3 – Langsame Fahrt
Zehn Stunden. Volle zehn beschissene Stunden in diesem verdammten Bus. Minimum! Und dank eines verfluchten Unfalls mit Vollsperrung, der sie nur drei Ausfahrten nachdem sie auf die Autobahn gefahren waren, erwischte, sah es nicht gerade danach aus, als würde es dabei bleiben.
Dass diese Woche keine reine Erholungsfahrt werden würde, hatte Erik ja schon befürchtet, aber das hier war schlichtweg grausam. Im Augenblick würde er sein rechtes Bein dafür gegeben, wenn er Sandro auf dem Schoß sitzen dürfte. Alles, damit er hier wegkam. Weg von diesem blöden Lehrer! Eriks Arme zogen sich fester um den Rucksack auf seinen Knien.
‚Warum ausgerechnet Berger?!‘, verfluchte er sein verdammtes Pech, den Blick stur aus dem Fenster gerichtet.
So erbärmlich, wie es klang, aber in diesem Moment war Erik reichlich zum Heulen zumute. Natürlich nicht wirklich. Er würde sich garantiert nicht die Blöße geben vor irgendjemandem das Flennen anzufangen. Aber nachdem er sich förmlich dazu hatte zwingen müssen, die Vorfreude auf diese Fahrt nicht völlig zu verlieren, war der ‚Sitzplatz beim Lehrer‘ an sich schon einmal eine Qual.
Der neben Berger war Folter ohnegleichen.
Wenigstens hatte Erik damit hoffentlich den Tiefpunkt dieser Reise innerhalb der ersten Stunde abgehakt. Mal ehrlich. Wie viel schlimmer konnte es jetzt noch werden? Sein Blick zuckte zu der großen digitalen Uhr vorn über der Windschutzscheibe.
‚Neun Stunden, siebenunddreißig Minuten. Plus Stau.‘
„Setzten Sie sich wenigstens ordentlich hin“, murrte es neben Erik und ließ den zusammenzucken.
Woher die plötzliche Wut im Bauch kam, wusste er selbst nicht. Aber am liebsten hätte Erik Berger vor den Latz geknallt, dass der sich ja auch woanders hinsetzen könnte, wenn ihn denn der selbst erwählte Sitznachbar störte. Erik stoppte sich aber, bevor ihm ein Wort davon herausrutschen konnte.
Betreten sank er in sich zusammen, zappelte einmal reichlich ungelenk hin und her, sodass der Rucksack zwischen die Beine rutschen konnte und saß am Ende nicht ganz so verrenkt auf dem weinroten Polster.
‚Besser‘, warf die seit jeher nicht sonderlich hilfreiche Stimme seines Verstandes ein.
Dummerweise hatte sie recht, denn so würde er die nächsten Stunden fahrt deutlich besser aushalten. Zumindest würde er auf diese Weise nicht bis zur ersten Pause mit einem Krampf im Rücken kämpfen, der seinesgleichen suchte.
Leider hatte der Verlust des Rucksacks auf dem Schoss jedoch den unbestreitbaren Nachteil, dass Erik jetzt keine Ahnung hatte, was er mit den Händen anstellen sollte. Also krallten die sich anstatt in das Polyester des Rucksacks in die Baumwolle seines T-Shirts. Eigentlich hatte er ja extra zwei Bücher eingepackt, die er auf der Fahrt lesen wollte. Anbetrachts der Tatsache, dass Berger sein Deutschlehrer war, kam ihm schnöde Fantasy und Science-Fiction mit einem Mal aber irgendwie kindisch vor.
Typen wie der da drüben lasen vermutlich nur die ‚Klassiker‘. Dass Berger las, daran bestand ja kein Zweifel. In den letzten Unterrichtswochen hatte Erik den Kerl oft genug mit einem Buch vor dem Unterricht gesehen. Leider hatte dabei nie zu erkennen gewesen, was das war.
Einer seiner Mitschüler stolperte an ihnen vorbei zum Fahrer und fragte den, ob sie Musik anmachen konnten, damit die Fahrt erträglicher wurde. Der Mittvierziger am Steuer seufzte kurz und deutete dann auf den anderen Fahrer.
„CDs oder MP3-Player an meinen Kollegen. Wenn da auch nur einmal Schweinkram drauf ist, könnt ihr den Rest der Fahrt über selbst singen.“
Erik konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als der Mitschüler murmelnd den Gang entlang zurück auf seinen Platz ging. Den MP3-Player, den er schon in der Hand gehalten hatte, nahm er jedenfalls wieder mit nach hinten. Vermutlich um das eine oder andere darauf noch einmal zu prüfen.
„Schadenfreude steht Ihnen nicht“, murmelte Berger und ließ Erik damit erschrocken zusammenfahren.
„Ich bin nicht ...“, setzte er an, brach jedoch ab.
Diesem Mann hatte Erik ja eh nie etwas vormachen können. Also warum lügen, wenn ihnen beiden klar sein dürfte, dass es nicht die Wahrheit war? Aber mal jemand anderen betreten aus der Wäsche gucken zu sehen war eben auch ganz nett. Vermutlich hatte Berger jedoch recht. Wenn er anstelle des Jungen gewesen wäre, würde er nicht wollen, dass man sich über ihn lustig machte.
‚Blödmann‘, dachte Erik erneut und drehte sich wieder zum Fenster. Warum musste der Kerl eigentlich ständig mit allem recht haben? Nur zu gern wäre er dabei, wenn der Berger sich irgendwann irren würde. Da könnte ihn garantiert auch kein schlechtes Gewissen um die gerechte Schadenfreude bringen.
Nach einer weiteren Stunde Fahrt, fühlte Erik sich zwar unverändert unwohl auf dem exponierten Platz, musste aber zugeben, dass der auch gewisse Vorteile hatte. Mit fortschreitender – jedoch dank Stau nicht wirklich vorwärtskommender – Fahrt, fanden sich die übrigen Schüler immer mehr in Gruppen zusammen. Die nächtliche Stunde schien auf die Stimmung ebenso keinen Einfluss zu haben. Auf den angestammten Sitzplätzen verweilten inzwischen die wenigsten. Stattdessen saßen einige im Gang oder auch zu dritt auf zwei Plätzen.
Allerdings alle in den hinteren Reihen des Busses. Vor Berger und ihm saßen lediglich die beiden Lehrerinnen, die Schüler von der anderen Seite des Ganges hatten sich nach weiter hinten verzogen. Irgendjemand hatte offenbar einen MP3-Player bereitstellen können, der keine verfänglichen Dinge enthielt, denn inzwischen dudelte eine bunte Mischung der verschiedensten Stilrichtungen aus den Lautsprechern.
Vereinzelt lauter werdendes Lachen erinnerte Erik zwar stetig daran, dass er einst ebenso Teil einer solchen Gruppe gewesen war, im Grunde war er allerdings froh, hier vorn halbwegs seine Ruhe zu haben. Obwohl er mit dieser ‚Ruhe‘ nicht wirklich viel mehr anzufangen wusste, als stupide aus dem Fenster zu starren. Denn die Alternative wäre gewesen, Berger anzusehen. Oder gar mit dem zu reden.
‚Keine Option.‘
Gemächlich zuckelte der Bus inzwischen wieder vorwärts, nachdem die Vollsperrung scheinbar endlich aufgehoben wurde. Währenddessen versuchte Erik, in der Dunkelheit, irgendetwas von Interesse zu finden. Erfolglos, wie er recht schnell zugeben musste. Denn wenn etwas zu erkennen war, dann waren das Felder, Wiesen, ab und an ein Berg, Wald oder eine Stadt. Definitiv nichts, was ihn für die nächsten ... Eriks Blick wanderte zu der digitalen Uhr vorn im Bus.
‚Acht Stunden und zwölf Minuten plus anhaltenden Stau.‘
Vorsichtig drehte er den Kopf ein paar zusätzliche Zentimeter nach links und konnte jetzt aus dem Augenwinkel Berger erkennen. Stirnrunzelnd bewegte Erik seinen Kopf weiter und betrachtete den unwillkommenen Sitznachbarn diesmal direkt. Der war offenbar eingeschlafen. Zumindest war der Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Langsam wanderte Eriks Blick tiefer, zu der sich gleichmäßig hebenden und senkenden Brust.
‚Wie kann der Kerl bei dem Krach schlafen?‘, fragte Erik sich verwundert, konnte sich aber von dem Anblick nicht trennen. Wie hypnotisiert starrte er weiter auf Berger. ‚Auf und ab.‘
Immer wieder. Stetig. Langsam. Zu langsam, als dass Eriks eigener Atem damit mithalten konnte. Und vor allem viel zu nah. Er bräuchte nur die Hand heben und schon wären seine Finger auf dem verdammten Hemd.
‚Warum zum Teufel trägt der Kerl bei erwarteten dreißig Grad im Schatten ein langärmliges Hemd?‘
Auch diese Frage schaffte es nicht, Erik abzulenken. Denn anstatt auf den Brustkorb zu starren, wanderten seine Augen jetzt die Knopfreihe entlang. Über den Hosenbund hinweg zu zwei gefalteten Händen, die dummerweise an genau der ‚richtigen‘ Stelle lagen. Jedenfalls wenn es darum ging, Erik daran zu erinnern, wer da neben ihm saß und vor allem wer da ein paar Reihen weiter hinten im Bus nur auf eine Gelegenheit warten dürfte, ihm eine reinzuwürgen.
Hastig drehte Erik sich herum und starrte aus dem Fenster. ‚Felder. Wiesen. Baum. Kirchturm‘, betete er vor sich hin, in der Hoffnung, dass der blödsinnige, wenn auch kaum erkennbare Trott da draußen seine Gedanken wieder auf die richtige Spur bringen würden. Zumindest davon abhalten, einen Weg zu wählen, der in diesem Bus verflucht unangenehm werden könnte.
Schlagartig wünschte Erik sich, die gleiche Ruhe wie Berger in sich tragen zu können. Dann würde er jetzt einfach die Augen zumachen und in ein paar Stunden wieder aufwachen. Wenn sie vermutlich noch nicht an ihrem Ziel, dem aber hoffentlich endlich mal deutlich näher gekommen waren.
Vorsichtig versuchte Erik, aus dem Augenwinkel erneut zu Berger zu schielen, aber ohne den Kopf zu drehen, war der nicht zu erkennen. Die Dunkelheit draußen bildete jedoch einen hervorragenden Hintergrund, um Berger in der Reflexion der Scheibe sehen zu können. Unruhig zappelte Erik hin und her, nur um sich prompt selbst zurechtzuweisen. Besser, er hielt still, sonst weckte er Berger auf. Mit einem Stirnrunzeln riskierte er jetzt doch einen erneuten Blick zu seinem Lehrer. Der schlief weiterhin seelenruhig.
‚Glücklicherweise willst du nicht zu den Spacken nach hinten, sonst müsstest du über ihn drüber klettern.‘
Bei dem Gedanken, dass er sich in irgendeiner Situation ‚über‘ Berger befinden könnte, stieg Erik schlagartig das Blut in den Kopf und der Puls in die Höhe. Genau genommen sackte das Blut, kaum dass es Eriks Wangen vermutlich knallrot hatte anlaufen lassen in die andere Richtung hinunter, um dort den Dienst zu verrichten. Hastig presste Erik die Hände in den Schritt.
‚Scheiß Idee!‘, bemerkte sein Verstand sinnloserweise, denn immerhin war das dämliche Arschloch da drinnen ja schuld daran, dass dieses verdammte Bild überhaupt in ihm aufgestiegen war.
Schnell drehte Erik sich zum Fenster um. Er versuchte, das linke Bein über das rechte zu legen, damit die krampfhafte Haltung der Hand, die weiter darum kämpfte, das Schlimmste zu verhindern, nicht so auffiel. Dummerweise störte der Rucksack zwischen den Beinen dabei extrem, denn weder waren die Sitze in diesem verfluchten Bus sonderlich breit noch sehr bequem. Wobei man die ja vielleicht nach hinten lehnen könnte. Und ohne die Armlehne in der Mitte, wäre auch genug Platz, um ...
‚Nicht dran denken‘, ermahnte Erik sich erneut.
Aber sich das zu sagen war ungefähr so, wie wenn man krampfhaft versucht, nicht an einen Mückenstich zu denken. Je mehr man darum kämpfte, ihn zu ignorieren, desto stärker juckte es. In diesem Fall war es eher ein Kribbeln, zusammen mit einem Pulsieren, im Rhythmus seines Herzschlages. Leider so gar nicht in der Brustregion, sondern definitiv eine viertel Körperlänge weiter unten.
‚Hormone sind dermaßen scheiße!‘
Wann hörte das eigentlich endlich auf? Gestandene Männer saßen doch auch nicht den ganzen Tag mit einem Steifen rum, nur weil ein paar Titten, respektive ein hübscher Hintern, vorbeigelaufen kam. Oder? War das so ein ‚erwachsen werden‘ Ding, das ihn mit inzwischen neunzehn immer noch nicht erreicht hatte?
‚Hat Berger das gemeint?‘
Erik runzelte die Stirn, während das Pulsieren allmählich weniger und auch das Ziehen in den Eiern nicht mehr stärker wurde. War es diese Dauergeilheit, die ihn zum Kind machte? Oder die Tatsache, dass die bloße Vorstellung davon, wie der Blödmann da drüben am Strand endlich das beschissene Hemd los wurde, Eriks Hose gleich ein Stück enger erscheinen ließ?
Erik stellte den Ellenbogen auf die dünne Kante am Fenster und stützte das Kinn darauf. Mit einer Hand vorm Mund fixierte er erneut einen Punkt, irgendwo weiter weg, während die andere weiterhin vorsorglich über seinem Schritt lag. Wenn diese Dauergeilheit tatsächlich das Einzige war, was ihm davon trennte, in Bergers Augen ein Erwachsener zu sein, dann würde sich daran wohl kaum in nächster Zeit etwas ändern. Dafür hatte Erik zu viele Kurz- und auch Spielfilme über den Kerl im Kopf. Nicht, dass er irgendeine Idee gehabt hätte, wie der Protagonist unter dem blöden Hemd und der vermutlich wieder viel zu gut sitzenden Jeans tatsächlich aussah. Aber das tat seiner Vorstellungskraft keinen Abbruch.
Hastig schloss Erik die Augen und atmete tief durch, um den Gedanken zurückzudrängen. ‚Ines. Denk an Ines‘, sagte er sich selbst. Denn wenn er an die dachte, schob sich unweigerlich der Affenkönig ins Bild und bei dem verging Erik jeder Ständer recht zügig.
Tatsächlich half es zumindest genug, damit sein ‚Zustand‘ nicht allzu offensichtlich wäre, falls jemand vorbei kam. Ansonsten quälten sie sich weiterhin über die Autobahn. Nach drei Stunden fuhr der Fahrer einen kleinen Parkplatz an, bei dem es gerade einmal für ein öffentliches Klo gereicht hatte, jedoch nicht für einen echten Rastplatz.