28 – Freundliche Begegnung
Die verdammte Ausschilderung trieb Erik auf seinem Weg zur Erleichterung halb in den Wahnsinn. So weit, dass er sich den Weg fast hätte sparen können. Wären da nicht die anhaltenden Variationen des mentalen Quälgeists dazu, wie Berger ihm bei diesem Problem zur Hand ging.
Er umrundete gerade das Gebäude, in dem sich diesmal hoffentlich die Umkleide befand, als ihm ein gut gelauntes „Salut“, entgegenschlug.
Erik erstarrte. Wieder beschleunigte sich sein Herzschlag, während er aus schierer Verzweiflung den Rucksack gegen Bauch und Schritt presste. Das heruntergeratterte Kauderwelsch verstand Erik natürlich nicht, aber diesen Blick kannte er nur zu gut. Den hatte er oft genug gesehen und vermutlich vor zehn Minuten auch noch selbst getragen.
„Hi“, brachte Erik schließlich reichlich lahm zustande. „Ich spreche ... Je ne parle pas français“, fügte er stotternd hinzu.
Vor ein paar Sekunden hätte es unmöglich erschienen, aber tatsächlich fühlte Erik sich mit dem Spruch noch dämlicher als ohnehin bereits. Denn immerhin sagte er da einem Kerl, dem garantiert klar geworden sein dürfte, dass er kein Wort von ihm verstanden hatte, auf Französisch, dass er kein Französisch sprach.
‚Trottel!‘
Eriks Blick hingegen konnte sich nicht von dem jungen Mann lösen, der da vor ihm stand. Der gleiche arme Tropf, der von seinen Freunden so sträflich missachtet worden war, während die in der Öffentlichkeit absolut unbefangen rumgemacht hatten. Unter Eriks wachsamen Augen
„Hm ...“, brummte der Franzose und trat einen Schritt heran.
Als er dann auch noch den Rucksack ein Stück beiseitezog, zeigte sich ein ausgesprochen zufriedenes Grinsen auf den Lippen des Franzosen. Was er danach sagte, verstand Erik schon wieder nicht einmal ansatzweise.
‚Scheiße! Du hättest im Unterricht besser aufpassen sollen!‘
Statt etwas zu sagen, zuckte Erik nur mit den Schultern und grinste schief.
Was ihm ein weiteres, „Hm“, einbrachte, bevor der Kerl schließlich grinsend auf die eigene Nase deutete und „Mathis“, sagte.
Okay, damit konnte er schon eher was anfangen. „Erik“, nuschelte er und presste den Rucksack erneut gegen den Bauch. Mussten ja nicht alle anderen Gäste auch noch mitbekommen, was er gerade für ein ‚Problem‘ hatte. Diese Vorstellungsrunde war schon merkwürdig genug.
Zumal Eriks verräterischer Schwanz die Zunge, die zwischen Mathis‘ Lippen hervorblitzte, ausgesprochen interessant fand. Ganz zu schweigen von den Blicken, die ein weiteres Mal an ihm auf und ab glitten. Anbetrachts der Tatsache, dass Erik eben noch einen gewissen Jemand um eine helfende Hand gebeten hatte, war er sich aber jetzt nicht mehr sicher, wie willkommen die von einem Fremden wäre.
‚Jeder normale Kerl in deinem Alter würde da nicht mal drüber nachdenken!‘, versuchte der Quälgeist Erik zureden, fachte die Zweifel damit aber eher noch an als sie zu zerstreuen.
Mathis musterte ihn weiterhin eindringlich. Schließlich ergriff er Eriks Hand und zog ihn hinter sich her in die Umkleide. Von dort ging es direkt in eine der Familienkabinen. Zumindest vermerkte der noch vorhandene Rest von Eriks Verstand, dass sie für eine Person garantiert zu groß war. Ehe er es sich versah, war Eriks Rücken an eine Wand gepresst und Mathis der Länge nach gegen ihn.
‚Fuck!‘, zuckte es ihm durch den Kopf, während aus Eriks Mund nur ein Keuchen entkam.
Der Rucksack landete krachend auf dem Boden. Forscher als erwartet, griff Mathis bereits nach Eriks Hosenbund. Die fragend geflüsterten Worte verstand er natürlich schon wieder nicht. Ehrlicherweise war Erik in dem Moment aber auch nicht sicher, ob er Englisch oder Deutsch besser verstanden hätte. In seinem Kopf dröhnte und hämmerte es nur so vor sich hin. Jeder rasende Herzschlag ein Pulsieren, das sich durch seinen ganzen Körper arbeitete.
Was gerade abging, erklärte sich glücklicherweise ohnehin von selbst. Trotzdem war Erik überrascht, als mit einem Mal die Lippen des Franzosen auf den eigenen landeten und dieser mit der Zunge recht vehement Einlass forderte.
„Oh, Mann“, krächzte Erik Sekunden später. Genau in dem Moment, als sein Mund wieder frei war, die Lunge genug Sauerstoff und der Schritt dafür die Aufmerksamkeit bekam, die der sich ersehnt hatte.
Erst als der Knopf von Eriks Short offen war und Mathis‘ Finger in die darunter verborgene Badehose geschoben wurde, dämmerte es Erik allmählich, wie weit das Angebot hier offensichtlich gehen sollte. Er bräuchte nur die eigene Hand ausstrecken und würde genau das bekommen, was sein pochender Schritt so vehement einforderte.
Das raunende Flüstern neben Eriks Ohr war in Klang und Verständlichkeit wie das Rauschen des Meeres. Der Gedanke daran, dass er gestern bereits einmal fast ersoffen wäre, war jedoch kein sonderlich schöner. Ganz im Gegenteil. Kaum war die Assoziation da, konnte Erik es förmlich körperlich fühlen. Kälte, Dunkelheit, absolute Orientierungslosigkeit. Mit jeder verstreichenden Sekunde hämmerte es schneller in seiner Brust. Zog sich das Band der Panik stärker um seinen Hals.
Mit zitterndem Atem registrierte Erik, dass Mathis‘ Griff zunehmend fester wurde. Der letzte Sex schien mit einem Mal Ewigkeiten her zu sein. Wobei sich das primär auf die Anwesenheit eines anderen Menschen bezog.
Jeder halbwegs normale Mann würde zu dem, was Mathis hier gerade anbot doch nicht ‚Nein‘ sagen. Oder? Es wäre dämlich. Scheiß drauf, was andere dachten! Nehmen, was man kriegen konnte, ungeachtet der Folgen. Bevor ihm bewusst wurde, was er tat, hatte Erik den forschen Mathis zu einem weiteren Kuss herangezogen.
Wieder wurde das Rauschen in seinen Ohren stärker. Aber anstatt es wie sonst willkommen zu heißen, wanderte ein Zittern durch Eriks Körper. Die Kälte, von der er sich bis eben noch hatte einreden können, dass sie nur eingebildet war, breitete sich mit jedem Herzschlag weiter in seiner Brust aus.
‚Ist es wirklich der Quickie hier, den du willst?‘
Mit geschlossenen Augen versuchte Erik, den dämlichen Verstand, samt Quälgeist, abzuschalten, sich endlich fallen zu lassen und einfach mitzumachen. Er war neunzehn, verdammt noch einmal! Single, ohne Beziehung, und ohne Aussicht darauf, dass sich daran etwas in naher Zukunft ändern könnte. Dafür stand Erik hier mit einem Steifen, der nach Aufmerksamkeit schrie und genau die gerade bekam.
‚Vom Falschen.‘
Erik keuchte und drehte den Kopf weg. „Scheiße ...“, fluchte er unterdrückt und griff nach der Hand, die weiterhin seinen Schritt massierte. Wieso musste dieser verfluchte Gedanke gerade jetzt kommen?! Berger nahm ihn sowieso nicht ernst. Der würde Erik doch eh immer nur als hormongesteuerten Teenager betrachten.
‚Was du hiermit gerade beweist.‘
„Verdammt noch mal ... Nicht. Arrête!“, zischte Erik schließlich und schob Mathis‘ Hand von sich weg.
Seit Monaten warf das beschissene Arschloch in Eriks Kopf ihm vor, dass er Berger nicht gegen die nächste Wand presste. Oder dass Erik nicht mit jedem Vollspacken, der sich ihm anbot, ins Bett stieg. Und jetzt, wo sich dazu die Gelegenheit bot, war es genau dieser verfluchte Quälgeist, der ihn hiervon abhalten wollte!
Mathis hielt in der Tat inne. Allerdings sah er Erik völlig verständnislos an. Zu Recht! Wieder ein fragender Schwall auf Französisch. Allmählich hatte Erik die Schnauze voll davon, dass er die Leute nicht verstand. Entweder sie laberten in der falschen Sprache, so wie Mathis. Oder sie versuchten, Erik anzumachen, obwohl klar sein sollte, dass er nicht auf sie stand – so wie Sophie. Und dann war da Berger, bei dem Erik im Grunde überhaupt nichts mehr verstand. Weder was der von ihm erwartete, noch was er selbst von dem Blödmann wollte.
‚Diese beschissene, hilfreiche Hand wäre ein Anfang‘, flüsterte der Quälgeist.
Erik schloss die Augen und kämpfte darum, sich zu beruhigen. Die helfende Hand hätte er von Mathis bekommen können – würde er vermutlich immer noch, wenn Erik endlich aufhören würde, sich so anzustellen. Bei dem Gedanken zuckte er zusammen. Die gleichen Worte, die ihm Dominik und Tom einst um die Ohren gehauen hatten.
Jetzt dachte er sie selbst. Womöglich hatten die beiden eben doch recht gehabt. Aber egal, wie oft Erik versuchte, sich davon zu überzeugen, dass es völlig in Ordnung war, was er hier tat, es drängte sich stetig eine andere Frage in den Vordergrund. Die danach, was Berger davon halten würde. Würde der auch sagen, dass Erik sich ‚anstellte‘? Dass schließlich nichts dabei war, mit jemandem herumzufummeln? Etwas Rumfummeln, ein Blowjob, ein Quickie in irgendeiner dunklen Ecke. Wäre doch normal ins einem Alter. Oder?
Wo blieb die Stimme des mentalen Arschlochs, die Erik sagte, dass er ein Trottel war, wenn er Mathis weiterhin davon abhielt das zu tun, was der doch ebenso wollte?
Stattdessen war da heute lediglich dieses beschissene Flüstern, das ihm beständig sagte, Mathis wäre der Falsche. Und dass Berger nicht der Typ war, der darauf stand, wenn man ihn eifersüchtig machte. Er würde es vielleicht verstehen, aber am Ende wäre Erik dann doch nur genau das, was Berger ihm vorgeworfen hatte: Neugierig auf den Sex und sonst nichts. Nur dass es darum längst nicht mehr ging.
„Erik? Sind Sie da drinnen?“, ertönte mit einem Mal von draußen die ‚richtige‘ Stimme. Erschrocken fuhr er zusammen und sah zunächst in Richtung der Kabinentür, anschließend wieder zu Mathis, der weiterhin unschlüssig vor ihm stand.
„C’est ton amant?“
Erik verzog das Gesicht. Mehr als mit den Schultern zucken konnte er nicht. Das gleiche Wort, das der Schleimbeutel von gestern benutzt hatte, als der mit Berger gesprochen hatte. Erik schluckte. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, es gab lediglich einen Grund dafür, dass er den beschissenen Franzosen von Berger verjagt hatte. Weil dessen verdammte Wichsgriffel nichts auf dem zu suchen hatten, was Erik gehören sollte. Und jetzt stand er selbst hier mit einem anderen.
„Das ist so eine verfahrene Scheiße“, jammerte Erik verhalten, während er den Kopf sinken ließ.
Das hatte scheinbar auch Mathis gemerkt. Der trat vor und hob Eriks Kopf an. Den fragenden Blick ertrug er jedoch nicht und schloss die Augen. Scham kroch Erik den Nacken hinauf. Am liebsten wäre er im Boden versunken.
Da wollte er erwachsen sein, ein Mann. Stattdessen fühlte er sich im Augenblick eher wie ein verängstigtes Kind, das zu blöd war, einfach loszulassen. Anonymer Sex mit irgendjemanden. Das konnte doch nicht so schwer sein. Im Rush-Inn waren ständig Leute, die so lebten. Und die waren auch glücklich damit. Dabei hatte Erik es in den zwei Monaten doch sogar geschafft, mit dem einen oder anderen dort ins Gespräch zu kommen. Er war mitgegangen, hatte das taube Gefühl in seiner Brust ignoriert. One-Night-Stands waren immer noch scheiße, aber nicht bei jedem hatte es für ein zweites Treffen gereicht.
Die Tür zur Umkleide war zu hören und Bergers Stimme entsprechend ein Stück näher, als der erneut rief: „Erik? Sind Sie hier?“
Er musste sich auf die Lippe beißen, um nicht direkt zu antworten. Trotzdem zuckte Eriks Blick in Richtung Kabinentür. Wenn Berger noch näher kam, würde er garantiert bemerkten, dass er hier drinnen war – und zwar nicht alleine. Der Gedanke daran ließ Eriks Puls prompt in die Höhe schießen.
‚Der steht garantiert nicht drauf, wenn man ihn eifersüchtig macht, so wie Pierre.‘
Erik biss ich auf die Unterlippe. Dafür müsste Berger ja überhaupt erst einmal Interesse an ihm zeigen. Da er den fragenden Blick des Franzosen vor ihm nicht länger ertrug, sah Erik lieber zur Decke hinauf. Ein Teil von ihm konnte nur noch inständig darauf hoffen, dass Mathis ebenfalls die Klappe halten würde.
Der stand weiterhin vor Erik und sagte dankenswerterweise tatsächlich nichts. Erst als sie die Tür nach draußen erneut hörten, atmete Erik erleichtert auf und schloss die Augen.
Mathis fragte irgendetwas. Warum sprach der Kerl überhaupt weiterhin mit ihm? Wenn der Typ wenigstens auf Englisch quatschen würde. Aber auf die Idee, es damit zu versuchen war Erik ja in der Hitze des Gefechts auch nicht gekommen. Trotzdem sollte doch Mathis inzwischen klar geworden sein, dass Erik weder für ein Gespräch noch für schnellen Sex zu gebrauchen war.
‚Für grundsätzlich nichts, du Trottel!‘
Mathis Hand legte sich an Eriks Wange, sodass der die Augen wieder öffnete. Ein weiterer fragender Blick, für den Erik keine Antwort parat hatte. Wenigstens war es nicht Wut, die ihm entgegenschlug, sondern ein regelrecht freundliches Lächeln. Eine Spur Mitleid, in dem aber auch etwas Verständnis mitzuschwingen schien. Warum zum Geier hatte Erik ausgerechnet bei diesem Fremden jetzt plötzlich das Gefühl, zu wissen, was der dachte?
Dabei hätte Erik dem forschen Franzosen nicht einmal verübeln können, wenn der jetzt wirklich sauer gewesen wäre. Immerhin hatte er sie beide mit seinem Rückzug um einen schnellen, anonymen Fick gebracht. Bei dem Gedanken zuckte er erneut zusammen und senkte seinen Kopf.
„C’est mignon“, meinte der Franzose mit einem leisen Lachen, das in einem Kopfschütteln endete.
Als Mathis ihm dann auch noch mit der offenen Hand die Wange tätschelte, kam Erik sich erst recht wie ein dämliches Kind vor. Ein weiterer, flüchtiger Kuss. Geradezu gesittet. Die Art, wie man sie wohl einem unreifen, peinlichen Balg gab, der es nicht auf die Reihe bekam, sich wie ein Mann zu verhalten. Immerhin lächelte der Franzose, als er sich schließlich abwandte.
Ein kurzer Griff in die inzwischen nicht mehr sonderlich enge Badehose, danach war Mathis verschwunden. Und Erik allein. Wie so oft – im Grunde, wie es immer gewesen war in den letzten Jahren. Und das hatte ihn nie wirklich gestört. Bisher. Noch einmal richtete sich Eriks Blick gen Decke, während er versuchte, den Tornado, der durch sein Innerstes zu tobte, einigermaßen in den Griff zu bekommen.
„So geht das nicht weiter“, flüsterte Erik schließlich in die Stille – obwohl niemand da war, der es hören konnte. Er schloss die Augen. Vielleicht würde es helfen, wenn er sich endlich eingestehen würde, was ‚das‘ überhaupt war.
Auf Sex wollte Erik garantiert nicht verzichten. Dieses beschissene Gefühl, weiterhin auf der Stelle zu treten, konnte ihm allerdings getrost gestohlen bleiben. Vor allem hatte Erik keine Lust mehr darauf, sich wie ein jämmerlicher Vollidiot zu fühlen, weil er sich nicht eingestehen wollte, was längst Tatsache war – aber offenkundig nie Realität werden durfte.
Mit einem lauten Krachen knallte Eriks Kopf gegen die dünne Pressspanwand in seinem Rücken. Glücklicherweise tat das nicht wirklich weh.
„Scheiße!“, zischte er – diesmal wütend über sich selbst. „Er ist dein verdammter Lehrer. Das geht nicht, du Trottel.“
Da gab es zig Kerle da draußen, denen er an die Wäsche gehen konnte. Himmel, einer von ihnen war gerade noch hier drinnen gewesen. Bereit für genau das, was Erik die ganze beschissene Fahrt, wenn nicht sogar den halben Sommer angeblich schon suchte: Spaß, Sex, Abwechslung, Ablenkung. Aber anstatt sich eben das zu nehmen, machte der Irrsinn in seinem Kopf immer mehr kaputt!
Wütend trat Erik nach der Bank auf der anderen Seite der Kabine. Es krachte, half aber nicht gegen das Brodeln, das in ihm aufstieg. Stattdessen tat ihm der blöde Fuß jetzt weh. Wenigstens war die Bank heil geblieben. Fehlte noch, dass er hier irgendetwas demolierte und dafür zahlen musste.
Im Grunde wusste Erik schließlich nur zu gut, warum er das hier nicht hatte durchziehen können. Weshalb da etwas in seinem Kopf der Meinung war, es wäre falsch mit jemandem rumzumachen, während Erik eigentlich an einen anderen Mann dachte, mit dem er genau das tun wollte.
„Kein Mensch interessiert sich tatsächlich für so einen beschissenen Anstand!“, fauchte Erik und trat erneut zu.
Außer, dass ihm danach der Fuß noch mehr wehtat, änderte sich aber nicht viel. Denn Erik wusste nur zu gut, warum dieser irre Teil seiner selbst ihn aufgehalten hatte. Weil der Idiot in ihm weiterhin hoffte, dass Erik nur ‚das richtige‘ tun musste, um sich irgendwie die Gunst von diesem blöden Lehrer zu erarbeiten. Dass es eine Möglichkeit, Berger davon zu überzeugen, dass er kein verdammtes Kind mehr war. Eine Chance, nicht mehr der dumme, notgeile Teenager zu sein.
„Dafür der beschissen sexuell frustrierte Neunzehnjährige“, grummelte Erik beleidigt und ließ den Kopf ein weiteres Mal – diesmal deutlich sanfter – gegen die Rückwand der Kabine fallen. Dass Erik der Mann sein könnte, der irgendjemandem genug wert war, um den ganzen Lehrer-Schüler-Scheiß zu ignorieren, darauf brauchte er wohl nicht zu hoffen.
‚Zeit, es sich einzugestehen.‘
So sehr Erik sich sträubte, scheinbar gab es tatsächlich keinen Weg mehr darum herum. Gestern hatte er nur ein flüchtiges, vielleicht nicht einmal wirklich ernst gemeintes Angebot von Pierre abgelehnt. Aber Mathis hatte die Hand ja schon an Eriks Schwanz gehabt. Vermutlich hätte er bei dem Kerl auf einen Blowjob hoffen können. Trotzdem hatte er abgelehnt.
‚Und warum?‘
Erik stöhnte und ließ den Kopf erneut hängen. „Weil es nicht der richtige Blödmann war“, murmelte Erik verhalten und sprach damit das aus, was er nicht einmal denken sollte.
Es ließ sich nicht mehr verleugnen. Er wollte diese beschissene Beziehung auf Augenhöhe, von der Berger gesprochen hatte. Und als ob das in Eriks Alter nicht schon bekloppt genug wäre, war der verbotene Gedanke, diese auch noch mit seinem verfluchten Lehrer zu führen stetig verlockender.
„Trottel“, krächzte Erik während er auf den Boden und in sich zusammensank. Dabei hatte ausgerechnet Berger ihn eben beinahe mit Mathis hier erwischt.
„Scheiße!“
Hastig sprang Erik auf, schnappte sich den Rucksack und stolperte aus der Kabine. Erst als er in der Umkleide stand, fiel ihm auf, dass seine Hose noch immer offen war. Schnell rückte Erik seinen Schritt zurecht und schloss sie wieder. Wenigstens hatte sich das Problem vorerst erledigt.
‚Bergers Lippen an deinem Schwanz hätten das auch geschafft.‘
Erik stöhnte erneut. Heute war das Arschloch in seinem Kopf mal wieder so gar nicht hilfreich. Stimmte nur leider auffallend, was der Mistkerl behauptete. Vermutlich hätte Berger nur nett mit den Augen blinzeln und anzüglich grinsen müssen und Erik wäre gekommen.
„Albert, nicht Werther!“, ermahnte er sich.
Was Erik wollte, war nicht nur Sex, denn den hätte er vor zehn Minuten in dieser verdammten Kabine haben können – zumindest etwas in der Richtung. Nein. Egal wie bescheuert das sein mochte, was Erik wollte, war Berger, und zwar nicht nur im Bett.
„Sie sollten nicht der Illusion nachrennen, dass Ihr Interesse sich auf mehr als nur die Antworten auf ihre Fragen bezieht.“
Es war keine beschissene Illusion! Und Berger in ein paar Tagen nicht mehr sein Lehrer. Erik hatte schon die Hand gehoben, um die Umkleide zu verlassen, als er erneut stockte. Wenn es wirklich nur diese verdammte Schüler-Lehrer-Verbindung war, die zwischen ihnen stand, müsste Erik Berger womöglich tatsächlich nur beweisen, dass er sich vernünftig benehmen konnte. Er wollte wenigstens die Chance haben, den Mann hinter der Fassade zu sehen, bevor er sich seine Abfuhr abholte.
Zögerlich sah Erik zurück zu der Kabine, in der er eben noch mit Mathis verschwunden war. Berger hatte ihn gesucht. Der Kerl war Erik gefolgt. Warum? Wegen der beschissenen Zehn-Meter-Regel? Wohl kaum. Weil er Erik tatsächlich zur Hand gehen wollte? Angenehme Vorstellung, aber ebenso unwahrscheinlich.
‚Weil er Mathis gesehen hat und die Idee scheiße fand, dass du mit dem rummachst‘, warf der Quälgeist ein. Das wäre mal etwas Neues. ‚Und jetzt?‘
„Fuck!“, keuchte Erik, als ihm klar wurde, dass Mathis längst draußen war und Berger ihn so oder so spätestens beim Abhauen gesehen haben könnte. Zügig lief er aus der Umkleide und um das Gebäude herum.
Wie lange war Mathis schon weg? Erik war sich nicht sicher. Sein Zeitgefühl schien vollkommen abhandengekommen zu sein. Er hätte nicht einmal sagen können, wie viele Minuten es her war, dass er selbst sich von der Gruppe entfernt hatte.
Also wandte Erik sich nach rechts, zurück in Richtung der Liegewiese, auf der sie sich zuvor einen Platz gesucht hatten. Je näher er der Ecke des Gebäudes kam, desto langsamer wurden Eriks Schritte jedoch. Er atmete noch einmal tief durch und trat schließlich nach vorn – nur um prompt tatsächlich zu stocken. Den Blick stur geradeaus versuchte Erik, sich einzureden, dass dies hier der Anblick war, den er nicht nur erwarten, sondern sogar hätte erhoffen sollen.
Aber es funktionierte nicht.
Es war unbestreitbar, dass Erik erwartet hatte, Berger spätestens hier zu sehen. An die Wand gelehnt, die Hände in den Hosentaschen. Er würde zu Erik aufsehen und fragen, warum er so lange weg war. Vielleicht sogar, ob er in dem jungen Franzosen von eben die erhoffte Hilfe gefunden hatte.
Aber Berger stand da nicht. Und das fühlte sich schlicht ziemlich beschissen an.