86 – Geplantes Ende
„Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße!“
Wie hatte ihm ausgerechnet das bitte passieren können? Den ganzen verfickten Abend hatte Erik Berger angestarrt, hatte seine Augen kaum von dem Mann lösen können, damit er auch ja nicht den verfluchten Moment verpasste, wenn der Kerl endlich aufstand. Erik hatte geduldig gewartet. Während des Essens und dieses bescheuerten Programms, das irgendwelche Volltrottel zusammengestellt hatten. Selbst die Qual von Hannas hochrotem Kopf, während sie Berger zur Wahl des ‚beliebtesten Lehrers‘ in der Oberstufe verkündete.
Nachdem seine Mutter sich verabschiedet hatte, war Erik geblieben. Mit einem falschen Lächeln auf den Lippen hatte er ihr gesagt, dass jetzt schließlich der unterhaltsame Teil des Abends anfangen würde. Nicht, weil er das wirklich dachte, sondern schlichtweg, damit sie sich keine Sorgen um ihn machte.
Erik hatte wenigstens versuchen wollen, ein anständiger Sohn zu sein, der seiner Mutter an diesem Abend keinen weiteren Kummer bereiten würde. Ihre Sorge nach dem Gespräch vom Nachmittag hatte sich garantiert nicht in Luft aufgelöst. Aber wenigstens war sie mit einem zögerlichen Lächeln auf den Lippen verschwunden.
Auch nachdem diese Vollidioten aus Eriks Jahrgang Berger und zwei Lehrerinnen zum Bleiben überredet hatten, war er selbst geduldig geblieben. Saß auf seinem Platz, wie der Musterschüler schlechthin. Gut, Erik hatte vermutlich reichlich finster in die Gegend gestarrt, während jedes verfluchte weibliche Wesen im Raum es darauf angelegt hatte, wenigstens einmal mit Berger zu tanzen.
Dieses geradezu überschwängliche Gefühl von Zufriedenheit, nachdem keine von denen es schaffte, den Kerl tatsächlich dazu zu bringen zuzustimmen, war das Einzige gewesen, was Erik in den letzten zwei Stunden über Wasser gehalten hatte. Warum Berger nicht einfach gegangen war, war ihm ein Rätsel.
Und jetzt?!
Stürzte Erik hier die Treppen des Hotels herunter, war kurz davor sich dabei den Hals zu brechen. Und das nur, weil er für ein paar beschissene Sekunden abgelenkt gewesen war.
„Fuck!“, rief er erneut.
Mit einem Sprung über die letzten sechs Stufen der Treppe im Foyer konnte Erik sich selbst gerade noch abfangen, bevor er eben diese hinunter gestürzt wäre.
Vermutlich starrten ihn schon alle möglichen Leute an, weil er fluchend durch die Gegend stolperte. So sehr Eriks Anstand auch versuchte, dieses Argument ins Feld zu führen, damit er sich endlich beruhigte, es brodelte zu stark in ihm.
Der verdammte Blödmann von Deutschlehrer war weg! Und zwar ohne Erik diese verfluchte Antwort zu geben! Dabei war das garantiert die letzte Chance gewesen, um überhaupt noch mit Berger zu reden. Jedenfalls wenn man von irgendwelchen absolut illusorischen Zufällen absah, auf die Erik lieber nicht zu hoffen wagte.
Selbst die schon fast sichere Gewissheit, dass er sich ohnehin nur die Abfuhr abholen würde, die Berger ihm am Vorabend erspart hatte, konnte Erik nicht abhalten. Er war hier aufgeschlagen, hatte sich dieses verdammte Essen reingezogen, das jämmerliche Programm und die damit verbundene stundenlange Folter ertragen. Wortwörtlich nur wenige Meter vor dem Ziel, ohne es tatsächlich überschreiten zu können. Und wofür?! Damit ihm der Mistkerl jetzt doch wortlos entkam?
„Er hat es versprochen, verdammt noch einmal!“, zischte Erik zwischen zwei Atemzügen.
Wenigstens keuchte er dank des regelmäßiger gewordenen Joggens nicht jetzt schon aus dem letzten Loch. Trotzdem brannte es in Erik. Nicht die Lunge vor Anstrengung, nicht der Magen vor Wut, sondern irgendwo dazwischen. Da, wo sich einige Tage zuvor noch ein verdammtes Loch befunden hatte, von dem Erik nicht wusste, wie er es schließen sollte. Und jetzt, wo ihm das endlich klar war, verschwand der dumme Berger einfach und ließ ihn doch mit diesem verdammten Loch in der Brust zurück.
‚So darf es nicht enden!‘
Als ob das der einzige Grund war, warum er sich hier abhetzte. Einem Kerl hinterherrannte, der offensichtlich nicht einmal mehr den Mut besaß, Erik diese verdammte Absage zu erteilen! Die ganze Woche schon nicht. Berger hatte ihn hingehalten, hatte ihm das ‚Nein‘ verweigert, das Hanna scheinbar ständig unter die Nase gehalten worden war.
Das Brennen wurde stärker, ein Reißen und Ziehen an einer Stelle, wo es nichts zu suchen hatte, weil da doch gar nichts mehr war, an dem man noch herumzerren konnte. Trotzdem stürmte Erik weiter, ignorierte die dämliche Stimme in seinem Kopf, die versuchte ihm einzureden, dass er sich lächerlich aufführte, kindisch und albern. Wenn Berger Interesse hätte, wäre er doch wohl nicht einfach von dem beschissenen Ball verschwunden!
Erik rannte weiter, aus der großen Eingangstür hinaus und die Stufen vor dem Hotel herunter. Schon wieder stolperte er. Ein hastiger Griff zum Geländer neben der Steintreppe konnte ihn jedoch erneut abfangen. Mit allmählich doch vor Anstrengung bebender Brust hielt Erik am Fuß der Treppe schließlich inne. Er ließ seinen fahrigen Blick über den kleinen Park gleiten, der sich vor dem Hotel bis zur Straße erstreckte.
Es war niemand zu sehen. Und das machte Erik endgültig zum Vollversager – auf ganzer Linie. Außerdem zu einem Feigling, der sich schlicht den Abend über nicht getraut hatte, zu Berger rüberzugehen und den anzusprechen. Am Ende hatte Erik nicht einmal gemerkt, wie der Blödmann verschwunden war.
Vom Abiball, aus dem Hotel, aus seinem verdammten Leben.
Für eine Sekunde war da der Gedanke, dass er Berger womöglich in ein paar Wochen im Rush-Inn treffen würde. Aber kaum war der da, wusste Erik nicht mehr, ob er diesen Augenblick erhoffen oder verfluchten sollte. Bei seinem Glück in diesem Schuljahr bisher wäre Berger nicht alleine dort. Und wenn doch, würde er in Begleitung gehen. Nur nicht in Eriks.
Ächzend ließ er den Kopf hängen. So gemein konnte nicht einmal Berger sein – hoffentlich.
Es war eine Sache, zu wissen, dass er dem Mann das Risiko nicht wert war. Eine, mit der Erik vielleicht irgendwie sogar klargekommen wäre. Berger kurz darauf mit jemand anderem zu sehen, würde sich trotzdem anfühlen, als ob ihm Erik gar nichts wert gewesen war. Nicht einmal die paar Worte, um ihm endlich diese Abfuhr zu erteilen. Einfach hängengelassen – in dieser verteufelten Unwissenheit, ob es unter anderen Umständen vielleicht eine Chance gegeben hätte.
„Scheiße ...“, flüsterte Erik mit zitternder Stimme.
Aber womöglich war es besser so. Zumindest versuchte er, sich das einzureden. Schließlich hatte Erik ursprünglich nichts von dem hier gewollt. Noch vor einer Woche hatte er Berger dafür verflucht, dass dieser irgendwelche Fantasien in ihm auslöste – und darum gebetet, dass die verdammte Abschlussfahrt ihm diese abgewöhnen würde.
Aber irgendwie war alles anders gekommen. Auf der einen Seite schlimmer, denn ein paar schlichte Fantasien hätten sich ja womöglich irgendwann verloren. Andererseits wollte Erik das verdammte Gefühl in seiner Brust nicht mehr loslassen – jetzt, wo er es kannte.
„Scheiße“, fluchte er erneut unterdrückt und schüttelte den Kopf.
Noch einmal sah Erik zu dem kleinen Parkweg, der vom Hotel zur Straße führte. Der war weiterhin leer. Dabei wäre es zur Abwechslung genau der passende Moment gewesen, dass Berger plötzlich vor ihm stand. Der Kerl hatte doch sonst stets die Angewohnheit gehabt, in den unpassendsten Augenblicken aufzutauchen. Jetzt, wo es zur Abwechslung der ‚richtige‘ Zeitpunkt war, blieb Berger fern.
Wenn Erik gewusst hätte, wo der Kerl wohnte, wäre er vielleicht sogar versucht gewesen, dorthin zu fahren. Für einen Augenblick zumindest. Bis zu dem Moment, an dem Erik klar werden würde, dass er Berger das Versprechen gegeben hatte, genau das nicht zu tun.
Enttäuscht trat Erik ein Stück beiseite in Richtung der Steinmauer, die sich rund um das Hotelgelände zog. Dahinter ging es steil bergab. Glücklicherweise brauchte Erik zu seiner Angst vor tiefem Wasser nicht auch noch die vor Höhen hinzuzufügen. So war alles, was er vor sich sah, die friedlich leuchtenden Lichter der Stadt.
Irgendwo dort unten war Berger – auf dem Weg nach Hause. Den in seine eigene Wohnung wollte Erik im Moment lieber nicht antreten. Am Ende wachte seine Mutter bei seiner Heimkehr auf und würde Fragen stellen.
Erik fuhr sich über die müden Augen. Nein, vermutlich würde sie das nicht. Sie würde ihn einfach nur ansehen und genau wissen, was passiert war. Besser gesagt, was nicht passiert war. Das Mitleid wollte Erik heute in ihren Augen kein zweites Mal sehen. Sie würde genau wissen, dass er gescheitert war. Dabei hatte er es nicht einmal versuchen können – nicht wirklich. Erik schwankte für zwei, drei Schritte, bevor er die Mauer erreichte und sich mit den Unterarmen darauf stützte.
„So war das nicht geplant“, murmelte Erik enttäuscht.
Ein kurzes Frösteln lief durch seinen Körper, dabei war die Luft nach den hochsommerlichen Temperaturen des Tages selbst jetzt mitten in der Nacht nicht wirklich kühl.
„Was hatten Sie denn geplant?“
Überrascht fuhr Erik herum und sah sich um. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis er den Mann im Halbdunkel etwas weiter die Mauer entlang ausmachte.
Obwohl der Eingang zum Hotel sehr gut und der Park ebenfalls ausreichend beleuchtet war, wurde das Licht an der Seite des Gebäudes, die kleine Mauer am Hang entlang immer weniger. Trotzdem hatten sich Eriks Augen schnell an das Halbdunkel gewöhnt. Wobei er im Grunde selbst in absoluter Dunkelheit gewusst hätte, wer dort stand. Die Stimme war schließlich unverkennbar – jedenfalls für ihn. Was das zunehmend stärker werdende Pochen in Eriks Brust bestätigte. Trotzdem kämpfte sein Hirn darum, die Informationen endgültig zu verarbeiten und wirklich in Gang zu kommen. Als hätten sich die Räder im Getriebe verhakt, herrschte in Eriks Kopf absoluter Stillstand.
„Wieder einmal zu viel Chaos im Hirn?“, meinte Berger mit einem Schmunzeln und trat ein Stück auf Erik zu und damit auch weiter ins Licht.
„Nein. Heute nicht“
Wie sein Hirn es geschafft hatte, überhaupt eine Erwiderung hervorzubringen, war Erik ein Rätsel. Noch immer hatte er das Gefühl, als würde sich in seinem Kopf schlicht nicht das zusammenfügen konnte, was zusammen gehörte. Deshalb stand Erik einfach nur da und starrte Berger an, während der einige weitere Schritte auf ihn zulief.
Die Hände in den Hosentaschen, das dunkelblaue Sakko offen, die Krawatte saß nicht mehr ganz gerade. Ein Sinnbild des sexy Badboy, den Erik während der Klassenfahrt getroffen hatte – mit dem Unterschied, dass der heute einen auf elegant machte.
Trotzdem fühlte es sich wieder einmal so an, als würde man auf eines dieser Suchbilder blicken, in denen man die Fehler finden sollte. Verwundert runzelte Erik die Stirn, bis er endlich begriff, dass es nur eine Sache war, die nicht ins Bild passte.
‚Er ist noch da.‘ Prompt legte das Pochen in seiner Brust an Tempo wie auch Stärke zu.
„Ich ... hatte geplant, mit Ihnen zu reden“, brachte Erik heiser heraus. „Nein, das trifft es nicht ganz.“
Berger zog die Augenbrauen nach oben und trat erneut einen Schritt auf Erik zu. Noch zwei weitere und sie wären keine Armlänge mehr auseinander. Tatsächlich fühlte es sich aber weiterhin so an, als lägen da Kilometer zwischen ihnen. Vielleicht war deshalb dieses zögerliche kaum wahrnehmbaren Lächeln auf Bergers Lippen. Kein falsches, wohlgemerkt. Ein ehrliches. Und dennoch wirkte es traurig – leidend.
Weitere Schmerzen brachen aus Eriks ohnehin schon in Flammen stehender Brust heraus. Es war alles so viel leichter gewesen. Früher. Letztes Jahr. Vor ein paar Monaten. Einer Woche. Dieser ganze Gefühlsmist war scheiße! Wer tat sich das freiwillig an? Warum? Irgendwie schien dabei immer jeder verletzt zu werden. Erik hatte die Schnauze voll davon, sich ständig dermaßen mies zu fühlen. Was war bitte so toll daran, wenn man sich verliebte?
Erik schluckte – fuhr trotzdem fort. Denn etwas anderes konnte er jetzt sowieso nicht mehr tun. Wenn das hier schon in Qualen enden sollte, wollte Erik es hinter sich bringen. Und zwar ohne dass er sich für den Rest seines Lebens fragen musste, ob es vielleicht hätte anders laufen können, wenn er nicht auf diesen beschissenen Anstand gehört hätte.
„Genauer gesagt, wollte ich Sie überreden“, sagte Erik. Der Versuch, dabei zu grinsen, schlug eher ins Gegenteil um, woraufhin er beschämt den Mund verzog. „Zu der richtigen Antwort. Ich wollte Ihnen irgendetwas so Geistreiches und ... Perfektes sagen, dass Sie gar nicht anders können, als auf diese ganzen ... Idioten zu pfeifen und ... mit mir auszugehen.“
Da war weiterhin dieses bedauernde Lächeln auf Bergers Lippen, als er weiter nachfragte: „Und was wäre das?“
„Ich hab keine Ahnung.“
Berger schnaubte und schüttelte den Kopf. Er wandte sich ab, sah über die Mauer hinweg auf die hell erleuchteten Häuser der Stadt hinunter. Für einen Moment sah es so aus, als würde da ein ganzer Haufen Sterne nicht nur über, sondern ebenfalls unter ihnen leuchten.
„Zu schade.“
War das ein Seufzen, das Erik um das verhalten geflüsterte Wort herum hörte? Wieder steigerte sich der Rhythmus in seiner Brust, verstärkte sich das Hämmern.
„Ja“, brachte Erik mit einem gequälten Lächeln heraus. „Denn es wäre so genial gewesen, dass Sie ja gesagt hätten. Egal, was alle anderen denken. Weil am Ende schließlich nur zählt, was Sie denken und was ... Sie fühlen. Und ich. Und ...“
Erik stockte. Das klang nicht einmal annähernd so gut, wie er gehofft hatte. Nur zu offensichtlich erzielten die Worte ebenso wenig die beabsichtigte Wirkung. Berger sah nicht einmal zu Erik hinüber – starrte stattdessen weiter auf die Lichter der Stadt unter ihnen.
„Ich bin nicht einfach nur neugierig“, brachte Erik schließlich heiser krächzend hervor. „Ich mag sie. Wahrscheinlich mehr als ich sollte. Und ganz sicher mehr als ich ... mir vor ein paar Monaten noch hätte vorstellen können. Also ... Wenn Sie auch nur ansatzweise das für mich empfinden, was ich ... fühle, dann machen Sie nicht das, was alle von Ihnen erwarten. Machen Sie das, was Sie wirklich wollen.“
Eine gefühlte Ewigkeit passierte gar nichts, dabei konnten es maximal ein paar Sekunden gewesen sein, bis Berger aus der Jackentasche eine Packung Zigaretten hervorzog und sich eine davon zwischen die Lippen schob. Eriks Augen hingen förmlich an den schlanken Fingern, während die als Nächstes ein Feuerzeug aus der Hosentasche holten und die Zigarette anzündeten.
Eine Antwort bekam Erik allerdings weiterhin nicht. Am Ende passierte eben doch das, was von Anfang an absehbar gewesen war: Im entscheidenden Moment hatte Erik keine Ahnung, was er sagen sollte, und Berger schien ihm dieses ‚Nein‘ ebenso nicht geben zu können. Vollversagen auf der ganzen Linie.
„Etwas ... in der Art hätte ich wohl gesagt“, murmelte Erik und sah nun seinerseits auf die Lichter der Stadt hinunter.
„Und danach? Wie ging er denn weiter? Ihr ... Plan.“
Überrascht sah Erik zu Berger, der zog jedoch nur an seiner Zigarette und sah weiterhin nicht zurück. Das schmerzhafte Reißen in Brusthöhe war mit einem Schlag verschwunden, machte stattdessen der Wut Platz. Wut nicht auf Berger, sondern sich selbst. Weil er hier stand und sich einen abstotterte wie ein unsicheres Kind, anstatt endlich die Eier in der Hose zu haben, um zu sagen, was er dachte und wollte. Ehe Erik es sich versah, war er die zwei Schritte zu Berger hinübergetreten, zog dem die Zigarette aus dem Mund und drehte seinen Kopf zu sich. Wenn Erik sich hier schon eine Abfuhr und womöglich eine Ohrfeige einholte, sollte Berger ihm dabei wenigstens in die Augen sehen.
„Wollen Sie das wirklich wissen?“, presste Erik heraus.
Etwas kitzelte an seiner Daumenspitze. Lächelte Berger? Vielleicht – oder auch nicht. Um sicher zu sein, hätte Erik den Blick senken müssen. Stattdessen starrte er weiterhin in grüne Augen, die ihn wieder einmal aufzufordern schienen, sich endlich nicht mehr zurückzuhalten.
„Nachdem mein reichlich dilettantisches Geständnis Sie geradewegs von den Socken gerissen hat, hauen wir hier ab“, meinte Erik heiser. „Ganz sicher wollen Sie nicht zu mir nach Hause, also fahren wir zu Ihnen.“
Schon wieder stockte er, für einen Augenblick unfähig weiterzumachen. Eriks Fantasien über Berger waren das eine, die Realität etwas völlig anderes. Und auf eine gewisse Art und Weise passt beides heute nicht zusammen. Erik fühlte sich in der Tat reichlich unzulänglich – in jeder nur erdenklichen Hinsicht. Kein Wunder, dass Berger ihn weiterhin für ein Kind hielt.
„Und dann?“, fragte der stattdessen zurück – und schon wieder kitzelte es an Eriks Daumen, während Bergers Mundwinkel sich verzogen. „Was folgt nach dieser Nacht?“
Nun senkte Erik doch den Blick, wanderte von den grünen Augen über die schmale Nase hinab bis zu den Lippen. Vorsichtig fuhr er mit dem Daumen nach links. Die weiche Haut darunter war warm und feucht. Wie gebannt hingen Eriks Augen an der Stelle, an der sein Finger diese Lippen berührte, die ihm vor all den Wochen am letzten Unterrichtstag den Todesstoß versetzt hatten.
Im Verlauf des vergangenen Jahres hatten sie Erik angeschnauzt, gereizt, verhöhnt, ausgelacht, angelächelt, verführt und vermutlich noch tausend andere Dinge mit ihm angestellt, die Erik nicht einmal hätte bezeichnen können. Dabei wusste er sehr genau, was passiert war. Seiner Mutter gegenüber hatte er doch auch ehrlich sein können.
„So viel mehr – hoffe ich“, murmelte Erik, ohne sich der Worte wirklich bewusst zu sein.
Anstatt sich vorzubeugen und Berger endlich zu küssen, ließ Erik seine Hand von dessen Wange zum Kinn gleiten, von dort weiter hinab, bis die Fingerspitzen auf dem lockeren Knoten der Krawatte lagen. Erik umgriff ihn und zog stockend daran, um ihn zu lösen. Das Bild vor ihm verschwamm, während Eriks Augen an dem von silbrig glänzenden Linien durchzogenen dunkelblauen Stück Stoff zwischen seinen Fingern hingen. Wie in Zeitlupe ließ er seinen Blick wieder nach oben wandern, bis er erneut zu Bergers Augen kam. Das Grün darin war allerdings kaum noch zu erkennen.
Über ihnen die Sterne, hinter Berger schimmerten die Lichter der Stadt. Aber alles, was Erik sah, waren diese zwei Augen, die schwärzer nicht hätten sein können – und ihn dennoch anzufunkeln schienen. Als wollten sie ihn festhalten, damit er nicht wegrannte. Was total lächerlich war, denn schließlich lag ihm nichts ferner.
„Wie ist Ihre Antwort?“, fragte Erik heiser. „Ihre. Nicht die der anderen.“
In seiner Brust hämmerte es wie wild, während es ihm eine Etage tiefer den Magen umdrehte. Die Angst, dass genau dieses ‚Nein‘ nun kommen würde, grub sich mit immer größeren Krallen in Eriks Brust. Er brauchte seine Antwort, egal wie schmerzhaft es werden würde.
Was er bekam, war jedoch nur Schweigen. Weiterhin. Zusammen mit dem beinahe sekündlichen Schwanken zwischen Hoffen und Verzweiflung. Warum antwortete der Kerl nicht?
Als Erik sich schließlich gegen Berger drängte, wich der prompt zurück. Weit kam er allerdings nicht. Denn da war weiterhin die Mauer in Bergers Rücken. Mit einem Mal war da auch eine Hand, die sich fest gegen Eriks Bauch drückte und ihn zurückhielt. Automatisch spannte er die Bauchmuskeln an, stemmte sich dagegen. So wie die Hand ihn abhielt, schrien Bergers Augen weiterhin ein ‚Ja‘.
„Was bleibt tatsächlich nach dieser Nacht, Erik?“
Im Halbdunkel fiepte und summte es vor sich hin. Dank des klaren Himmels leuchtete da oben wohl gerade so einiges – Sterne, Mond, was auch immer. Rechts neben ihm ging es hinab ins Tal, wo die Lichter der Stadt weiterhin mit dem Sternenhimmel konkurrierten. So klischeehaft romantisch, dass Erik sich sogar einbildete, die Kirchturmglocke läuten zu hören. Eins, zwei, drei, vier. Der Klang verhallte irgendwo, während sein Hirn es nicht schaffte, die nachfolgenden Schläge zu zählen. Irgendwie verdammt passend für einen dieser Liebesfilme, die sein Ex Dominik geliebt und Erik nie verstanden hatte. Weil das alles dermaßen übertrieben und lächerlich wirkte.
Trotzdem fragte er sich unwillkürlich, ob das die Art von Romantik war, die Berger mochte. Ob der auf dieses ganze Zeug stand, das Erik immer als kitschig und weibisch abgetan hatte? Es passte alles so verdammt perfekt ins Bild, dass es schon fast irreal wirkte. Es fehlte nur noch diese Antwort, das ‚Ja‘ von Berger zu einer Verabredung, Eriks Chance einer möglichen gemeinsamen Zukunft. Aber sie kam nicht. Da war schon wieder nichts mehr als Schweigen – schwer und viel zu erdrückend für die doch eigentlich ideal erscheinende Stimmung.
Schon öffnete er den Mund, um Berger zu fragen, was der wirklich für einen Mann wollte, da zuckte eine Erinnerung in ihm hoch. Hatte Erik ihn das nicht schon einmal gefragt? Es dauerte einen Moment, bis es ihm einfiel. Diese Nacht vor ein paar Tagen, in der er Berger fragte, was für einer Art Mann dieser eine Chance geben würde.
„Einem Gedankenleser.“
Zu dem Zeitpunkt war Erik angefressen gewesen, weil er es für eine weitere Ausrede hielt. Aber was, wenn es das nicht war? Ruckartig beugte Erik sich vor, während sein Daumen die Unterlippe ein Stück nach unten drückte. In dem Moment, als er seine Lippen auf Bergers legte, schloss Erik die Augen.
Ein vermutlich reichlich kindischer Teil seiner selbst erwartete, dass etwas geradezu Spektakuläres passierte. Ein Feuerwerk. Blitze, die durch seinen Körper zuckten. Irgendetwas. Schließlich war das hier der Moment! Das war der Kuss, auf den Erik eine gefühlte Ewigkeit gewartet hatte.
Es war nicht da – weder der Blitz noch das Feuer. Und trotzdem fühlte es sich so verdammt perfekt an. Denn da war durchaus irgendetwas. Nichts, das plötzlich da war – eher etwas, das schlagartig verschwand.
Dieses beschissene Loch in Eriks Brust, das ihn in den letzten Tagen so oft gequält und dabei sein Inneres zerrissen hatte. Berger wehrte sich nicht, wies ihn ebenso nicht zurück. Die Hand an Eriks Bauch lag schlichtweg dort, stieß ihn nicht weg, zog ihn aber auch nicht näher heran. Weil sie das niemals tun würde. Sie würde nicht ziehen, würde ihn nicht herunterreißen in die Dunkelheit, in der Berger sich selbst sah. Aber das machte keinen Unterschied mehr, denn entscheidend war schließlich nur, dass sie Erik nach dem Sprung auffing.
Er hob die linke Hand, hielt Bergers Kopf nun mit beiden in Position, während er den Kuss vertiefte. Ungebremst, ungestüm, aber nicht unerwidert. Zwar stützte Berger sich weiterhin mit einer Hand hinten an der Mauer ab, die andere wanderte jedoch gerade über Eriks Bauch hinweg zur Seite, krallte sich dort förmlich in das Hemd.
Ein kurzes Aufbäumen, während dem sich Bergers Hüfte ihm mit einem Mal entgegenstreckte. Nur langsam löste Erik sich von den Lippen, wanderte weiter, am Kinn entlang zum Hals. Das unterdrückte Keuchen war kaum zu hören, als Erik den Halsansatz erreichte und Berger nach Luft schnappte.
Mit der Rechten zog Erik diesen näher zu sich heran, während er gleichzeitig mit der Linken den Kragen von Sakko und Hemd beiseiteschob. Wie oft hatte er schon seine Lippen auf diese Stelle gelegt? Für einen Moment war Erik von dem Gedanken abgelenkt. Schmerz durchzuckte seine Kopfhaut, als mit einem Mal etwas unangenehm an seinen Haaren zog. Aber das Ziehen verschwand sofort wieder, der Griff wurde leichter, sanfter. Trotzdem ließ Berger die Hand in Eriks Haaren, hielt auf diese Weise seinen Kopf gefangen.
Hätte Erik sich dagegen gesträubt, würde Berger ihn garantiert sofort loslassen. Aber warum sich sträuben? Er war schließlich endlich dort, wo er sein wollte.
„Nach dieser Nacht bleibt mir hoffentlich jede Menge Zeit, Sie wirklich kennenzulernen“, flüsterte Erik.
Seine Hände zitterten. Er schaffte es dennoch nicht, der Versuchung zu widerstehen. Erneut beugte Erik sich vor, spielte einen Moment mit Bergers Unterlippe, bevor er sich an dessen wie immer glattrasiertem Kinn entlang in Richtung Ohr vorarbeitete.
„Aber ich werde mir nehmen, was ich will“, flüsterte Erik weiter. „Weil es genau das ist, was Sie wollen.“
Das zittrige Beben unter seiner Hand wurde stärker. Davon ließ Erik sich allerdings nicht beirren, presste einen Kuss nach dem anderen vom Ohr hinab den Hals entlang. Dorthin, wo Erik das heftige Pulsieren des Blutes unter der Haut an seinen Lippen fühlen konnte. Ein Puls, der im gleichen Rhythmus zu rasen schien wie sein eigener. Ehe er es sich versah, versenkten Eriks Zähne sich in Bergers Schulter. Ein kurzes Zischen, aber er wurde nicht weggestoßen.
„Und ich werde erst damit aufhören, wenn Sie es mir sagen“, fuhr Erik fort, was ihm diesmal eine zögerliche Hand an seiner Hüfte einbrachte. Seine Küsse wanderten noch ein Stück tiefer.
„Und wenn ich nichts sage?“
Erik lachte leise, presste einen weiteren Kuss an Bergers Halsbeuge, fuhr mit der Zunge über das Mal, das er dort hinterlassen hatte. Lange würde es nicht überdauern, so fest hatte er nicht zugebissen, aber es ließ sich ja jederzeit erneuern. Ein Zeichen, dass dieser Mann vergeben war, dass er zu ihm gehörte und andere gefälligst ihre Dreckspfoten von ihm zu lassen hatten.
Seufzend schloss Erik für einen Moment die Augen.
„Ich habe es Ihnen schon mehrmals gesagt“, gab er schließlich mit einem Schmunzeln zurück. „Ich werde nichts tun, was Sie nicht wollen.“
Der Griff in seinen Haaren lockerte sich. Da war ein zögerliches Lachen neben seinem Ohr, dessen Atem Erik kitzelte. „Sicher, dass du weißt, was ich will?“
Diesmal stemmte Erik sich gegen den Griff in seinen Haaren und richtete sich auf, um Berger ansehen zu können. Fast erwartete er ein schelmisches, herausforderndes Grinsen. Da war nur ein zögerliches Lächeln. Nicht der sexy Badboy, der zum Spielen aufforderte, sondern der unsichere Teenager. Ein Berger, der Erik keine neun Jahre mehr voraus war. Stattdessen jemand, der mit ihm gemeinsam auf einen Weg starten konnte, den sie beide nicht kannten.
„Was ich nicht weiß, werde ich rausfinden“, antwortete er auf Bergers Frage. „Und ich werde erst aufhören, wenn ... du ... es mir sagst.“
Die ungewohnte Anrede brachte für einen Moment Eriks Herzschlag aus dem Takt. Es fühlte sich merkwürdig an, noch nicht ganz richtig. Wie schon zuvor legte Erik seine Hand an Bergers Wange und rieb mit dem Daumen über die feuchten Lippen, die er eben noch geküsste hatte. Küssen durfte. Es war kein wütend und frustriert herausgeschrienes ‚Nein‘ gewesen, was darauf folgte, sondern stattdessen ein stummes, heimliches ‚Ja‘, das nach mehr verlangte.
„Ich habe nicht vor, das hier schnell zu beenden“, wisperte Erik lächelnd. „Also kann ich mir ja Zeit lassen.“
Plötzlich schlug ihm Berger mit der Faust gegen die Brust und schubste ihn dabei ein Stück weit von sich. Überrascht und verwirrt lockerte Erik prompt seinen Griff und trat einen halben Schritt zurück. Schon öffnete er den Mund, um etwas zu entgegnen, da lachte Berger mit einem Mal und fuhr sich dabei kopfschüttelnd durch die Haare.
„Noch mehr Zeit lassen? Echt jetzt?“
Vielleicht hätte Erik von dem frustrierten Ton getroffen sein sollen, aber tatsächlich entlockte ihm Bergers Herausforderung ein eigenes leises Lachen. Da war er wieder, der widerborstige Sturkopf, der sich hinter einer Fassade versteckte, die Erik doch schon lange durchschaut hatte.
„Hör auf damit“, forderte er Berger deshalb flüsternd auf – zog dessen Hüfte zu sich heran und stellte zufrieden fest, dass er hier nicht der Einzige war, dessen Körper schon ein, zwei Schritte voraus war.
„Womit genau?“
„Dich zu verstecken“, flüsterte Erik weiter. Seine Arme zogen sich fester, bis da ganz sicher kein Blatt mehr zwischen sie passte. „Ich mag den sexy Badboy. Sehr sogar. Aber das ist nur eine Fassade. Ich will den Menschen dahinter endlich sehen.“
Berger schwieg zunächst, drückte Erik aber nicht weg. Wenn überhaupt, schien er sich noch viel deutlicher in seine Umarmung fallen zu lassen. Geduldig wartete Erik auf eine Antwort.
Und nach einer gefühlten Ewigkeit kam sie – irgendwie. Dieses kaum verständlich gemurmelte „Rob ... Robert.“
Es dauerte einen Moment, bis er kapierte, was Berger damit meinte. „Hi. Nett ... dich ... kennenzulernen. Ich bin Erik“, gab er feixend zurück und erntete dafür einen weiteren Schlag – diesmal an seiner Hüfte.
„Was jetzt?“, fragte Berger flüsternd.
Erik lächelte, während er mit der Hand unter Bergers Sakko und über dessen Rücken fuhr. Eine gute Frage, aber eine, die sich noch nicht stellte.
„Jetzt bekomme ich hoffentlich die richtige Antwort.“
Berger stöhnte, ließ den Kopf gegen Eriks Brust fallen und schüttelte ihn. „Die hast du doch schon längst.“
Das Lächeln kam von ganz allein auf seine Lippen. Für einen Augenblick schloss Erik die Augen und atmete tief durch. Berger stand noch immer hier, wehrte sich nicht einmal gegen die anhaltende Umarmung. Auch ohne die Worte zu hören, war das ein recht klares ‚Ja‘ in Eriks Augen.
„In dem Fall würde ich ... dich gern nach Hause und das hier zu Ende bringen“, setzte Erik an. „Aber ...“
Das ‚du‘ kam ihm weiterhin nur schwer über die Lippen. Es fühlte sich ungewohnt, beinahe falsch an. Berger – Robert – war allerdings nicht mehr sein Lehrer. Er war lediglich ein Mann. Einer, der offenbar bereit war, Erik diese Chance zu geben. Selbst wenn der Rest der Welt dagegen sein sollte. Wie automatisch verstärkte sich erneut sein Griff um den schlanken Körper in seinen Armen.
„Aber?“
Erik lächelte, obwohl Berger das nicht sehen konnte. Denn dessen Gesicht war weiterhin an Eriks Brust verborgen. „Ich bin nicht sicher, wie lange ich nach dieser Achterbahnfahrt heute durchhalte.“
Bergers leises Lachen war irgendwie beruhigend.
„Aber wenn du mich lässt, bringe ich dich trotzdem jetzt gern nach Hause“, fuhr Erik fort. „Da ... muss schließlich nichts weiter passieren. Eine Mütze voll Schlaf und ab morgen früh ... will ich dich endlich wirklich kennenlernen.“
„Und dann?“
„Danach werde ich anfangen, daran zu arbeiten, dass sich dieser blöde Aufsatz über meine Zukunft erfüllt.“
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis endlich die Antwort kam, auf die Erik schon so lange gewartet hatte: „Der Plan gefällt mir.“
Nicht das ENDE
Auch nicht für Teil 2
Aber für den Samstag...
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A/N:
Wie man am Kapiteltitel sehen kann, sollte die Story hier ursprünglich enden. Nachdem man mir für diesen Plan recht gründlich den Kopf zurechtgerückt hatte, geht es hier dann doch noch etwas weiter ;-)