16 – Erschreckende Wahrheit
Obwohl Erik damit rechnete, dass die Typen ihn jetzt endgültig fertigmachen würden, blieben weitere Schläge aus. Zumindest vorerst. Stattdessen hielten die Kerle, die ihn angegriffen hatten endlich die Klappe. Keuchen, Stöhnen, Rufen. Als Erik die Augen öffnete, war das dreckige Paar Stiefel, das da eben neben ihm gestanden hatte, verschwunden.
Zögerlich hob Erik den Kopf und sah gerade noch, wie der Kerl, der seinen Rucksack in der Hand hatte, mit einem kräftigen Tritt gegen die nächste Hauswand befördert wurde. Der zweite Typ wimmerte ein paar Meter weiter hinten mit einer Hand an der blutenden Nase, die andere im Schritt vor sich hin. Mehr stolpernd als gehend ergriff der Kerl kurz darauf die Flucht.
Als auch der Mann mit Eriks Rucksack sich auf und davon machen wollte, wurde er mittels eines überraschend kräftigen linken Armes herumgeschleudert und zu Boden geworfen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Erik auf die geradezu unwirklich anmutende Szene.
‚Scheiße noch mal ...‘
Wie automatisch fuhr Erik mit den Fingern über die Stelle auf der eigenen, nach Atem ringenden Brust, die mit der gleichen linken Hand ähnliche Erfahrungen hatte machen dürfen. Darunter konnte Erik sein Herz fühlen, wie es geradezu gegen den Rippenbogen hämmerte. Fast so, als wollte es herausspringen.
Berger zerrte dem schmierigen Typ, der Erik überfallen hatte, gerade dessen Rucksack aus den Händen. Der schien aber trotzdem nicht aufgeben zu wollen und trat nun seinerseits zu. Der Tritt in den Bauch stieß Berger nach hinten und er landete mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Hinterteil.
Erst als ihr Angreifer sich aufrappelte und ansetzte, erneut auf Berger loszugehen, schaffte Erik es, sich endlich aus seiner Starre lösen. So schnell er konnte, rappelte Erik sich auf und rammte den Mann mit der Schulter, bis der Scheißkerl gegen die Hauswand knallte. Ein Schlag in den eigenen Nacken ließ Erik jedoch prompt selbst wieder in die Knie gehen.
‚Fuck! Das tat weh ...‘
Er hörte, wie jemand seinen Namen rief. Einem Teil von Erik war klar, dass es Berger sein musste, der da schrie, aber ein anderer bestand vehement darauf, dass die Stimme zu besorgt klang. Das konnte schließlich nicht sein. Allein dafür, dass Erik mal wieder – wenn auch unabsichtlich – die Regeln gebrochen hatte, müsste Berger total angepisst sein und das entsprechend herausbrüllen.
Stattdessen hörte Erik aber nur weiteres Keuchen und Stöhnen, ein Schmerzensschrei, der glücklicherweise weder von ihm selbst kam, noch nach Berger klang. Anschließend waren da Schritte, die sich hastig entfernten und fluchendes Geschrei, was darauf hoffen ließ, dass auch der zweite Angreifer sich endlich verzog.
Langsam öffnete Erik die Augen und sah sich um. Mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt, schnaufte er keuchend durch, um sein heftig schlagendes Herz einigermaßen zur Ruhe zu bringen. Verhalten schielte Erik zu Berger, der sich auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse ebenfalls gegen die Hauswand gelehnt auf den Boden sinken ließ.
„Sind Sie in Ordnung?“, keuchte Berger, während er sich die inzwischen unordentlichen Haare aus der Stirn wischte.
Erik nahm sich einen Moment, um seinen eigenen Zustand zu überprüfen. Bauch und Rücken taten zwar oberflächlich weh, aber das würde maximal den einen oder anderen blauen Fleck geben. Mit etwas Glück nicht einmal das, denn der Schmerz verblasste bereits.
Also nickte er und krächzte ein verhaltnes „Denke schon.“
‚Die Gefahr ist vorbei.‘ Als Erik kurz darauf den Rucksack mit voller Wucht an den Kopf geschleudert wurde, war jedoch klar, dass sie sich lediglich verlagert hatte.
„Idiot!“, presste Berger mit rauer Stimme heraus, während er sich mit dem Handrücken der Linken über den Mund fuhr. „Wie oft muss ich Ihnen eigentlich noch sagen, dass sich niemand von der Gruppe entfernt?“
Erik hatte mit einem Anschiss gerechnet. So richtig. Mit Fauchen, Wüten, Schnauben. Die Art von Zusammenstauchen, bei dem man förmlich den Rauch aus Bergers Ohren kriechen sehen konnte. Der eher krächzende und erschöpft klingende Ton überraschte entsprechend.
Schweigend schloss Erik die Augen und lehnte den Kopf an die Wand. Die Schritte der Angreifer waren inzwischen nicht mehr zu hören. Vielleicht überlagerte das zweifache stoßhafte Atmen, das die kleine Gasse erfüllte aber auch nur alles andere. Oder es war das verfluchte Rauschen des Blutes, das weiter in Eriks Ohren zu hören war. Ein deutlich zu schneller Takt, diktiert von einem zu heftig schlagenden Herzen in der Brust.
„Ich wollte nicht ...“, setzte Erik verhalten an, nur um prompt wieder abzubrechen.
Er wusste ja selbst nicht, was er sagen sollte. Dass er nicht versucht gewesen war, abzuhauen? Doch, war er – wollte er. Nur zu gern wäre er sehr weit weg von dem Idioten Sandro, dem schillernden Pierre und einem viel zu nervigen Lehrer. Zu ebendiesem zuckte Eriks Blick schon wieder, denn die erwartete Standpauke blieb weiterhin aus.
Ein kurzes Zucken an Bergers Mundwinkeln ließ das unerwünschte Flattern in Eriks Bauch aufflammen. „Ich glaube gern, dass Sie sich nicht verprügeln lassen wollten. Bei allem anderen ... brauchen wir, denke ich, nicht drüber reden, was Sie ... wollen.“
Wenn Erik selbst auf diese Bemerkung hin, hätte schmunzeln können, wäre es vielleicht einfacher, sie abzutun. Leider konnte er das nicht. Und Erik konnte nicht einmal genau sagen warum. Allerdings fühlte es sich nicht sonderlich gut an, zu wissen, dass Berger weiterhin damit rechnete, ihn aus Schwierigkeiten holen zu müssen.
Das ganze Schuljahr über hatte der Blödmann Erik schließlich vor genau solchen Schwierigkeiten bewahrt. Nicht unbedingt die Sorte, bei denen man verprügelt wurde. Trotzdem hätte Berger Erik zig Mal an die Schulleitung verpfeifen oder vielleicht sogar der Polizei melden können. Aber er hatte es nicht getan, sondern weitergemacht. Er hatte den ganzen Scheiß ertragen, den Eriks krankes Hirn ihm vor die Füße geworfen hatte. In dem total sinnlosen Versuch, eine Reaktion aus dem Eisblock herauszuholen. Und jetzt war der Blödmann sogar hier aufgetaucht, um seinem Problemschüler den Arsch zu retten.
„Warum tun Sie das?“, fragte Erik flüsternd.
Berger kämpfte sich stöhnend nach oben und sah von dort auf Erik hinab. „Aufsichtspflicht. Schon vergessen? Wenn Sie sich hier abstechen lassen, fällt das auf mich zurück. Kann ich nicht brauchen. Ist meine erste Klassenfahrt. Wie sieht das denn aus?“
Erik schnaubte. Der Ansatz eines Lachens, der es nicht wirklich schaffte zu einem eben solchen zu werden. Als er aufblickte, stand Berger da wie immer. Keine Regung in dem viel zu hübschen Gesicht. Stattdessen die Lippen schmal aufeinandergepresst. Wenigstens sahen die Augen diesmal nicht wütend aus – eher amüsiert. Was es nicht besser machte.
„Sie hatten genug Gelegenheit, mich ans Messer zu liefern“, presste Erik heraus, den Blick stur auf Bergers Gesicht gerichtet. In der Hoffnung, dort vielleicht doch eine Regung zu finden.
Zunächst bekam er allerdings keine Antwort – und irgendwie war das in sich selbst auch eine. Trotzdem konnte sich Eriks Innereien nicht entscheiden, ob sie sich daraufhin weiter verknoten oder lieber unruhig auf und ab flattern wollten.
Das hier war scheiße – in jeder nur erdenklichen Hinsicht. Es war alles so viel leichter gewesen, als Erik genau gewusst hatte, dass er Berger hasste. Und der ihn im Gegenzug genauso. Zu der Zeit als es Erik am Arsch vorbeiging, was ein beschissener Lehrer von ihm hielt. Hinter seinen Augen begann es zunächst zu jucken. Dieser Moment, kurz bevor das verdammte Brennen einsetzen würde. Keinem von beidem wollte Erik hier aber nachgeben. Ganz sicher nicht! Und trotzdem konnte er es nicht mehr ignorieren.
„Warum haben Sie mich nicht schon vor Monaten aufgegeben?“, krächzte Erik geradezu verzweifelt. Er brauchte eine Antwort. Irgendeine. Auf welche Frage auch immer.
Diesmal bildete er sich das ungelenke Lächeln auf Bergers ganz sicher nicht ein, als der schließlich antwortete: „Manche Sachen sind es eben wert, das man sie nicht aufgibt.“
Das war definitiv kein Ziehen, das da in Eriks Bauch seine Eingeweide malträtierte. Und das beschissene Brennen hinter den Augen wurde jetzt doch stärker. Aber die keifende Stimme in seinem Kopf schrie Erik an, dass Berger verflucht noch einmal sein Lehrer war.
Solchen Typen starrte man maximal auf den Hintern. Mehr konnte da nicht sein. Durfte nicht. Nie. Das war total lächerlich. Lehrer waren alte Säcke, die immer recht behalten wollten, alles besser wussten und vom realen Leben keine Ahnung hatten. Ganz sicher dachte man nicht darüber nach, was die von einem hielten. Das konnte einem schließlich scheiß egal sein. So lange die Noten passten, spielte das doch keine Rolle.
Trotzdem kroch ein bitterer Geschmack Eriks Speiseröhre hinauf. Sammelte sich in seinem Mund, nur um postwendend die Übelkeit im Magen weiter anzufachen. Nur zu gern hätte er sich eingeredet, dass das von der Prügelei kam. Aber die Wahrheit sah anders aus. Berger half ihm nur aus einem Grund. Und der fühlte sich immer beschissener an.
„Weil ich Ihr Schüler bin.“
Eriks Stimme klang stetig mehr nach einem Krächzen, als ihm lieb war, aber das ließ sich im Augenblick nicht ändern. Das angedeutete Lächeln verschwand und Berger trat einen Schritt zurück.
‚Nur ein beschissener Problemschüler‘, dröhnte es in Eriks Kopf. „Nur ein dummes Kind“, kam es hingegen flüsternd über seine Lippen.
„Es liegt an Ihnen, als was man Sie sieht“, antwortete Berger irgendwann. Die gleiche kühle und scheinbar emotionslose Stimme, die Erik schon das ganze Jahr in den Wahnsinn getrieben hatte.
Langsam kämpfte er sich ebenfalls nach oben, um wenigstens nicht mehr ständig zu Berger aufblicken zu müssen. Einen Augenblick lang starrte Erik seinen Lehrer an, bevor er schließlich die Frage herauspresste, die er ganz sicher nicht wirklich aussprechen wollte.
„Was haben Sie in meinen Hausaufgaben gesehen?“
Berger schüttelte den Kopf und fuhr sich dabei durch die Haare. Eine Antwort bekam Erik jedoch nicht.
„Den Problemschüler?“, hakte er deshalb nach, das Stechen in seiner Brust ignorierend. „Oder den Gewalttäter. Den ... potenziellen ... Vergewaltiger?“
Grüne Augen bohrten sich in Erik, während die darunter liegenden Lippen nurmehr ein schmaler Strich waren. „Nein“, antwortete Berger bestimmt.
Zwar löste die Antwort das kalte Band, das sich wie ein Schraubstock um Eriks Magen gelegt hatte. Allerdings verstand er nicht, wie Berger so denken konnte. Stirnrunzelnd dachte er an die inzwischen mehrfachen Gelegenheiten zurück, bei denen er Berger gefragt hatte, ob der Angst vor ihm hatte. Und jedes Mal hatte der Kerl ihm das mit absoluter Selbstsicherheit verneint.
„Wieso nicht?“
Wieder zuckte Berger mit den Schultern. „Sie haben es nie getan. Und ich habe Ihnen nun wahrlich genug Gelegenheiten geboten.“
Keuchend wich Erik einen halben Schritt zurück. „Wie bitte?!“
Bergers Lächeln wirkte schon fast gequält, als er nun seinerseits nach vorn trat und Eriks Rucksack aufhob. Mit ausgestreckter Hand hielt Berger ihm diesen entgegen. „Ich habe Ihnen ausreichend Gelegenheit gegeben, in denen wir alleine und Sie auf hundertachtzig waren. Wenn Sie mir wirklich Gewalt antun wollten, hätten Sie es längst getan.“
„Sind Sie total irre?!“, quietschte Erik entsetzt.
Hatte der verrückte Vollidiot ihn tatsächlich getestet, ob er den verdammten Mist aus dem Aufsatz wahr machen würde?! Schlagartig beschleunigte sich Eriks Herzschlag. Raste so heftig in seiner Brust, dass er das Gefühl hatte, als wäre da überhaupt keine Pause mehr zwischen den Schlägen, die gegen seine Rippen hämmerten. So viele Moment, in denen er versucht gewesen war. Bei der Erinnerung daran drehte sich Erik der Magen um.
„Nein. Aber immer noch Ihr Lehrer.“
Sprachlos starrte Erik seinen Lehrer an. In seinem Kopf kreisten die Gedanken weiterhin um die letzten Monate. Jeder verfluchte Morgen, in dem Berger mit ihm allein im Klassenraum saß. Die Samstage zu Beginn des Schuljahres, an denen der Blödmann Erik in die Schule einbestellt hatte, unter dem Vorwand, dort irgendwelche Arbeiten abzugeben.
Berger hatte recht. Sie waren alleine gewesen. Der Kerl viel zu nah, das beschissene Aftershave, das Eriks Sinne vernebelte – obwohl es vermutlich nur alle anderen davon ablenken sollte, die Zigaretten zu riechen. Wie oft hatte Erik überlegt, dass es so einfach wäre? Berger schnappen, gegen die Wand drängen. Ein Arm vor seinem Hals, während die andere endlich herausfand, was sich unter den verfluchten Hemden befand. Was wäre passiert, wenn Erik nur einmal die Kontrolle verloren hätte?
„Das sind Sie nicht“, meinte Berger und hob den Rucksack noch ein Stück höher, damit Erik ihm den endlich abnahm.
Blinzelnd starrte er auf den Rucksack, unfähig sich zu bewegen. Seine Stimme war kaum noch hörbar, als er zögerlich nachfragte: „Was bin ich nicht?“
„Dieser Mensch in Ihren ersten Aufsätzen.“
Erik schnaubte. „Woher wollen Sie das wissen?“
Berger seufzte und trat den letzten Schritt auf ihn zu, um Erik den Rucksack direkt gegen die Brust zu drücken. „Sagen wir einfach, dass ich sehr sicher bin, dass Sie der Mann sein können, der in fünf Jahren eine glückliche Beziehung auf Augenhöhe haben wird. Und nicht der von Wut zerfressene Teenager, der lediglich jemanden sucht, an dem er seine niederen Triebe befriedigen kann.“
Eriks Hände schlossen sich um den Rucksack. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er Berger nach, während der sich abwandte und langsam in die Richtung ging, aus der Erik gekommen war, bevor man ihn angegriffen hatte. Unfähig etwas zu erwidern, setzte er sich ebenfalls in Bewegung und trottete hinter seinem Lehrer her.
Mit jedem Schritt stieg der Wunsch in Erik an, dass Berger recht behalten würde. Dass er nicht nur dieser Mann sein wollte – konnte – sondern vor allem auch sein würde. Unsicher wanderte Eriks Blick zu Berger. Er hatte keine Ahnung, wieso der Kerl weiterhin an ihn glaubte. Aber der Gedanke, dass er es tat, machte den Schmerz in Eriks Brust erträglicher. Während es gleichzeitig das Flattern in seinem Bauch anfachte.
Eine Beziehung auf Augenhöhe? Das klang zu verlockend. Erst recht, wenn Erik der leise flüsternden Stimme in seinem Kopf endlich nachgab. Der, die danach fragte, mit wem Erik die denn führen wollte.