4 – Ereignislose Rast
Auch wenn die Fahrer am liebsten einfach nur die Plätze getauscht hätten, kamen sie um fünfzehn Minuten Pause nicht herum. Zumal die beiden Lehrerinnen darauf bestanden, dass die trotz der nächtlichen Stunde putzmunteren Schüler zumindest die Möglichkeit bekamen, sich für ein paar Minuten die Füße zu vertreten.
Sogar Berger war pünktlich in der Zufahrt zum Parkplatz aufgewacht. Für einen Augenblick hatte Erik sich gefragt, ob er Kerl wirklich geschlafen hatte. Er selbst war ja durchaus ein Frühaufsteher, aber die Leichtigkeit, mit der Berger zwischen Tiefschlaf und hellwach umschalten konnte, war in gewisser Weise bewundernswert.
Die Mehrzahl der Schülerinnen verschwand augenblicklich in Richtung der Toiletten – zusammen mit den zwei Lehrerinnen. Dass die für achtzehn Personen auf einmal reichen würde, war eher nicht zu erwarten und so bildete sich schlagartig eine Schlange, über die Erik nur müde lächeln konnte. Die Herren ihrer Reisegesellschaft schienen da mit entweder deutlich standfesterer Blase oder zumindest mehr Ruhe ausgestattet zu sein. Die meisten von ihnen schlenderten miteinander quatschend in Richtung der Toiletten.
Erik selbst blieb lieber beim Bus, die Chance sich die Beine zu vertreten, ließ er sich allerdings nicht entgehen. Außerdem erhoffte er sich, dass er beim Einsteigen einen Platz auf der anderen Seite des Ganges erwischen würde. Da die Schülerinnen, die dort eigentlich saßen, sich vermutlich eh wieder in den hinteren Teil des Busses verziehen würden, wäre das im Endeffekt für alle eine passable Lösung. Zumindest hätte Berger Platz zum Schlafen und Erik müsste nicht neben dem Blödmann sitzen.
‚Wo steckt der Kerl eigentlich?‘, fragte Erik sich verwundert, als er in den schwarzen Haarschopf seines Lehrers in der Dunkelheit nirgendwo entdecken konnte. Ein kurzer Blick in den Bus bestätigte, dass er dort auch nicht war. Zu den Toiletten hatte Erik Berger allerdings ebenso wenig gehen sehen.
‚Merkwürdig.‘
„Na, Hoffmann? Muss das Baby neben dem Lehrer hocken?“, tönte es in diesem Moment hinter ihm.
Überrascht fuhr Erik herum, schaffte es aber, den eigenen Verstand rechtzeitig in Gang zu bekommen, um direkt zurückzuschießen: „Neidisch?“
„Worauf?“, fragte Sandro unwirsch zurück. „Als ob der Berger sonderlich gute Unterhaltung darstellen würde.“
Da Erik über den Unterhaltungswert seines Lehrers besser keine Kommentare abgeben sollte, hielt er sich in der Hinsicht vorsorglich zurück. Es wäre vermutlich eine reichlich dämliche Idee, dem Affenkönig auf die Nase zu binden, dass es da durchaus ein nicht zu verleugnender Reiz in Berger lag.
‚Nur in seinem Körper!‘, ermahnte ihn der einigermaßen vernünftige Teil von Eriks Verstand prompt.
„Sein Unterhaltungswert ist garantiert sogar im Schlaf höher als deiner“, antwortete Erik schließlich einem breiten Grinsen. Denn das war definitiv nicht gelogen.
„Suchst du Ärger?“, zischte Sandro wütend. Vermutlich war er sauer, weil er seit den schriftlichen Prüfungen keine Chance mehr gehabt hatte, seinen Frust an Erik abzulassen. Würde sich heute aber auch nicht ändern, denn Erik plante, sich nicht so einfach provozieren zu lassen.
Brauchte er allerdings gar nicht. In dem Moment kam Ines auf sie zu gehüpft und sah blinzend zwischen ihnen beiden hin und her. „Mann, Sandro“, jammerte sie direkt los und zog den in Richtung Bustür. „Bleib locker. Ich hab keinen Bock, die ganze Fahrt über dieses Alphamännchengehabe ertragen zu müssen.“
Zwar funkelte Sandro Erik daraufhin noch einmal wütend an, sagte aber nichts mehr. Stattdessen ließ er sich von Ines in den Bus zerren, während Erik ihm lediglich grinsend hinterherblickte. Ging es eigentlich noch peinlicher? Da war wohl eher ein Alphaweibchen als das passende Männchen bei den beiden aktiv.
„Sie können gleich mit einsteigen“, murrte es in diesem Moment hinter ihm.
Sofort war Erik klar, dass es durchaus um einiges blamabler werden konnte. Betont langsam drehte er sich erneut um und diesmal war es Berger, der sich an ihn angeschlichen hatte. Für den fiel Erik dummerweise kein blöder Spruch ein, den er ihm reinwürgen konnte.
Alles, was er herauspresste, war ein reichlich lahmes: „Es sind noch drei Minuten Pause.“
Das brachte ihm ein zaghaftes Lächeln, aber auch ein kurzes Seufzen ein, während Berger die Hände in die Hosentaschen schob. Um nicht so auszusehen, als würde er seinen Lehrer anstarren, wandte Erik sich schnell ab. Viel zu sehen gab es dummerweise nicht. Zum einen war es weiterhin mitten in der Nacht und entsprechend dunkel. Zum anderen boten halb verlassene Autobahnparkplätze per se nicht unbedingt sonderlich viel Unterhaltungswert.
‚Im Gegensatz zu deinem Lehrer?‘
Nun ja, dass der einen gewissen Reiz auf ihn ausübte und dadurch mitunter durchaus zu Eriks ganz persönlicher Unterhaltung beitrug, ließ sich nicht bestreiten. Um genau zu sein, wäre jede auch nur ansatzweise widersprechende Aussage glattweg gelogen gewesen. Das würde Erik dem Blödmann von Lehrer aber sicherlich nicht auf die Nase binden. Schließlich würde ihn das nur wieder wie ein unreifes Kind wirken lassen, das sich nicht unter Kontrolle hatte.
‚Reiß dich zusammen!‘, ermahnte Erik sich sofort.
Sobald sie angekommen waren, würde er zusehen, dass er zum Strand kam. Mit einem klaren Ziel. Nämlich einen netten, hübschen – okay, zumindest ‚willigen‘ – Franzosen abgreifen, der für einen kurzen Urlaubsflirt zu haben war. Seiner eigenen Meinung nach sah Erik nicht so mies aus. Sollte also grundsätzlich machbar sein.
„Zeit ist um“, meinte Berger in diesem Moment und riss Erik ein weiteres Mal aus den abgleitenden Gedanken.
Da er garantiert nicht für zusätzliche Verzögerung sorgen und damit den Unmut der anderen Mitreisenden auf sich ziehen wollte, stieg Erik nun doch schweigend ein. Sein Plan, sich auf einen der Plätze auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges zu setzen, scheiterte jedoch. Daran, dass Frau Farin, eine der Lehrerinnen, darauf bestand, dass sie bei der Abfahrt alle auf ihren Plätzen saßen, um das Durchzählen zu erleichtern. Entsprechend missmutig ließ Erik sich auf den Sitz am Fenster fallen, während Berger sich neben ihn schob.
Der Bus verließ den Parkplatz und fuhr zurück auf die Autobahn. Glücklicherweise hatten sie den Stau vorerst hinter sich gelassen und näherten sich nun in einem, zwar nicht sonderlich zügigem, aber dennoch konstantem Tempo ihrem Ziel. Eriks Blick wanderte zur Uhr über der Frontscheibe. Da er keine Ahnung hatte, wie viel Zeit sie die Sperrung tatsächlich gekostet hatte, war es unmöglich, abzuschätzen wie lange sie noch brauchen würden.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Erik, dass zwei der Plätze auf der gegenüberliegenden Seite wieder frei wurden. Leider machte das für ihn selbst keinen Unterschied. Denn die Sitze waren prompt von anderen Damen dort drüben belegt worden, die es sich scheinbar zum Schlafen bequem machten. Abgesehen davon war da ja noch ein gewisser Deutschlehrer, über den Erik zunächst hätte drüber klettern müssen. Schnell wandte er sich ab und starrte aus dem Fenster in die allmählich einsetzende Dämmerung.
‚Bloß nicht schon wieder in diese Richtung denken‘, ermahnte Erik sich selbst. Erstaunlicherweise schien das diesmal sogar zu funktionieren. Jedenfalls bis zu dem Moment, als Berger seinen Mund aufmachen musste.
„Falls sie lieber bei Ihren Mitschülerinnen dort drüben sitzen möchten, können Sie jederzeit den Platz wechseln“, flüsterte er in Eriks Richtung. Das Grinsen in der Stimme bildete er sich garantiert nicht nur ein.
‚Mistkerl!‘, zuckte es ihm durch den Kopf. Erik konnte sich aber gerade noch rechtzeitig stoppen, bevor das Wort tatsächlich den Mund verlies.
Stattdessen starrte er wieder aus dem Fenster und sank im Sitz zusammen. Jedenfalls so weit das möglich war. Denn dank Rucksack zwischen den Beinen und deutlich zu wenig Abstand zum vorderen Sitz, war der Bus für jemanden von Eriks Größe und Statur nicht unbedingt die bequemste Reiseform.
„Danke, nicht mein Typ“, murrte er genervt.
„Hm“, brummte Berger.
Hätte Erik nicht in der Reflexion der Scheibe einen durchaus viel zu guten Blick auf den Kerl gehabt, wäre ihm das Zucken an dessen Mundwinkeln garantiert entgangen. So dauerte es ein paar Sekunden, bis er begriff, dass man diese Antwort auch anders verstehen konnte.
‚Ist schließlich nicht zu leugnen, dass der Kerl deutlich eher dein Typ ist.‘
Schlagartig schoss Erik das Blut in den Kopf. Seine Hände verkrampften sich in das T-Shirt. Alles, was er jetzt sagen könnte, würde die Sache nur schlimmer machen. Also schwieg Erik und hoffte, dass Berger es ebenso auf sich beruhen lassen würde. Vielleicht lag es an der nächtlichen Uhrzeit, aber erstaunlicherweise machte der Blödmann genau das. Berger lehnte sich wieder zurück, sodass Erik in der Fensterscheibe das Gesicht nicht mehr erkennen konnte, und schwieg.
Als Erik einige Minuten später dann doch einen weiteren, vorsichtigen Seitenblick wagte, waren Bergers Augen erneut geschlossen. Kein Grün, das ihm entgegen starrte – glücklicherweise. War ja schließlich nicht so, als ob er darauf gehofft hätte. Langsam wanderte Eriks Blick tiefer, blieb aber diesmal an den leicht geöffneten Lippen hängen. Was würde es ihn kosten, diese eine Fantasie wenigstens endlich aus dem Kopf zu bekommen?
‚Zu viel‘, ermahnte Erik sich ein weiteres Mal. Aber wie so oft, half das wenig, um das einsetzende Flattern im Bauch zu verhindern. Oder das Kribbeln, dass sich ein Stück tiefer immer deutlicher bemerkbar machte.
Schnell drehte Erik den Kopf nach vorn und starrte statt auf Berger, zu dem weinroten Polster des vorderen Sitzes. Da saßen die beiden Lehrerinnen. Hinter ihm irgendwelche Schüler. Erik hätte im Moment nicht einmal sagen können wer. Der Versuch, gedanklich die Sitzplätze seinen Mitschülern zuzuweisen, lenkte ihn allerdings erfolgreich von den bereits in eine völlig andere Richtung abdriftenden Vorstellungen ab.
Mit einem kaum hörbaren Seufzen schloss Erik die Augen und legte den Kopf zur Seite. Dieser Unsinn kam ihm garantiert nur wieder in den Sinn, weil er zu wenig geschlafen hatte. Da die Fahrt noch ein paar Stunden dauern würde, wäre es sicherlich eine gute Idee, wenn er versuchen würde, etwas Schlaf nachzuholen. Schließlich wollte Erik, sobald sie erst einmal angekommen waren, den Urlaub genießen können.
Selbst mit Berger neben ihm.
✑
Erik hatte wie immer keine Ahnung, was er geträumt hatte. Zumindest war es wohl angenehm genug gewesen, dass er eigentlich nicht aus dem Traum herausgerissen werden wollte. Glücklicherweise war es gleichzeitig nicht anregend genug gewesen, als dass das Erwachen sich peinlich gestaltet hätte.
Was genau es war, dass ihn geweckt hatte, wusste er nicht. Ein merkwürdiges Kribbeln lief jedoch Eriks Arm entlang, als er sich irritiert umsah und versuchte, sein Hirn aus dem Stand-by zu holen.
„Was?“, murmelte er verschlafen und sah aus dem Fenster. Draußen war es inzwischen hell und der Bus bewegte sich nicht. Gedankenverloren rieb er sich über die Gänsehaut am linken Arm.
„Pause“, nuschelte Berger kaum hörbar neben ihm und ließ Erik zusammenschrecken.
Als er daraufhin erneut aus dem Fenster blickte, konnte Erik sehen, wie sich in der Tat ein Pulk seiner Mitschüler auf die Raststätte zubewegte.
„Okay“, antwortete er verschlafen.
Berger stemmte sich nach oben und stand anschließend im Gang neben ihren Sitzen. Als Erik ansetzte aufzustehen, war er jedoch direkt mit dessen undeutbarem Gesichtsausdruck konfrontiert. Hastig senkte Erik den Kopf.
„Darf ich mal?“, murmelte er stattdessen und setzte erneut an, aufzustehen.
Als Berger zur Seite trat, schnappte Erik sich noch den Rucksack und hastete aus dem Bus. Vermutlich machte er sich damit gerade wieder reichlich lächerlich, aber im Augenblick wollte Erik einfach nur weg. Fort von diesem dämlichen Lehrer und dem blöden Flattern, das der schon wieder im Eriks Bauch aufkommen ließen.
‚Reiß dich zusammen und wach endlich auf‘, fauchte seine innere Stimme ihn belehrend an. Als ob er sich das nicht permanent sagen würde.
Kaum aus dem Bus raus, atmete Erik tief durch. Obwohl es Ende Juli war, fühlte die erträglich kühle Morgenluft sich angenehm an. Offensichtlich waren auch schon wieder mindestens drei, vier Stunden vergangen, denn inzwischen war es nicht mehr Nacht, sondern früher Morgen – und entsprechend hell. Für einen weiteren Moment schloss Erik die Augen und atmete durch. Ganz allmählich konnte er spüren, wie sich sein Herzschlag wieder normalisierte und das unerwünschte Flattern verschwand. Na also. Etwas frische Luft war alles, was er brauchte, um diesen Unsinn aus dem Kopf zu bekommen.
‚Und jemanden zum Vögeln, um die hirnrissigen Fantasien über deinen Lehrer loszuwerden.‘
Manchmal war das Arschloch in Eriks Kopf wirklich nicht sonderlich hilfreich. Aber vermutlich hatte es mit diesem wenig subtilen Rat recht. Seine Mitschüler würden es sicherlich nicht andres handhaben. In den letzten Wochen war er nicht nur einmal in Begleitung aus dem Rush-Inn verschwunden. Diese Sache mit den One-Night-Stands entsprechend nicht mehr wirklich Neuland – und deutlich weniger abschreckend als noch vor einem Jahr.
‚Trotzdem nicht das, was du eigentlich suchst.‘
Scheiß drauf. In diesem Urlaub plante Erik sicherlich nicht, die Beziehung fürs Leben zu finden. Wenn er die Fahrt überlebte, ohne dass es allzu peinlich wurde oder Berger ihn kastrierte, war das als Erfolg zu verbuchen. Sah man davon ab, dass Eriks Französisch, zumindest was den sprachlichen Teil anging, eher recht unterbelichtet war, sollte es trotzdem machbar sein, jemanden zu finden, mit dem er ein paar Stunden Spaß haben konnte.
Vorerst erinnerte Erik aber ein Grummeln im Magen daran, dass er gestern Abend nichts herunterbekommen hatte und jetzt entsprechend hungrig war. Wenn dieses Problem erledigt war, hatte er die restliche Fahrt über sicherlich ausreichlich Zeit, um darüber nachzudenken, wie er den nächstbesten einigermaßen gut aussehenden, verfügbaren Franzosen dazu bringen konnte, sich auf einen Flirt einzulassen. Oder – noch besser – auf gewisse andere Dinge.
‚Hauptsache, es lenkt dich von Berger ab.‘
Der trat in dem Moment neben ihn und seufzte leise. „In fünfundvierzig Minuten geht es weiter“, meinte sein Lehrer ungewohnt lustlos, ohne Erik überhaupt anzusehen. „Wenn Sie nicht reingehen wollen, bleiben Sie in Sichtweite des Busses.“
‚Begeisterung klingt anders‘, dachte Erik bei sich, nickte jedoch stumm.
Wenigstens sah es so aus, als wäre er nicht der Einzige, der jetzt schon keinen Bock mehr auf die Fahrt hatte. Der Gedanke, dass ausgerechnet Berger lieber woanders wäre, als auf dem Weg zu Sonne, Strand und Bikinis, ließ die Wut recht schnell verblassen.
„Schadenfreude steht Ihnen nicht.“
Sofort verschwand das Grinsen. Dämlicher Lehrer. Irgendwie musste Erik den Blödmann während dieser Fahrt aus seinem Hirn raus halten. Besser noch: Überhaupt nicht mehr an ihn denken. Denn alles andere war ... ein Garant für jede Menge Ärger.
Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde Berger zögern, dann schulterte er den eigenen Rucksack und machte sich auf den Weg zum Rasthof. Erik sah ihm nach, bis Berger im Gebäude verschwunden war. Danach sah er sich auf dem Parkplatz um. Hier draußen gab es keine Sitzplätze, aber zwei Parkreihen weiter waren ein paar Bäume mit etwas Rasen darum.
Also wandte Erik sich in diese Richtung und suchte sich unter einem davon ein ruhiges Plätzchen, um sich seinem Frühstück zu widmen. Sollte der Rest des Kurses doch ihr Geld jetzt schon für das Essen in der Rasthofgaststätte rausschmeißen. Seine Mutter hatte sich die Mühe gemacht, ihm was einzupacken, das würde Erik sicherlich nicht umkommen lassen.
Nachdenklich wanderten seine Augen über die wenigen, um die frühe Uhrzeit hier parkenden Autos. Eriks Mutter hatte keinen Führerschein. Die zwei Urlaubsreisen, an die er sich aus den letzten sieben Jahren erinnern konnte, hatten sie mit dem Zug unternommen. Selbst bei genauerem Nachdenken kam Erik nicht darauf, wohin sie gefahren waren. Sicherlich nicht ans Meer. Eher in die Berge.
Ein junger Mann hastete in einem schicken Anzug vom Restaurant zu einem der Autos. In der einen Hand hatte er einen Kaffeebecher, in der anderen eine kleine Tüte, vermutlich mit etwas zum Essen. Der Mann sah aus, als ob er maximal Mitte zwanzig war – nicht so viel älter als Erik selbst. Der schicke Anzug, der Schlips, der teure Mercedes, in den er sich jetzt schob, sagten aber recht deutlich, dass der Kerl ihm eben doch in gewissen Punkten weit voraus war.
„Erwachsen, hm?“, murmelte Erik leise.
Gehört das auch dazu? Herumhetzen von einem Termin zum nächsten? Kam sicherlich auf den Job an. Wenn Erik wirklich in Richtung Journalismus gehen wollte, würde er vielleicht auch irgendwann so durch die Gegend hetzen.
‚Ein Führerschein könnte helfen.‘
Vermutlich keine schlechte Idee. Zunächst würde Erik allerdings klären müssen, wie sein Leben weiter verlaufen sollte. Seiner Mutter hatte er versprochen, dass der Job bei Alex nur ein Nebenjob bleiben würde. Wenn das mit dem Praktikum bei der Zeitung sich als Niete herausstellen sollte, wäre Erik wieder da, wo er Anfang des Jahres war. Ohne Plan für die eigene Zukunft. Keine Ideen oder Aussichten.
‚Ein Plan war da noch‘, erinnerte eine leise Stimme Erik irgendwo im Hinterkopf.
In diese Richtung sollte er lieber nicht denken. Jedenfalls nicht in der kommenden Woche. Erik senkte den Blick und kramte nach den beiden Dosen, die seine Mutter ihm mitgegeben hatte. Neben ein paar belegten Broten, hatten sich auch Äpfel, Joghurt, gekochte Eier, Gurke, Tomate und kleine Wiener in die Dosen ‚verirrt‘.
„Man kann es auch übertreiben“, murmelte Erik, denn das Essen sah eher aus wie das Picknick für die siebente Klasse. Abgesehen davon, dass es deutlich zu viel war für die paar Stunden Fahrt. Aber wer wusste schon, wie lange sie tatsächlich brauchen würden. Der bisherige Stau hatte sie ja bereits gut aufgehalten.
Während Erik sich also dem Essen widmete, überlegte er, wie weit sie inzwischen wohl gekommen waren. Besser gesagt, wie lange ihre Fahrt von hier aus dauern würde. Einer plötzlichen Idee folgend zog Erik das Handy aus der Hosentasche und suchte nach der Navigationsapp. Er war sich zwar nicht sicher, wie der Ort, wo sie unterkommen würden wirklich hieß, aber er konnte sich erinnern, dass er nicht weit von Montpellier entfernt war. Also suchte er eine Strecke dorthin heraus und startete die Navigation.
„Wie, noch weitere fünf Stunden?“, keuchte Erik entsetzt, als er auf die Anzeige starrte. Dann hätten sie ja gerade einmal die Hälfte der Strecke geschafft. Dabei waren es inzwischen bald acht Uhr.
‚Noch weitere fünf Stunden neben Berger.‘
Wenigstens würde es danach endlich aufwärtsgehen. Zwar waren mehrere Ausflüge mit dem Bus geplant, aber bis auf die Fahrt nach Lyon waren die alle eher kürzer. Und morgen konnte Erik sich ja womöglich einfach einen anderen Platz im Bus suchen. Sollte der Rest von denen sich doch sortieren, damit keiner neben ihm sitzen musste.
Wenn sie es irgendwann heute bis in ihre Herberge schafften, würde es am Nachmittag erst einmal zum Strand gehen. Dem konnte Erik zwar überhaupt nichts abgewinnen. Aber die Aussicht, endlich das Geheimnis unter den langärmligen Hemden zu lüften, hatte durchaus ihren Reiz.
Und anstatt dort im Sand rumzuliegen und sich über kratzende Körner in der Badehose zu ärgern, könnte Erik schließlich auch die Promenade erkunden. Da würde ihm sicher niemand auf den Sack gehen. Ein Grinsen wanderte auf seine Lippen. Wer sagte denn, dass ihm da am Strand oder der Promenade nicht ein hübscher Franzose über den Weg laufen würde? Der dürfte Erik dann dafür auch ausgesprochen gern an den Sack gehen.
‚So würde die Fahrt wenigstens endlich anfangen, Spaß zu machen.‘
Zumindest, wenn er es schaffte, den noch ausfindig zu machenden Mann anzusprechen, von sich zu überzeugen und tatsächlich wenigstens zu ein bisschen Rumfummeln außer Sichtweite von Sandro und den Affen zu überreden. Okay, es wäre ein Anfang, wenn er den Typ zumindest mal ansprach und darauf hoffte, dass keiner der Neandertaler aus dem Kurs dazwischenfunkte. Denn so lange irgendeiner von den Trotteln in der Nähe war, würde Erik ganz sicher auf niemanden zugehen.
‚Wenn schon Abfuhr, dann wenigstens nicht öffentlich?‘
Ja. So ungefähr.