Tag 3 - Montag
25 – Unsanfter Weckdienst
In den letzten Wochen und Monaten hatte Erik sich ja mehr oder weniger daran gewöhnt, dass er quasi vom vehementen Schrei nach Aufmerksamkeit eines gewissen Körperteils aufwachte. Grundsätzlich hatte er das in den inzwischen neunzehn Jahren seines Lebens selten als wirkliches Problem betrachtet. Jedenfalls nicht den so vehementen Körperteil an sich. Nein, mit dem kam Erik meistens recht gut aus. Der Grund für den Schrei nach Aufmerksamkeit war etwas anderes. Denn der war mitunter eben doch reichlich nervig.
Was Erik hingegen überhaupt nicht leiden konnte, war, wenn man ihn quasi mit Gewalt aus dem Tiefschlaf riss. Erst recht, falls das wie heute mal wieder dazu führte, dass er vor Schreck zu hastig aufsprang und sich kurz darauf mit dem Gesicht auf dem Boden wiederfand. Weil er im Schlaf – wie so oft – die Beine in der Bettdecke verheddert hatte.
„Scheiße ...“, ächzte Erik gequält. Der Tag fing ja gut an. Wenigstens konnte es ab hier nur noch besser werden.
‚Hast du in den letzten Tagen auch gedacht.‘
Erik stöhnte, als das markerschütternde, kreischende Geräusch schon wieder da war und ihn zusammenfahren ließ. Genau das, was ihn auch aus dem Bett geholt hatte.
„Was zum Teufel soll der Krach?!“, tönte es bereits angepisst aus dem Flur.
‚Berger!‘
Sofort sprang Erik auf und riss die Zimmertür auf. Mit einer Mischung aus Enttäuschung und nächtlichem Nachglühen glitt sein Blick an dem Rücken entlang, der eben vor ihm aus der Hütte stürmte. Mit einem leisen Stöhnen bemerkte Eriks Verstand, dass Berger zwar das Badeshirt schon trug, allerdings weder lange Hose noch Hemd. Was bedeutete, dass die zum Shirt passenden Badeshorts sich ebenso eng an das nette kleine Hinterteil schmiegten. Dass Erik bei dem Anblick für einen Augenblick die Knie weich wurden, würde er freilich niemals zugeben.
Deshalb war es auch bestimmt überhaupt nicht unanständig, dass seine Blicke prompt erneut zu dem festen, strammen Po wanderten, als Erik ebenfalls aus der Hütte trat. Um genau zu sein, klebten seine Augen sprichwörtlich daran. Wenigstens war es jetzt nicht mehr schwer, sich vorzustellen, wie der Kerl ohne Klamotten aussah. Denn abgesehen von der Farbe, wäre da vermutlich nicht viel Unterschied.
„Oh, Mann“, seufzte Erik leise.
Das dürfte glücklicherweise niemand gehört haben, denn Berger brüllte von der Treppe aus wütend irgendetwas in Richtung der Arbeiter, die eine Hütte weiter an einer Kreissäge zu Gange waren. Die wiederum war eindeutig der Ursprung dieses furchtbaren Geräuschs, dass sie hier herausgetrieben hatte. Die Hände in die Hüften gestemmt, schrie Berger weiter, bis die Säge endlich anhielt.
Einer der Arbeiter grinste anzüglich und sagte irgendwas, woraufhin der Rest der Truppe in schallendes Gelächter ausbrach. Während Erik sich verlegen über den Bauch strich, ließ Berger sich davon nicht beeindrucken und giftete auf Französisch weiter, bis es eher die Männer waren, die betreten und peinlich berührt die Köpfe senkten. Einer der Kerle schaltete die Säge aus und winkte danach seinen Kollegen zu, ihm in die Hütte zu folgen.
Da sie vorerst von weiterer Ruhestörung verschont zu werden schienen, trat Erik an Berger heran und fragte: „Wird das jetzt jeden Morgen so gehen?“
Erschrocken fuhr der herum, nur um prompt einen Schritt nach hinten zu stolpern. Bergers Fuß trat auf die Kante der obersten Stufe und rutschte weg. Wie in Zeitlupe sah Erik ihn fallen. Sein Arm schoss vor und packte Bergers linkes Handgelenk. Mit einem Ruck zog er seinen Lehrer zurück.
Von wem genau das Keuchen kam, als dessen rechte Hand auf Eriks Brust landete, hätte er im Nachhinein nicht sagen können. Aber die warmen Finger auf seiner Haut machten Erik mit einem Schlag eine weitere Tatsache dieses Morgens bewusst: Er stand hier nur in der Unterhose.
Es dauerte sicherlich drei, vier Herzschläge, die unter Eriks Rippen Bergers Hand entgegenstrebten, bevor der ihn ein Stück von sich schob und seine Linke hastig aus dem Griff von Eriks eigenen Fingern befreite. Stirnrunzelnd beobachtete er, wie Berger eben jene Hand daraufhin gegen die Brust presste.
„Danke“, murmelte Eriks Lehrer leise, bevor er sich hastig an ihm vorbeischob und zurück ins Zimmer stürmte.
Als die Tür zugedrückt wurde, löste sich auch Erik endlich aus seiner Starre. Er sah noch einmal in Richtung der Hütte, in der die Arbeiter verschwunden waren. Hoffentlich würden die jetzt wirklich nicht jeden Morgen hier mit diesem Folterinstrument auf der Matte stehen.
‚Für heute Abend ist die Weinverkostung angesetzt, da kannst du morgen keinen Wecker dieser Art brauchen ...‘
In der Hoffnung, dass Berger den Punkt bereits mit den Handwerkern geklärt hatte, drehte Erik sich wieder um und kehrte in sein eigenes Zimmer zurück. Schnell hatte er frische Klamotten aus der Tasche geholt und verkrümelte sich ins Bad. Berger war ja offenbar schon beim Anziehen gewesen.
Als Erik unter der Dusche stand, schob sich das Bild von der wohldefinierten Rückansicht schon wieder vor seine eigentlich geschlossenen Augen. Das aufkommende Stöhnen konnte Erik gerade noch unterdrücken. Wenigstens war damit eindeutig geklärt, ob der Po tatsächlich derartig stramm war, wie er in den Jeans immer ausgesehen hatte.
Ein kurzes Grinsen huschte über Eriks Lippen, als er die Temperatur herunterdrehte und murmelte: „Ist er ...“
Das kalte Wasser lief über Schultern und Rücken an Erik herab. Und ganz allmählich wurde ihm noch etwas anderes klar. Nämlich, dass er diesen netten Hintern nur deshalb gesehen hatte, weil Berger seine üblichen langen Sachen noch nicht getragen hatte. Stirnrunzelnd versuchte Erik sich zu erinnern, ob er irgendetwas gesehen hatte, das man unter den langen Hosen und Hemden hätte verstecken müssen.
„Oder dem komischen Armband?“
Auch das hatte Berger nicht getragen. Sofort sah er den überraschten Blick seines Lehrers, nachdem er ihn davor bewahrt hatte, rückwärts die Treppe herunterzustürzen. Die Art und Weise, wie Berger den linken Arm gegen die Brust gepresst hatte, war merkwürdig gewesen. Erik versuchte, sich zu erinnern, ob er etwas am Arm gespürt hatte, als er diesen gepackt hatte. Aber es war so schnell gegangen, dass er nicht sicher war.
„Jedenfalls war kein Tattoo zu sehen“, murmelte Erik, als er das Wasser abstellte und zum Waschbecken trat. Zumindest dessen war er sich sicher.
Nach einem Blick in den Spiegel entschied Erik, dass er den Anblick nicht mochte, und griff zum Rasierer. Wenigstens für die Zeit, die er dafür brauchte, schaffte er es, Berger einigermaßen aus den eigenen Gedanken herauszuhalten und sich zur Abwechslung auf die Gegenwart zu konzentrieren.
Nachdem auch die Zähne geputzt und Erik nicht nur ein frisches Shirt, sondern ebenfalls die kurze Hose über die eigene Badehose angezogen hatte, trat er aus dem Bad, um die Sachen zusammenzupacken.
Bis zum Nachmittag würden sie die Zeit in einem Badepark verbringen, den man ihnen als Spaßbad verkauft hatte. Wie viel Spaß er selbst dort haben würde, war Erik durchaus klar. Also packte er neben Handtuch und Geld auch vorsorglich das Buch, das er noch immer nicht beendet hatte, wieder in den Rucksack. Einen Moment überlegte er, das zweite ebenfalls einzupacken, aber das erschien ihm dann doch übertrieben.
Erik kam eben aus dem Zimmer, als sich auch die gegenüberliegende Tür öffnete. Berger sah ihn einen Moment schweigend an, bevor er in Richtung Tür deutete. „Zeit fürs Frühstück“, murmelte Berger und wartete danach, bis Erik vor ihm die Hütte verlassen hatte.
Nebeneinander trotteten sie den Pfad entlang, der zum Haupthaus und von dort zum Speisesaal führen würde. Berger war jetzt nicht unbedingt für seine Redseligkeit bekannt. Das anhaltende Schweigen wirkte an diesem Morgen allerdings noch bedrückender als sonst.
„Sie waren es, die mich nicht nur mit dieser Fahrt ins Fegefeuer verbannt hat, Sabine. Bitte, tun Sie jetzt nicht so, als wollten Sie, dass mich irgendjemand da wieder rausholt.“
Erik schluckte, als ihm Bergers Worte der vergangenen Nacht einfielen. Empfand der Mann das hier so? Eine Hölle, in der er durch den Willen ihrer stellvertretenden Direktorin gelandet war – und aus der Berger nicht entkommen konnte. Der Gedanke zog an Eriks Eingeweiden.
Schon seit dem Tag, als Berger ihnen die Verschiebung verkündet hatte, war Erik klar gewesen, dass der Kerl nicht unbedingt versessen auf diese Fahrt war. Auch dass es nicht gerade freiwillig war. Aber obwohl Erik gewisse Aspekte dieser Reise ebenfalls als ‚höllisch‘ bezeichnet hätte, frage er sich unwillkürlich, für wie viel dieses Fegefeuers er selbst wohl bei Berger verantwortlich war.
Kaum war der Gedanke da, regte sich zwischen dem Ziehen ebenfalls ein zartes Kribbeln. Berger hatte letzte Nacht ebenso gesagt, dass Erik weder ein Problem war, noch welche machte – oder hatte. Zumindest nahm er an, dass sich diese Worte auf ihn bezogen hatten. Beschämt sah Erik zu Berger. So ganz hatte der Frau Fink da wohl nicht die Wahrheit gesagt.
„Und? Werden die uns jetzt jeden Morgen wecken oder konnten Sie die Kerle zu etwas mehr Rücksicht überreden?“
Ein kurzes Grinsen schien an Bergers Mundwinkeln zu ziehen, als er sich zu Erik hinüberdrehte und mit den Schultern zuckte. „Mal sehen.“
Wie automatisch stoppte Erik, als sie die Hecke erreichten, hinter der sich das Haupthaus und der Gang in Richtung Speisesaal befanden. Verwundert hielt auch Berger an und sah zu Erik hinüber.
„Was ist? Haben Sie etwas vergessen?“
„Ich ... werde lieber ein paar Minuten warten“, antwortete Erik zögerlich. Noch immer konnte er in seinem Kopf Bergers Stimme hören, als der Frau Fink sagte, dass er kein Problem darstellte.
Ein Stirnrunzeln schlug Erik entgegen, als sein Lehrer verwundert antwortete: „Warum?“
Er schnaubte lachend und schüttelte den Kopf. Berger schien die Frage aber ernst zu meinen, denn er stand weiterhin vor der Hecke und sah ihn verwundert an.
„Es wird merkwürdig aussehen, wenn wir zusammen beim Essen auftauchen“, antworte Erik schließlich.
Berger starrte ihn für ein paar Sekunden einfach nur an, bevor er emotionslos erneut nachfragte: „Warum?“
Erik konnte spüren, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Diesmal jedoch nicht, um das Blut nach unten zu pumpen. Stattdessen spürte er sehr genau, wie sich seine Wangen allmählich erhitzten, während Erik versuchte, das Gedankenchaos in Worte zu fassen. Solche, die weder lächerlich noch kindisch oder albern klangen. Denn je länger Erik in Bergers ausdrucksloses Gesicht sah, desto unsicherer wurde er, ob er selbst hier ein Problem sah, dass sein Lehrer gestern noch verneint hatte.
„Es ... könnte jemand denken, dass wir zusammen ...“, murmelte Erik verhalten, schaffte es aber nicht, den Satz zu beenden.
Stattdessen starrte er auf das immer breiter werdende Grinsen, das ihm inzwischen entgegenschlug, als Berger sich ganz zu ihm herumdrehte. Mit dem Zeigefinger klopfte er gegen die Unterlippe, als würde er darüber nachdenken müssen. Erik musste schlucken, um die prompt aufsteigenden unangemessenen Bilder dort zu halten, wo sie hingehörten.
„Hm“, brummte Berger schließlich. „Also ich vermute eher, dass jemand denken könnte, unsere Einzelzimmer liegen nebeneinander. Was in der Tat ja sogar der Fall ist.“
Erik ächzte und fuhr sich durch die Haare. „Sie wissen genau, was ich meine.“
„Ja“, gab Berger weiterhin grinsend zurück.
„Vor zwei Tagen war Ihnen das nicht so egal“, brummte Erik beleidigt, weil der Blödmann noch immer belustigt aussah.
Der hob prompt den Finger und hielt ihn jetzt Erik vor die Nase. Bei dem Gedanken, wo dieser Zeigefinger gerade noch gewesen war, wurde ihm schon wieder ganz anders. Der blöde Kerl war doch garantiert erneut dabei, ihn zu provozieren!
„Ah-ah!“, bemerkte Berger mit einem weiteren Lächeln. „Vor zwei Tagen war ich besorgt, dass es unangemessen wäre, wenn wir tatsächlich zusammen in einem Doppelzimmer landen würden.“
„Warum?“, platzte es nun seinerseits aus Erik heraus, als er sich nach vorn beugte zu seinem Lehrer. „Angst, dass ich über Sie herfalle?“
„Die Frage haben wir schon geklärt, Erik.“
Er schnaubte erneut und richtete sich wieder auf. „Gehen Sie jetzt endlich zum Frühstück? Ich hab Hunger.“
Das Grinsen verwandelte sich allmählich in ein Lächeln, als Berger mit dem Daumen über die Schulter in Richtung des Haupthauses deutete. „Wenn ich zum Frühstück gehe, haben Sie immer noch Hunger.“
Das Flattern in Eriks Bauch nahm ein weiteres Stück zu, als er in das zufrieden lächelnde Gesicht seines Lehrers sah. Wieder wartete er auf einen bissigen Kommentar des mentalen Quälgeistes, aber der blieb weiterhin aus.
„Sie wissen genau, was ich meine“, grummelte Erik, weil der Kerl dummerweise mal wieder recht hatte.
„Hm“, brummte Berger mit anhaltendem Lächeln und trat jetzt doch einen Schritt zurück, während er sich umdrehte. „Sie vergessen, dass ich nicht Gedankenlesen kann, Erik.“
Damit verschwand Berger hinter der Hecke und ließ ihn alleine stehen. Unsicher starrte Erik auf die Stelle, an der vor ein paar Sekunden sein Lehrer gestanden hatte.
‚Hat der Kerl sich eben über dich lustig gemacht?‘
Erik war sich nicht sicher. Im Grunde genommen hatte er gar keine Ahnung, was er von diesem Morgen halten sollte. Zumindest hatte er – abgesehen von dem unschönen Weckdienst – nicht ganz so mies begonnen, wie der gestrige Tag aufgehört hatte. Und offensichtlich nahm Berger ihm den Vorfall auf der Promenade auch nicht übel.
Bei der Erinnerung daran zogen sich Eriks Eingeweide eher zusammen, als dass da noch etwas kribbeln würde. Der Knoten zog sich stetig enger, bis er als unschöner und schwerer Stein in Eriks Magen liegen blieb.
Den blöden Franzosen hatte Berger nicht von sich weggedrückt. Dabei war der deutlich näher gewesen, als Erik ein paar Minuten später. Obwohl er selbst es ungern zugab, der Anblick hatte ihn rasend gemacht. Den Grund dafür wollte allerdings nicht einmal das Arschloch von mentalem Quälgeist in Worte fassen.
„Scheiße ...“, zischte Erik verhalten, bevor er sich doch endlich in Bewegung setzte.
Schließlich wollte er auf keinen Fall als Letzter am Tisch sitzen und schon wieder zum Räumdienst eingeteilt werden. Deshalb hastete Erik kurz darauf den Weg entlang. Berger erreichte gerade den Platz vor dem Speisesaal. Schon von unten konnte Erik erkennen, dass irgendjemand noch vor ihnen wach gewesen war und die Tische erneut draußen standen.
‚Stopf dir genug rein, und dann sieh zu, dass du Land gewinnst!‘