Jan von ihr und wandte sich dem Grab zu. Sie trat neben ihn und wischte entschuldigend über die Platte.
"Du warst lange nicht hier.", stellte er fest.
"Nein.", sagte sie leise. "Du auch nicht."
Jan verzog den Mund.
"Nun ja, ich lebe nicht hier.", gab er zurück.
"Begleitest du mich ein Stück?", fragte sie und hakte sich unter.
Schweigend gingen sie zum Ausgang. Es lagen ihm viele Fragen auf der Zunge. Doch keine davon wollte er stellen.
"Ich würde dir gleich noch was mitgeben wollen.", eröffnete sie ihm, als sie die Straße entlang gingen. Kaum jemand war noch unterwegs. In den Häusern links und rechts brannten heimelige Lichter, die meisten Familien würden nun bald essen.
Jan zog seinen Schal enger um den Hals. Auch er wollte nun nach Hause. David war bestimmt schon ungeduldig. Außerdem wollte er nicht, dass sich Isabelle Sorgen machte. Vor dem vertrauten Haus blieb sie stehen.
"Magst du mit reinkommen?", fragte sie zögernd.
"Kurz, sehr gern.", antwortete er und folgte ihr zum Hauseingang.
Sie lebte immer noch in der Dreizimmerwohnung, wie damals. Wie oft war er hier gewesen? Jeden Tag? Zumindest beinahe. Wenig hatte sich verändert. Es roch etwas muffig, als wenn zu wenig gelüftet würde. In der Nische im Flur standen keine Schuhe mehr, sondern unzählige Flaschen. Sie bat ihn, ihr zu folgen und steuerte das kleine Zimmer am Ende des Flurs an.
Abrupt blieb Jan stehen. Würde es sich dort auch nicht verändert haben? Wäre alles noch, wie vor vielen Jahren? Wann war er zuletzt hier gewesen? Vor dem Studium. Auf jeden Fall.
"Was ist?", fragte sie und legte eine Hand auf den Türgriff. Sein Mund wurde trocken und die Operationswunde meldete sich. Leicht schüttelte er den Kopf. In diesen Raum würde er keinen Fuß setzten. Schon gar nicht, wenn er nicht wusste, was ihn dort erwartete. Sie zuckte mit den Schultern. Doch schließlich öffnete sie die Tür. Der kurzen Blick, den Jan erhaschen konnte, bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Nichts, aber auch gar nichts, hatte sich dort verändert. Er schluckte schwer und blieb einfach an seinem Platz stehen.
"Warum änderst du hier nichts?", fragte er mit belegter Stimme, als sie zurück kam.
"Das macht es doch auch nicht mehr gut.", gab sie ihm zur Antwort und reichte ihm ein Bündel. "Ich wünsche dir frohe Weihnachten, Junge."
Irritiert sah Jan das Päckchen an. "Ja, frohe Weihnachten.", sagte auch er. Unsicher sah er sie an. Hatten sie sich sonst nichts zu sagen? Würde sich diese Gelegenheit jemals wieder bieten? Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Sie beobachtete ihn. Natürlich, sie weiß, was mich quält, dachte er. Er öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder.
"Es ging nicht anders.", ließ sie verlauten. Sie sah an ihm vorbei.
"Aber warum?", stieß er leise hervor.
Inga hob den Kopf und musterte den Mann, der vor ihr stand. Noch immer ein gutaussehender Bursche, sie hatte ihre Tochter schon verstehen können. Doch sein Blick war, wie damals oft, unruhig. Nun kaute er auf der Unterlippe, auch das hatte er schon vor vielen Jahren immer getan, wenn er unsicher war. Bedauernd zuckte sie die Schulter. War er keinen Schritt weiter? Nun ja, wenn sie ehrlich war, hing auch sie in der Zeitschleife fest. Sie wollte die Erinnerungen einfach nicht loslassen. Und hier, in der unveränderten Wohnung, besonders dem Zimmer, war sie ihr nah. Jeden Tag. Seit 13 Jahren.
Und er? Wieder sah sie ihm in sein Gesicht. Das Gesicht, das sie jahrelang täglich gesehen hatte, welches sie gerne ab und an aus dem Leben ihrer Tochter verbannt hätte. Aber niemand hatte eine Chance gehabt. Und als es endlich gut wurde, kam das Schicksal. Inga schluckte.
"Sie war nicht allein. Wir, die sie liebten, waren bei ihr.", flüsterte sie und ahnte, was nun kommen würde.
"Ich habe sie auch geliebt." Jans Worte waren vorhersehbar gewesen. Inga ging an ihm vorbei zur Haustür.
"Das war doch keine Liebe. Ich habt geglaubt, euch zu brauchen und aneinandergeklammert. Und dabei hättet ihr euch fast zerstört." Wie in einem Film sah sie all die Ereignisse kurz vor ihren Augen. Sie schüttelte die Gedanken weg. "Jan.", sie berührte seinen Arm, er stand reglos im Flur. "Sie wollte es so.", sagte sie leise.
Oft hatte sie gegrübelt, was aus ihrer Tochter geworden wäre. Als sie nun Jan so sah, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Hätten sie sich je wirklich frei gegeben? Hätten sie sich irgendwann zusammen etwas angetan? Diese Verbindung war aus ihrer Sicht nie gesund gewesen. Wie oft hatte sie bei Lehmanns gesessen? Und nun stand Jan vor ihr und lieferte ihr eine unheimliche Sicht in die nicht vorhandene Zukunft ihrer Tochter. Sie deutete auf das Bündel in seiner Hand. "Schau dir das in Ruhe an, nicht heute. Nimm dir Zeit dafür." Verwirrt sah er sie an.
"Was ist das?", wollte er wissen.
"Annas Tagebücher."
Jan wusste, dass er ungerecht war.
Er ließ seine Gereiztheit und Unleidlichkeit erst an Isabelle aus, dann an Martin.
Aber der dunkle Druck in seiner Brust ließ ihn einfach nicht anders. Er schlug um sich und konnte sich anschließend selbst nicht leiden.
Zumindest für David war es ein schönes Weihnachtsfest. Der Kleine strahlte den ganzen Abend und schien die Spannungen zwischen den Erwachsenen nicht wahrzunehmen. Er war dann schon im Bett, als die Situation eskalierte. Jan musste feststellen, dass auch hier und da ein Rest Wein aus den verschiedenen Gläser keine gute Idee gewesen war. Kein Alkohol, hatten die Ärzte ihn ermahnt. Die schweren Schmerzmittel vertrugen sich schlecht damit. Während Martin und Nele sich in ihre Wohnung zurückzogen, Anke sich um das Geschirr kümmerte und Paul mit dem Hund ging, begleitete Isabelle Jan nach oben.
Sie war wütend, das erkannte Jan sofort. Nicht nur verärgert. Mit einem Funkeln im Blick stand Isabelle am Fenster des Gästezimmers. Er seufzte. Alles drehte sich und er wollte nur noch schlafen. Für weitere Vorwürfe hatte er an diesem Tag einfach keine Nerven mehr. Er ging an ihr vorbei und ließ sich auf das Bett fallen. Umständlich versuchte er sein Hemd aufzuknöpfen, so ganz gehorchten ihm seine Finger aber nicht.
"Bitte, lass es gut sein.", bat er sie leise.
Kopfschüttelnd sah sie ihm zu. "Das war unverantwortlich. Bist du von allen guten Geistern verlassen?", fragte sie. Ihr Tonfall war hart und kalt. Das kannte er noch nicht von ihr. Seufzend ließ er von dem Hemd ab und ließ sich nach hinten fallen.
"Isa, bitte.", murmelte er. Vorsichtig stemmte er sich wieder in den Sitz, ihm war schwindlig geworden.
"Nein, Jan. Ich möchte, dass du verstehst, um was es mir geht. Und ich möchte wissen, was genau du dir dabei gedacht hast." Was wollte sie denn jetzt hören?
"Nichts.", antwortete er schließlich und beschäftigte sich wieder mit seinem Hemd. Warum nur zitterten seine Hände so?
"Lass, du machst es kaputt." Isabelle setzte sich zu ihm und knöpfte ihm das Hemd auf. Dabei sah sie ihm in die Augen. Ihre wunderschönen Augen. Am liebsten würde er sie küssen, aber er ahnte, dass dies jetzt keine gute Idee sein würde. Er wollte nicht, dass sie wütend auf ihn war. Es tat ihm leid. Sein ganzes Verhalten. Aber Inga hatte ihn völlig durcheinander gebracht.
"Jan, das geht so einfach nicht.", sagte sie, während sie ihm aus dem Hemd half. "Ich weiß.", nuschelte er. "Schatz, Isa, es tut mir leid und ich liebe dich.", murmelte er, als er das Shirt anzog.
Er hörte sie laut ausatmen. War das nun auch falsch gewesen? Er verstand sie nicht. Mache er jetzt alles falsch? Aber was war richtig? Isabelle war wieder aufgestanden und studierte den Beipackzettel. Irgendwie schaffte er es aus der Jeans und kroch unter die Decke. Auf der Seite liegend ging es ihm besser. Das Karussell im Kopf wurde langsamer.
"Wenn dir schlecht wird, brauchst du dich nicht wundern.", informierte ihn Isabelle."Ich hoffe mal, dass du wenigstens nicht besonders viel getrunken hast, andernfalls müssten wir nämlich ins Krankenhaus."
Er spürte ihren Blick.
"Ein Schluck Sekt, ein Schluck Wein. Zufrieden, Frau Doktor?"
Sie rollte mit den Augen.
"Das bringt heute nichts mehr.", stellte sie fest. Umständlich stopfte sie den Zettel zurück in die Packung.
"Bleib bei mir.", bat er leise.
"Versuch einfach zu schlafen.", sagte sie, während sie aus dem Zimmer ging und ihn allein zurück ließ.
Der nächste Morgen begann für Jan mit Kopfschmerzen. Aber auch Isabelle wirkte nicht fit. Er hatte nicht mitbekommen, wann sie ins Bett gekommen war. Dass sie noch immer sauer war, hatte er daran gemerkt, dass sie ihn am frühen Morgen ignoriert hatte. Ihm war hundeelend gewesen und fast eine halbe Stunde lange hatte er sich im Bad aufgehalten. Mehrfach hatte er sich übergeben und als er ins Bett zurück kam, war sie eindeutig wach gewesen. Jans schlechtes Gewissen fühlte sich nun mehr als unangenehm an. Es hatte ihn nicht mehr richtig einschlafen lassen. Vor wenigen Minuten war Isabelle aufgestanden und duschen gegangen. Mit Mühe rollte er sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Jan, du bist ein Idiot, dachte er sich. Im Kopf ging der die Liste der Namen durch, bei denen er sich dann heute zu entschuldigen hatte. Im Grunde bei allen. Vielleicht außer David, denn der Kleine war glücklich eingeschlafen und hatte ein sehr schönes Fest erlebt.
Vorsichtig tastete Jan über den Pflasterverband. Der müsste heute wieder gewechselt werden, fiel ihm ein. Dr. Niehues hatte angeboten, dass er sich die Narbe auch heute anschauen würde, dazu müsste sich Jan nur melden. Ansonsten käme erst morgen. Während er darüber nachdachte, kam Isabelle frisch geduscht zurück ins Zimmer.
"Hey, guten Morgen.", versuchte er es freundlich und kam in den Sitz.
"Morgen.", antwortete Isabelle knapp und griff nach einer frischen Bluse aus dem Koffer. Langsam stand er auf und trat ans Fenster.
Im Hof spielte David mit dem Hund und Martin schippte Schnee. In der Nacht hatte es nochmal geschneit. Aus den Augenwinkeln beobachtete er seine Freundin, die ihre Bluse zuknöpfte. Das zärtliche Gefühl für sie war so stark. Gerade versuchte sie die noch feuchten Haare zu bändigen. Mit zwei schnellen Schritten war er bei ihr und nahm sie ihn den Arm.
"Jan.", wehrte sie sich und schob ihn etwas weg. Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare.
"Was erwartest du von mir?", fragte er dann leise und blieb vor ihr stehen. Er wollte es wieder gut machen. Wenn er könnte, würde er die Zeit zurückdrehen. Warum nur, machte er immer alles kaputt?
Sie schlüpfte in ihre Jeans.
"Dass du mit mir redest, das erwarte ich. Du hast mir versprochen, dass du mich einbeziehst, dass du ehrlich zu mir bist. Rede, Jan. Über dein blödsinniges Verhalten gestern gegenüber deinem Bruder. Über die dumme Idee mit dem Alkohol. Über deinen Besuch an Annas Grab. Und über dein Zusammentreffen mit Inga. Um mal nur ein paar Punkte zu nennen. Über all das, was dich beschäftigt, dir schlechte Träume verschafft und dich zu Tabletten greifen lässt.", antworte sie und sah ihm dabei in die Augen.
Das war unangenehm.
Schnell wandte er sich ab.
In Wien hatte sie ihm noch in der Klinik einen langen Vortrag zu Vertrauen und Partnerschaft gehalten. Er wusste, dass sie recht hatte, aber es fiel ihm so unglaublich schwer, sie wirklich an sich heran zu lassen. Diana hatte all das nicht gewollt und Jan hatte sich über die Jahre arrangiert.
"Nein, mein Freund. So funktioniert das nicht." Isabelle griff energisch nach seinem Arm. Widerwillig wandte er sich um. Er wollte über all das nicht sprechen, nicht jetzt. Nicht hier. Er biss sich auf die Lippe. Ihr Griff war fest und sie schien nicht loslassen zu wollen.
"Also?", fragte sie. Als er den Kopf senken wollte, zog sie ihn heftig am Arm. "Nein, Jan. Rede!", forderte sie ihn bestimmt auf. Für einen Moment setzte sein Herzschlag aus. Hektisch sah er sich um. Nun hatte sie auch seinen anderen Arm ergriffen.
"Schau mich an.", sagte sie. Als er den Kopf nicht hob, schüttelte sie ihn. "Hey! Schau mich an!"
Nein, diesmal würde Isabelle nicht locker lassen. Obwohl sie gut einen Kopf kleiner war als er, hatte sie ihn gerade fest im Griff. Er merkte, wie sein Atem unruhig wurde. Sie würde ihn doch nicht zwingen? In der Tat verstärkte sie ihren Griff und schüttelte ihn wieder. Gleichzeitig führte sie ihn zum Bett. Zusammen setzten sie sich und endlich ließ sie ihn los.
"Ich warte.", sagte sie leise.
Ihre Stimme klang furchtbar traurig.
Und erschöpft.
Sie sagte es nicht, aber Jan erkannte, dass sie ihm keine weitere Chance geben würde. Es lag bei ihm und es schnürte ihm die Luft ab.