67 – Erstaunlicher Vorschlag
„Und wer sind Sie?“
Die Frage kam überraschend – jedenfalls unerwartet genug, sodass Erik zunächst nicht wusste, wie er darauf antworten sollte. Schon hatte er den Mund geöffnet, um etwas zu sagen, als er ihn prompt wieder schloss. Diese stechenden grünen Augen, die ihn einmal mehr aufzuspießen schienen, hielten Erik wie so oft gefangen. In seiner Brust hämmerte es zum wiederholten Male an diesem Tag reichlich heftig gegen die Rippen. Was auch immer er jetzt sagte, sollte besser wohlüberlegt sein. Denn zur Abwechslung machte Berger den Eindruck, als würde er Erik tatsächlich eine Chance geben.
Eriks Blick trübte sich für einen Moment, bevor er schließlich das Einzige sagte, was ihm einfiel: „Jemand, dem es nicht mehr egal ist, was Sie von ihm halten.“
Es war nicht sonderlich schwer zu erkennen, dass er damit nicht voll ins Schwarze getroffen hatte. Seufzend rieb Erik sich über den Nacken. Was zum Teufel musste er sagen, um nicht direkt die nächste halbherzige Zurückweisung zu kassieren? Oder Schlimmeres.
„Manchmal bin ich selbst nicht mehr sicher, wer ich bin“, fuhr Erik nachdenklich fort. „Aber ich fange an zu begreifen, wer ich gern sein würde. Ist das nicht entscheidender?“
Diesmal hatte Erik offenbar nicht ganz so weit daneben gelegen. Berger ließ die Arme sinken und schob seinerseits ebenfalls die Hände in die Hosentaschen. Der stechende Blick wurde forschender, während er an Erik herabglitt – und damit ein weiteres kurzes Kribbeln auslöste. Das schaffte es glücklicherweise nicht, Eriks allmählich abebbenden Emotionen direkt wieder völlig aus dem Takt zu bringen.
Stimmen näherten sich. Obwohl Erik nicht wirklich auf die Worte achtete, war ihm klar, dass die Leute Französisch sprachen. Trotzdem machte es ihm ein weiteres Mal deutlich, dass sie hier mitten in der Öffentlichkeit standen. Zwei ältere Damen liefen mit einem kritischen Blick an ihnen vorbei durch die Gasse und verschwanden hinter einer Straßenecke. Die Nächsten, die vorbeikamen, wären womöglich keine Fremden mehr.
„Ich will jemand sein, dem Sie vertrauen können. Und Sie wollen, dass ich dieser Mensch bin. Davon bin ich felsenfest überzeugt.“
Ein kurzes Lächeln huschte über Bergers Lippen. Man konnte förmlich sehen, wie der Sturkopf seinen Schutzpanzer überzog. Verschwunden der eben noch scheue Blick, ersetzt durch ein provokantes Grinsen. Die gleiche Herausforderung, die Erik nicht nur in den vergangenen paar Tagen den einen oder anderen Nerv gekostet hatte.
„Sind Sie da nicht eher etwas zu sehr von sich selbst überzeugt? Herr Hoffmann ...“
Es war verflucht einfach, das Grinsen zu erwidern und mit den Schultern zu zucken. Dabei hoffte Erik innerlich permanent, dass man das heftige Schlagen in seiner Brust nicht wirklich so laut hören konnte, wie es durch seinen Körper vibrierte.
„Zu Recht ... Herr Berger.“
Der schnaubte und schüttelte den Kopf. Die Art und Weise, wie die Zähne des Dickkopfs seine Unterlippe malträtierten, widersprach jedoch den selbstsicheren Worten zuvor. Einmal mehr war Erik sich nicht sicher, was er davon halten sollte.
Berger hatte zu viele Gesichter. Da war der zurückhaltende, beinahe schüchterne Kerl, dem Erik gerade gegenüberstand. Der wurde aber ständig überschattet von dem fiesen und herausfordernden Badboy, den insbesondere Eriks Schritt ausgesprochen verführerisch fand. Nicht zu vergessen der selbstsichere Lehrer mit seiner ‚verarsch mich nicht‘-Mentalität, der als Fassade vor den anderen beiden stand.
‚Wie viele verschiedene Gesichter hat der Kerl eigentlich?‘, fragte Erik sich prompt. ‚Und welches davon ist der echte Berger?‘
Wie auch immer die Antworten auf diese Fragen aussahen, Erik würde das weder jetzt noch hier klären. Wieder waren Stimmen zu hören und kurz darauf betrat erneut jemand die Gasse, um an ihnen vorbeizugehen. Das hier war viel zu öffentlich. Dabei spielte es auch keine Rolle, ob die Menschen, die sie hören konnten, sie überhaupt verstanden. So kam Erik nicht weiter.
‚Taktikwechsel. Bei zu viel Druck wird er rennen.‘
„Ein Vorschlag“, meinte Erik, einer spontanen Eingebung folgend. Die Furchen auf Bergers Stirn vertieften sich, während er anhaltend misstrauisch zu Erik zurückblickte. „Ich werde Sie für den Rest der Fahrt nicht mehr ... belästigen.“
Der Blick aus den grünen Augen wurde noch kritischer – grenzwertig zu Unglaube.
Erik lachte und rieb sich ein weiteres Mal über den Nacken. Für einen Moment kamen Zweifel an der eben getroffenen Entscheidung auf, aber jetzt, wo er Berger das Angebot bereits unterbreitet hatte, konnte er nicht mehr zurückrudern. Also holte Erik tief Luft und sah dem Dickkopf von Lehrer fest in die Augen. Sollte der Mann ihn halt endlich ablehnen, wenn er wirklich absolut kein Interesse hatte.
‚Das wird nicht passieren!‘
„Ich werde Sie für den Rest dieser Fahrt nicht mehr nach einem Date fragen“, bot Erik ein weiteres Mal an – seine Stimme fest und hoffentlich selbstsicherer, als er sich fühlte. „Dafür versprechen Sie mir, endlich ernsthaft darüber nachzudenken, ob es am Montag wirklich weiterhin so falsch wäre, wenigstens einmal mit mir auszugehen.“
Berger runzelte die Stirn. „Wir sind nächste Woche beide immer noch die gleichen Menschen“, gab er schließlich zögerlich zurück.
„Das hoffe ich doch“, bestätigte Erik mit einem leichten Lächeln. „Immerhin will ich Sie kennenlernen und nicht irgendeinen anderen Kerl.“
Berger schüttelte mit einem verhaltenen, schnaubenden Lachen den Kopf. „Sie haben doch keine Ahnung, wovon Sie reden, Erik.“
Die Antwort kam prompt und ohne dass er überhaupt darüber nachgedacht hatte: „Womöglich sind Sie es, der sich irrt.“
„Wie bitte?“
„Sie sind der erste Mensch, bei dem ich nicht das Gefühl habe, mich ständig verstellen zu müssen. Und irgendetwas sagt mir, dass es Ihnen mit mir genauso gehen kann. Also hören Sie auf, sich dagegen zu wehren, und geben Sie mir eine Chance.“
Berger setzte an, etwas zu erwidern, aber Erik hob die Hand, um ihn aufzuhalten. Und tatsächlich klappte dessen Mund direkt wieder zu.
„Ich will jetzt keine Antwort. Denken Sie einfach darüber nach. Bitte.“
Wenigstens erntete Erik dafür nicht gleich den nächsten kritischen Blick. Vielmehr schien Berger für einen weiteren Moment zu zögern. Dann nickte er langsam und meinte: „Okay.“
Wäre es tatsächlich möglich, dass einem das Herz aufgrund eines einzelnen Wortes stehen bleiben konnte, hätte sich dieser Augenblick als Eriks wenig ruhmreiches Ende herausgestellt. So fühlte er lediglich ein verflucht heftiges Stolpern in der Brust, gefolgt von dem Gefühl, noch ein paar Zentimeter höher über dem Boden zu schweben.
‚Reiß dich zusammen!‘, zischte es in seinem Kopf. ‚Du bist doch kein kleines Mädchen!‘
Nein, war Erik nun wirklich nicht, aber wenn die sich so fühlen durften, dann hatten sie verdammt viel Glück. Die Leichtigkeit, die sich mit diesem simplen, einfachen und absolut lächerlich erscheinendem Wort in ihm ausbreitete, war zwar peinlich, aber ausgesprochen willkommen.
Wieder näherten sich Stimmen. Weitere Leute drängten durch die schmale Gasse an ihnen vorbei. So sehr er diesen Moment alleine mit Berger genoss, Erik war klar, dass er vorerst enden musste. Er deutete in die Richtung, in der sie zum Strand gelangen würden.
„Sie wollten zu den anderen zurück, wenn ich mich recht erinnere.“
Berger verdrehte die Augen und seufzte leicht. Die gemurmelten Worte waren kaum zu verstehen, trotzdem war Erik sich sicher, dass er sie hörte: „Von wollen kann keine Rede sein.“
„Wenn Sie sich lieber anderweitig vergnügen ... ich stelle mich gern als Gesellschaft zur Verfügung“, entgegnete Erik deshalb mit einem Grinsen, während er die eigenen Schritte beschleunigte, damit sie auf gleicher Höhe laufen konnten.
Bergers Blick wurde schon wieder kritisch, während er zu Erik sah. „Haben Sie nicht eben gesagt, dass Sie sich für den Rest der Fahrt zurückhalten werden, Herr Hoffmann?“
Erik grinste und zuckte mit den Schultern. „Ich hab gesagt, ich frage Sie nicht nach einem Date. Deshalb schätze ich Ihre Gesellschaft trotzdem noch immer deutlich mehr als die der anderen.“
„Sie sind echt unmöglich.“
Das die Worte begleitende Stöhnen klang bei Weitem nicht so genervt, wie Berger es womöglich beabsichtigt hatte. Und das sanfte Lächeln, dass an dessen Mundwinkeln zog, strafte seine Worte umgehend Lügen. Was Eriks eigenes Grinsen wiederum etwas breiter werden ließ.
„Vielleicht mache ich schlicht Unmögliches möglich.“
Es fühlte sich weiterhin ungewohnt, aber stetig besser an, wie die Worte quasi von allein zu ihm kamen. Sie einfach auszusprechen, anstatt sich zurückzuhalten, war befreiend. Erik sah erneut zu Berger. Der hatte den eigenen Blick inzwischen nach vorn gerichtet. Den so offen und ehrlichen Teil von sich nicht mehr wegsperren zu müssen, fühlte sich stetig besser an.
Dieses Loch in Eriks Brust, das ihn sich manchmal so verflucht einsam fühlen ließ, war in diesen Momenten verschlossen. Selbst wenn es mitunter nur kurze Augenblicke waren. Vielleicht hatte Berger ja recht und Erik benahm sich unmöglich, bildete sich etwas ein oder wusste im Grunde tatsächlich nicht, wovon er redete. Aber das Gefühl, sich nicht verstecken zu müssen, war zu befreiend, als dass Erik freiwillig darauf verzichten wollte.
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Dummerweise kam genau dieser Drang sich zu ‚verstecken‘ von ganz allein zurück, je weiter sie sich dem Strandabschnitt näherten, auf dem Erik den Rest seines Kurses zurückgelassen hatte. Mit jedem Schritt, den sie liefen, wurde der Wunsch in ihm größer, sich umzudrehen und abzuhauen. Wohlgemerkt nicht alleine, denn Berger würde Erik ganz sicher nicht der Horde zum Fraß vorwerfen – und Hanna erst recht nicht.
Auf der Promenade waren deutlich mehr Menschen unterwegs. Obwohl Erik keine Ahnung hatte, wie viele von denen Deutsch verstehen würden, reichte diese Tatsache aus, dass er schwieg. Und Berger hatte offenbar ohnehin vorerst nichts zu sagen. Ein ungutes Ziehen im Bauch ließ Erik seine Entscheidung bereuen. In dieser verdammten Gasse hatte es nach einer guten Idee geklungen, Berger nicht weiter in die Ecke zu treiben, damit der nicht am Ende doch noch die Flucht ergriff.
‚Er wird diese Schüler-Lehrer-Sache bis zum Abiball nicht ignorieren‘, versuchte er sich selbst von seiner Entscheidung zu überzeugen. ‚Druck wird ihn nur wegrennen lassen.‘
Erik biss sich auf die Unterlippe. Er musst aufhören zu zweifeln. Die Entscheidung lag jetzt in Bergers Hand. Der hatte ihn im Unterricht immer fair behandelt – egal wie mies Erik sich verhalten hatte. Es blieb ihm nichts anders übrig, als sich darauf zu verlassen, dass Berger auch diesmal fair bleiben würde.
In Eriks Magen grummelte etwas. Das hatte allerdings zur Abwechslung mal nichts mit seinen Selbstzweifeln zu tun. Oder mit dem geradezu irrwitzigen Versuch, den eigenen Lehrer anzumachen und zu einem Date zu überreden. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. Es war weder irrwitzig noch sinnlos.
Da das Grummeln stärker wurde, beschloss Erik, es als ein Zeichen zu nehmen. Zumindest würde er auf diese Weise ihre Rückkehr zu den anderen noch eine Weile länger hinauszögern können.
„Ich habe Hunger“, murrte Erik in geradezu trotzigem Ton.
Berger stoppte und sah ihn zunächst irritiert an, bevor er schließlich antwortete: „Dann essen Sie etwas.“
Beleidigt verzog Erik den Mund. „Wenn ich was dabeihätte, würde ich wohl kaum etwas sagen.“
Die Verwirrung in Bergers Gesicht machte schon wieder einem zurückhaltenden Lächeln Platz. Diesmal löste es wenigstens nur ein ebenso dezentes Kribbeln in Erik aus.
„Bei Ihnen ist heute Morgen doch vermutlich das Frühstück ausgefallen“, fuhr Erik fort, als Berger nicht antwortete. „Da drüben ist ein Bäcker. Zu den anderen können Sie mich auch schleifen, nachdem wir da was zu essen geholt haben.“
Berger wandte den Blick ab und zuckte schweigend mit den Schultern. Erik nahm das als Zustimmung und steuerte auf die kleine Bäckerei zu. Da am Abend beim Lagerfeuer gegrillt werden sollte, konnte er sich dort hoffentlich den Bauch vollschlagen. Wobei Erik dabei prompt einfiel, dass sie für die Getränke selbst zu sorgen hatten. Gedankenverloren hielt er die Tür zur Bäckerei auf und schielte zu Berger, der zunächst zögerte. Nachdem Erik sich aber nicht weiter vorwärts bewegte, gab er schließlich nach und schob sich eher unwillig an ihm vorbei in den Laden.
Für einen Moment zuckte Erik der Gedanke durch den Kopf, dass das Lagerfeuer eine Gelegenheit sein könnte, um Berger doch noch abzufüllen. Kaum kamen die ersten dazu passenden Bilder aus den Untiefen des mentalen Arschlochs, spürte Erik jedoch, wie die Übelkeit in ihm aufstieg.
‚Scheiße. Bei dem Gedanken warst du doch kürzlich schon einmal‘, sagte Erik sich selbst und versuchte, das Chaos im Kopf beiseitezuschieben.
Berger abzufüllen, um ihn lockerer zu machen, würde Erik vielleicht sogar die mikroskopisch kleine Chance darauf geben, dem Mann für eine Nacht näherzukommen. Es wäre aber garantiert die einzige, denn danach würde Berger Erik nicht mal mehr ansehen.
‚Zu Recht‘, sagte er sich selbst, während er unruhig hinter Berger in der Schlange auf und ab wippte.
So ein Mistkerl wollte Erik schließlich nicht sein. Und bei seinen letzten Annäherungsversuchen ging es, wie er sich inzwischen ja selbst eingestanden hatte, längst nicht mehr nur um Sex. Wobei Erik weiterhin nicht ganz sicher war, worum es stattdessen ging.
‚Egal‘, versuchte er sich einzureden, während die Schlange ein Stück vorwärts rückte.
Erik Blick fiel, wie schon so oft zuvor, auf den Nacken vor ihm. Bergers Kopf war gesenkt, die Hände in den Hosentaschen. Der Laden war wirklich verflucht klein und hinter Erik drängelte auch schon der nächste Kunde hinein. Den konnte er zwar einigermaßen abhalten, es wurde allerdings zunehmend beengter in dem kleinen Bereich vor der Auslage.
Berger wirkte nervös, wobei Erik nicht hätte sagen können, was ihn beunruhigen mochte. Zugegeben war eine simple Bäckerei jetzt nicht gerade das Highlight eines Sommerurlaubs an der französischen Südseeküste. Andererseits war die Fahrt bisher mies genug gelaufen, sodass jede nicht stattfindende Katastrophe schon als Fortschritt zu werten war.
„Ich warte draußen“, murmelte Berger mit einem Mal und fing an, sich an Erik vorbei aus dem Laden zu drängeln.
„Wie bitte?“
Bevor er noch mehr sagen konnte, war Berger bereits verschwunden. Stirnrunzelnd blickte Erik ihm einen Moment hinterher. Okay, der Mann hatte die letzten Tage nie sonderlich interessiert am Frühstück oder sonst irgendwelchen Mahlzeiten gewirkt. Das hier ging allerdings allmählich wirklich zu weit. Widerwillig gab Erik dem penetranten Drängeln des Mannes hinter ihm nach und rückte die paar Zentimeter vor, die Berger in der Schlange freigegeben hatte.
Als schließlich wenige Minuten später nur noch eine Frau vor ihm war, wurde Erik mit einem Mal klar, dass mit Berger gleichzeitig sein Übersetzer verschwunden war. Und so stand er kurz darauf stammelnd vor der Verkäuferin und versuchte, ihr – nachdem der erste Versuch auf Deutsch gescheitert war – auf Englisch klarzumachen, was er wollte.
Es blieb bei einem reichlich sinnlosen Versuch, denn die Frau verstand offensichtlich kein Wort von dem, was er sagte. Damit waren sie zumindest quitt. Ihr runtergerasseltes Französisch kapierte Erik schon gleich gar nicht. Trotzdem wurden sie sich irgendwie mit Handzeichen einig, sodass Erik schließlich geschlagene fünfzehn Minuten nachdem er den Laden ursprünglich betreten hatte, endlich aus diesem wieder herauskam. Seufzend atmete Erik durch. Der nächste Urlaub ging garantiert nicht mehr nach Frankreich.