7 – Merkwürdige Beobachtung
Der Herbergsleiter hatte nach ihrer Zustimmung keine Zeit mehr verschwendet. Scheinbar wollte er sichergehen, dass sie es sich am Ende nicht doch noch einmal anders überlegten. Wobei das ja ganz offensichtlich weniger sein, als ihr Problem gewesen wäre.
‚Bergers, nicht deins.‘
Verstohlen schielte Erik zu seinem Lehrer, während sie rechts herum dem Herbergsleiter durch den schmalen überdachten Gang am Haupthaus entlang folgten. Hinter dem schloss sich scheinbar ein kleiner Wald an. Die erwähnten Hütten waren nirgendwo zu sehen. Trotzdem führte der ältere Herr sie weiter den Weg entlang. Der war mehr ein Trampelpfad. Zum Ausbau des Pflasters war man offenbar noch nicht gekommen.
Sie hatten gerade eine über mannshohe Hecke umrundet, als sich ein weiterer Platz, ähnlich dem gegenüber dem Haupthaus offenbarte. Hier standen allerdings acht Hütten – in diversen Fertigungsstellungsgraden. Von ‚gerade die Fundamente gesetzt‘ bis hin zu ‚sieht fertig aus‘, gab es hier alles. Der Heimleiter deutete auf eine der Hütten und gab Berger einen passenden Schlüssel. Was genau der Mann sagte, konnte Erik wiederum nicht verstehen, aber Berger wirkte nicht mehr ganz so unzufrieden wie bisher.
Als Erik einen Blick über den Platz schweifen ließ, bemerkte er vor allem das herumliegende Material. Hoffentlich fingen die Handwerker nicht allzu früh mit ihrer Arbeit an, sonst würde es sie vermutlich eher unsanft aus den Betten hauen.
„Er hat nur einen Schlüssel“, murmelte Berger und trat auf die Hütte zu, die der Herbergsleiter ihnen zugewiesen hatte. „Aber die Arbeiter haben auch keinen, also wird da nicht am Montagmorgen einfach jemand reinplatzen.“
‚Immerhin‘, dachte Erik bei sich, nickte jedoch lediglich als Antwort und folgte Berger. Die Größe der Holzhütten war ähnlich der, die seine Mitschüler bezogen hatten. ‚Vermutlich der gleiche Grundriss.‘
Erik stockte, als Berger die Hütte aufschloss und eintrat. Wenn die Dinger tatsächlich analog aufgebaut waren, hätten sie zwar getrennte Zimmer aber ...
„Ist nicht wahr, oder ...?“, murmelte Berger.
Als er hinzutrat, konnte Erik sehen, dass sich an die Eingangstür ein winzig kleiner Flur anschloss. Die gegenüberliegende Tür war offen und führte augenscheinlich ins Bad. Um sich besser umsehen zu können, machte Erik einen weiteren Schritt vor und trat damit Berger beinahe in die Hacken. Der sprang förmlich ein Stück nach vorn, um von ihm wegzukommen, und fuhr sich erneut durch die Haare.
„Was denkt der Kerl sich eigentlich?“, fluchte Berger unterdrückt.
„Vermutlich, dass Sie lieber hier als am Strand schlafen“, gab Erik feixend zurück und erntete dafür prompt einen giftigen Seitenblick. „Ach kommen Sie schon“, fügte Erik mit einem Grinsen hinzu. Jetzt wo sie alleine waren, schien der Übermut doch noch Hand von ihm zu ergreifen. „Wenn Sie versprechen nicht zu spannen, tu ich’s auch nicht.“
Erik hatte keine Ahnung, wo diese Worte hergekommen waren, aber für eine Sekunde starrten ihn Berger geradezu panisch an. Vor ein paar Monaten hätte Erik das einen Stich verpasst, heute jedoch nicht. Im Gegenteil. Es sah so unschuldig und naiv aus, dass es aus ganz anderen Gründen an Eriks Eingeweiden zerrte. Dabei würde er Berger weder Unschuld noch Naivität auch nur für keine Sekunde abkaufen.
„Das ist nicht witzig, Herr Hoffmann“, presste der schließlich heraus und sah sich nun seinerseits zu den übrigen beiden Zimmern um. Während im Schloss der Tür zu Eriks Linken ein Schlüssel steckte, hatte die auf der anderen Seite nicht einmal eines. „Es wird besser und besser.“
„Ich kann ...“, setzte Erik an, nur um prompt nach links geschubst zu werden.
„Ihre Sachen abstellen und sich für den Strand umziehen. Das könnten Sie endlich machen. Wir haben genug Zeit verplempert. Das Mittagessen wird nicht ewig ausgegeben und Ihre Mitschüler erst recht nicht auf Sie warten, wenn es um den geplanten Strandausflug geht.“
Damit verschwand Berger hinter der anderen Tür – der ohne Schloss. Sie knallte dennoch lautstark zu und beendete somit das Gespräch endgültig. Ein weiteres Grinsen zog an Eriks Lippen, als er sich dem anderen Zimmer zuwandte.
Das war am Ende gar nicht so schlecht. Scheinbar noch nicht fertig eingerichtet, wenn man danach ging, dass bisher nur ein Bett samt Nachttisch es hier rein geschafft hatte. Womöglich waren diese Hütten aber auch nicht als Sechsbettzimmer gedacht, wie die in denen seine Mitschüler übernachteten. Wenigstens blieb ihm ein Mehrbettzimmer erspart.
‚Hätte aber durchaus interessant werden können, wenn Berger da mit von der Partie gewesen wäre‘, warf eine wenig hilfreiche Stimme ein.
Erik ignorierte sie jedoch und machte das, was von ihm erwartet wurde. Er stellte seine Reisetasche ab und versuchte, das Fenster zu öffnen, um die stickige Luft im Zimmer einigermaßen erträglich zu machen. Das dumme Ding ließ sich aber lediglich kippen – oder er war zu blöd herauszufinden, wie man den Flügel komplett öffnete. Seufzend ließ Erik es gekippt.
Wenigstens garantierte das durchgehende Fliegengitter vor dem Fenster, dass er von irgendwelchem Viehzeug in der Nacht verschont werden würde, selbst wenn er es jetzt offenließ.
Für einen Moment war Erik versucht, gegen das Fliegengitter zu drücken, um zu prüfen, wie stabil es war. Einbrecher würde es aber so oder so nicht abhalten. Da er im Grunde keine Wertsachen hatte, hielt Erik inne und ließ die Hand wieder sinken. Den Ärger, das Teil womöglich kaputtzumachen, würde er ganz sicher nicht riskieren.
Stattdessen überlegte Erik, ob er sich wirklich Badesachen anziehen wollte. Wie genau sah denn der Plan für den Rest des Tages aus? Im Grunde hatte Berger das ja schon zusammengefasst. Sie würden hier in der Herberge zunächst ein reichlich verspätetes Mittagessen bekommen und danach sollte es zum Strand gehen. Wo sie offensichtlich den Rest des Tages verbringen würden. Erik zögerte, öffnete schließlich trotzdem die Reisetasche und holte seine Badehose heraus.
‚Sieht reichlich dämlich aus, wenn du nicht einmal eine dabei hast‘, sagte Erik sich selbst und begann sich aus der Jeans zu schälen.
Zwar lag es ihm fern, tatsächlich schwimmen zu gehen, aber in Badehose am Strand fand sich ja vielleicht eher die nette Gesellschaft, auf die Erik weiterhin hoffte.
‚Würde zumindest den bisherigen Verlauf des Tages endlich zum Guten wenden.‘
Da sie nach dem Essen vermutlich recht bald zum Strand verschwinden würden, zog Erik sich die Badehose gleich an. Dazu kramte er eine kurze Hose aus der Reisetasche, die er noch drüber zog. Das T-Shirt von der Fahrt ließ er an. Erneut überlegte Erik, dann packte er die inzwischen leeren Brotdosen von seiner Mutter und auch eines der Bücher aus dem Rucksack. Dafür wanderte das Badehandtuch hinein. Ins Wasser wollte er zwar weiterhin nicht, aber da würde er sich wenigstens drauflegen können.
Bisher war Erik noch nie am Meer gewesen. Es war allerdings nicht sonderlich schwer, sich vorzustellen, dass der Sand in der Sonne verflucht heiß werden konnte. Zwar plante Erik ebenso wenig, länger als notwendig ohne nette Begleitung am Strand zu hocken, aber man wusste ja nie.
Beim Wühlen in der Tasche fand Erik ein Basecap, das er zum Schutz vor der Sonne zusätzlich aufsetzte. Während er in den Hosentaschen kramte, um alles Notwendige von der Jeans in die kurzen Hosen umzupacken, kam das Handy zum Vorschein.
„Mama“, flüsterte er leise und tippte daraufhin hastig eine Nachricht, dass sie zwar verspätet, dennoch problemlos angekommen waren. Von der etwas prekären Wohnsituation erwähnte er lieber nichts. Letztendlich würde es sowieso keinen Unterschied machen. Und es war ja nicht so, dass er tatsächlich mit seinem Lehrer im gleichen Zimmer schlief.
In dem Moment klopfte es an der Tür und Berger rief offensichtlich noch immer gereizt: „Wie lange brauchen Sie denn für ein paar Badeklamotten?“
„Blödmann!“, zischte Erik kaum hörbar. „Als ob irgendjemand mit dem in einem Zimmer schlafen will.“ Mit einem falschen Lächeln auf den Lippen öffnete er die Tür und schulterte zeitgleich den Rucksack. „Fertig.“
„Na endlich“, murrte Berger und deutete auf die Ausgangstür. „Das Essen wartet.“
Schon lag Erik die Frage auf der Zunge, ob der Kerl immer derartig grantig wurde, wenn er unterzuckert war. Glücklicherweise verkniff er die sich. Es war offensichtlich, dass Berger trotz der einigermaßen geklärten Zimmerregelung weiterhin angepisst war. Daran konnte Erik allerdings nichts ändern. Und ausnahmsweise nur bedingt etwas dafür. Also hielt er die Klappe. Schlimmer machen wollte er es schließlich auch nicht.
‚Schweigen ist in diesem Fall hoffentlich die erwachsenere Antwort.‘
Erneut schielte Erik zu Berger, als er dem zurück in Richtung Haupthaus folgte. Von dort führte ein Weg einen kleinen Hügel hinauf zu einem größeren Gebäude, aus dem bereits lautstarkes Stimmengewirr zu ihnen hinaus drang. Der Rest der Truppe war offensichtlich schon beim Essen.
‚Wenn die Weiber sehen, dass du mit Berger zusammen da reingehst, gibt es Ärger.‘
Erik stoppte einige Meter vor dem Gebäude. Der Gedanke brachte das unangenehme Ziehen im Bauch zum Vorschein. Also ließ er zunächst Berger eintreten und wartete auf dem Weg. Sein Lehrer sah sich am Eingang kurz um und suchte sich einen Platz, ohne weiter auf Erik zu achten. Nachdem er ein paar Minuten gewartet hatte, stapfte Erik selbst ebenfalls in das Gebäude.
Nach einem kurzen Rundblick trat er zur Essensausgabe hinüber hinter der eine rundliche, gut gelaunte Frau stand, die ihm ohne weitere Nachfragen einen Teller Nudeln mit Tomatensoße reichte. Erik nickte und murmelte ein kurzes Dankeschön, bevor er sich umdrehte und sich erneut umsah. Berger hatte sich – etwas abseits vom Rest der Klasse – an den gleichen Tisch wie die beiden Lehrerinnen verzogen.
Unmittelbar daneben war ein weiterer Tisch komplett leer, den Erik geistig direkt als ‚seinen‘ vermerkte und sich dort hinsetzte. Mit dem Blick in Richtung der Lehrer begann er langsam zu essen. Berger saß seitlich zu ihm und machte ein Gesicht, als würde er am liebsten sofort wieder aufstehen und gehen.
Der Grund dafür war nicht schwer zu erraten. Auch wenn Erik nicht verstand, was die beiden Frauen sagten, redeten sie offenbar recht vehement auf ihren Kollegen ein. Der antwortete, wenn überhaupt, nur einsilbig, sah nicht einmal auf. Allerdings schien er sich ohnehin mehr mit dem Herumschieben des Essens zu beschäftigen, als damit das tatsächlich zum Mund zu führen.
‚Dabei hat er eben noch gedrängelt, dass ihr zum Essen geht. Kein Wunder, dass der Typ so schmal ist.‘
Hastig senkte Erik den Blick. Ging ihn doch nichts an, wenn Berger der Appetit vergangen war. Der Kerl hatte es schließlich selbst gesagt: Es war nicht seine Schuld. Nicht einmal die vom Reisebüro. Wenn das hier jemand zu verantworten hatte, dann ja wohl die Leitung von dieser Absteige, die die Zimmer falsch storniert hatte.
Der Rest des Kurses war längst mit dem Essen fertig, als Erik noch überlegte, ob er sich einen Nachschlag holen sollte. Mindestens die Hälfte der Schülerinnen und Schüler war bereits aus dem Speisesaal verschwunden, um sich für den Strand umzuziehen. Nach einer kurzen Ansage, wann sie aufbrechen würden, hatten auch die beiden Lehrerinnen ihr Verhör vorerst beendet. Ob Berger ihnen gesagt hatte, wie sie inzwischen untergekommen waren, wusste Erik nicht. Letztendlich würde es aber keinen Unterschied machen. Scheinbar hatte der sich ja bereits rückversichert, dass er dadurch nicht in Schwierigkeiten kommen würde.
‚Jedenfalls nicht wenn du ihm keine machst.‘
Für eine Sekunde war der Gedanke ausgesprochen verführerisch. Weniger die Möglichkeit, Berger damit ernsthaft ans Bein pissen zu können. Denn wirkliche Probleme wollte Erik dem Mann sicherlich keine mehr machen. Aber die Vorstellung, dass er Berger zumindest den am letzten Unterrichtstag vor Eriks Füßen gelandeten Fehdehandschuh um die Ohren hauen könnte, hatte durchaus etwas. Letztendlich bräuchte er nur irgendwann abends im Türrahmen zum Bad auftauchen. Dann könnte der Kerl nicht abhauen und die beschissenen Fantasien würden endlich von der Realität eingeholt werden.
‚Und sich womöglich verschlimmern‘, belehrte Eriks Vernunft ihn berechtigterweise.
Denn letztendlich war es eine reichlich naive Hoffnung, dass der Anblick eines quasi nackten Bergers tatsächlich dazu führen könnte, dass sich diese Fantasien endlich aus Eriks Hirn verkrümelten.
‚Eher willst du ihm den Rest auch noch ausziehen.‘
Schon konnte Erik spüren, wie ein bisher recht dezentes Kribbeln unterhalb der Gürtellinie allmählich immer deutlicher anschwoll.
‚Nicht nur das.‘
Erik schluckte, konnte aber die Augen nicht von der halb zusammengesunkenen Gestalt ein paar Meter vor ihm lösen. Berger wirkte müde, was angesichts der Tatsache, dass der Kerl mindestens die halbe Fahrt verschlafen hatte, reichlich widersinnig anmutete.
‚Nicht einfach nur müde‘, dachte Erik bei sich, während er Berger weiter dabei beobachtete, wie der recht lustlos sich den nächsten Löffel Pasta in den Mund schob.
Der Teller war nicht einmal halb leer, als Berger das Besteck weglegte und aufstand. Erst als er sich umdrehte, um die Reste zurück zur Küche zu bringen, schien er Erik überhaupt zu bemerken. War das ein Stocken? Zögern? Für einen winzigen Augenblick war Erik sich nicht sicher, was er da über Bergers Gesicht flackern sah. Aber zum ersten Mal seit langem hatte er kein Problem, dem Blick standzuhalten.
„Abmarsch ist in drei Minuten“, murmelte Berger und wandte sich ab.
Irritiert runzelte Erik die Stirn und sah dem Mann verwundert hinterher. So genau konnte der das doch gar nicht wissen. Als Erik das Handy aus der Hosentasche holte, stellte er jedoch fest, dass Berger mal wieder recht gehabt hatte.
„Wie macht der Kerl das?“, murmelte er verwundert.
Da Erik jedoch die Zeit davonlief, schaffte er den eigenen Teller nun auch in die Küche und folgte Berger mit geschultertem Rucksack den Weg entlang in Richtung Durchgang zum Parkplatz. Eriks Augen bohrten sich dabei ausnahmsweise in den schwarzhaarigen Hinterkopf anstatt auf den lässig vor ihn her marschierenden Hintern.
Noch bevor sie den Durchgang tatsächlich erreichten, konnte Erik draußen bereits die ersten Schüler erkennen, die auf sie warteten. Mit einem leisen Schnauben bemerkte Erik, als er direkt hinter Berger aus dem Durchgang trat, dass einige der Mädchen sich offensichtlich genau wie er bereits für den Strand umgezogen hatten.
Zugegeben, einige waren wenigstens so anständig gewesen, sich ein Handtuch um die Hüften zu binden. Andere konnten offenbar ausreichend ‚starke‘ männliche Begleitung vorweisen, die ein ebensolches an ihrer statt herumschleppte. Das hieß jedoch auch, dass sie sich somit vollkommen ungeniert in teilweise deutlich zu knapp sitzenden Bikinis präsentierten.
Nicht, dass Erik etwas gegen den weiblichen Körper an sich einzuwenden hatte. Da gab es durchaus einige in seinem Kurs, die mit ihren Reizen nicht umsonst herumwedeln konnten. Auch wenn die ihn persönlich jetzt nicht wirklich ‚reizten‘. Jedenfalls nicht auf die Weise, wie es beabsichtigt sein dürfte.
Berger reizten sie offensichtlich auch – allerdings eher im negativen Sinne. Denn der deutete nach einem kurzen Rundblick auf alle Anwesenden, die nur in Badeklamotten hier standen – egal ob mit oder ohne Handtuch. Reichlich uncharmant blaffte er die Damen prompt an: „Besorgen Sie sich gefälligst was zum Anziehen. Wir wollen zum Strand und nicht ins Bordell.“
Die entsetzten Blicke ob der ungewohnt harschen Wortwahl fand Erik wiederum ausgesprochen amüsant. Genauso wie die schmollenden Kommentare, dass sie hier im Urlaub waren und Berger sich nicht gleich beim ersten Ausflug als Spielverderber aufspielen musste. Trotzdem waren auch diese fünf Damen kurz darauf einigermaßen gesittet gekleidet. Da inzwischen alle anwesend waren, setzte sich der Tross endlich in Bewegung in Richtung Strand.