Tag 9 - Sonntag
87 – Unerwarteter Sichtwechsel
‚Das ist eine total dämliche Idee!‘
Wenn er einmal einen Moment ehrlich mit sich selbst gewesen wäre, hätte er sich eingestehen müssen, dass der Gedanke deutlich zu spät kam. Vermutlich um mehrere Monate. Mindestens Wochen. Okay, die letzten Tage hatte er sich bereits reichlich unvernünftig verhalten. Um nicht zu sagen unangemessen. Dumm. Dämlich eben. Unreif. Wenn er noch länger darüber nachdachte, würden ihm garantiert zwanzig weitere passende Adjektive einfallen.
Insofern war sein Problem vermutlich lediglich eine Konsequenz all der Handlungen, die ihn hierher gebracht hatten. Wobei er ehrlicherweise nicht sicher war, ob es tatsächlich seine Handlungen waren oder nicht eher deren Abwesenheit, die die aktuelle Situation heraufbeschworen hatten.
„Soll ich ... dich ... doch lieber alleine lassen? Ro...bert?“
Oh Gott, der Junge stolperte immer noch über die ungewohnte Anrede. Ganz zu schweigen von dem ungeliebten Namen. Es gab nur eine Person, die ihn in den letzten Jahren so genannt hatte. An die wollte Rob im Augenblick garantiert nicht denken.
„Rob“, gab er deshalb murmelnd zurück und schloss endlich die Wohnungstür auf. Vermutlich war es sein Zögern vor eben dieser gewesen, das Erik zu der Frage verleitet hatte.
„Rob?“
Er grinste schief und sah über die Schulter. „Ich ... Es fühlt sich falsch an, wenn du mich Robert nennst“, gab er schließlich zu, bevor er endlich die Tür öffnete. Glücklicherweise kam dieses Gefühl von ‚falsch‘, nur bei der Erwähnung seines Namens.
„Ist ... tatsächlich noch etwas merkwürdig“, bestätigte Erik – die Worte eher ein leises Murmeln. Nichts mehr von dem Selbstbewusstsein, das der Junge vor nicht einmal einer Stunde im Park des Hotels gezeigt hatte.
Rob betrat seine Wohnung und hing den Schlüssel an einen Haken neben der Tür, bevor er sich das Sakko sowie die Schuhe auszog, beides ordentlich verstaute und in Richtung Wohnzimmer lief. Der Abiball hatte sich weiterhin nach Dienstzeit angefühlt, also hatte er sich wie immer vom Alkohol ferngehalten. Außerdem hatte Rob verhindern wollen, dass er am Ende halb betrunken etwas tat, das er am nächsten Morgen bereuen würde. Stattdessen lief Rob jetzt also zur eigenen Hausbar, um sich einen hinter die Binde zu gießen. Damit er den Mut fand, endlich das zu tun, was er nur zu gern am nächsten Morgen bereuen würde.
‚Idiotisch!‘, schalt er sich selbst.
Whiskey klang gut, aber die Flasche war dank der Trennung von Milan vor zwei Wochen bereits leer. Seufzend stellte Rob sie zurück an ihren Platz. Noch mehr Unvernunft, denn logischer wäre gewesen, das Ding endlich zu entsorgen. Da wollte Rob aber im Augenblick nicht drüber nachdenken. Vor allem, weil er, um die Flasche wegzubringen, an dem Jungen im Flur hätte vorbeigehen müssen.
Außerdem war es verflixt spät – oder früh. Eine Frage der Betrachtungsweise. Um jetzt noch einen Rückzieher zu machen, war es definitiv zu spät. Oder auch nicht. Wobei Rob das mit dem ‚Rückzieher‘ dafür erst einmal wollen müsste.
Rob unterdrückte ein Seufzen. Er war zu müde. Mental wie emotional erschöpft. Dann eben der scheußliche Cognac, den er von Sabine und ihrem Mann vergangene Weihnachten bekommen hatte. Hastig schenkte Rob sich ein Glas ein und schüttete es hinunter. Das Letzte, was er brauchen konnte, war ausgerechnet jetzt an Sabine Fink zu denken. Er hatte genug andere Probleme.
Eigentlich hatte Rob, genau ein einziges Problem. Ein geradezu gigantisches. Sicher über einen Meter neunzig groß und lockere achtzig Kilo oder mehr schwer. Darüber, dass an dem Mann in Anbetracht der Ausblicke, die der Rob in den letzten Tagen gewährt hatte, so einiges größenmäßig über dem deutschen Durchschnitt lag, dachte er im Augenblick lieber nicht nach.
Wobei das ja vielleicht doch endlich einmal der richtige Gedankengang wäre. Zumindest würde es Rob die Erkenntnis ersparen, dass er hier wider besseres Wissen dabei war, seine gerade erst beginnende Karriere die Gosse runterzuspülen. Zusammen mit dem scheußlichen Cognac.
„Hast ... du es dir anders überlegt?“, fragte Erik von der Tür zum Flur aus. Rob sah auf und zu dem Jungen hinüber.
‚Mann‘, korrigierte er sich selbst geistig. Nur um direkt ein ‚junger Mann‘ hinterherzuschieben.
Erik war ebenfalls das Sakko losgeworden, die Krawatte war inzwischen offen, die oberen zwei Knöpfe am Hemd auch. So verdammt gut aussehend, dass Rob Gänsehaut über die Arme kribbelte, während ein wohliger Schauer ihm die Wirbelsäule entlangwanderte.
Der renitente Ignorant da drüben hatte keine Ahnung, wie er auf andere wirkte – und schon gleich gar nicht, was er mit Rob in den vergangenen Monaten angestellt hatte. So manches Mal hatte Rob sich gefragt, ob er es Erik einfach sagen sollte, damit der schreiend davonrannte. Aber am Ende hatte es Rob nicht über sich gebracht. Und nach den Erfahrungen der letzten Tage wäre Erik sowieso nicht abgehauen. Wahrscheinlich hätte es ihn eher noch mehr angestachelt.
„Nein“, antwortete Rob deshalb und rang sich ein Lächeln ab.
Erik jedoch runzelte die Stirn. Das machte er in letzter Zeit häufiger – auch noch zum richtigen Zeitpunkt. Der Typ, von dem Rob immer gedacht hatte, er würde nicht einmal ansatzweise merken, was in den Leuten um ihn herum vorging, wurde offenkundig allmählich besser darin, andere zu lesen. Jedenfalls was Rob betraf. Eine Tatsache, die erregend und beängstigend zugleich war. Denn die meiste Zeit war Rob ausgesprochen glücklich darüber, dass niemand wusste, was in seinem kaputten Hirn vor sich ging. Definitiv, wenn seine Gedanken sich mal wieder ausschließlich um einen gewissen Schüler drehten.
‚Er ist keiner mehr‘, sagte Rob sich selbst und senkte den Blick zurück auf die Flaschen vor ihm. Vielleicht würde der Rest von ihm das endlich kapieren, wenn er ihn mit Alkohol betäubte.
Der Cognac sah allerdings weiterhin wenig verlockend aus. Dummerweise hatte die spärlich bestückte Hausbar im Augenblick nicht Besseres zu bieten. Sie als solche zu bezeichnen war demzufolge ohnehin zu hoch gegriffen. Der Alkohol würde Rob aber von dem weiterhin aufkommenden Gedanken, dass er sich hier gerade das eigene Grab schaufelte, ablenken.
„Sicher?“
Einen Moment lang war Rob irritiert. Nachdem er ein weiteres Mal aufsah und zu Erik hinüberblickte, brummte er ein verhaltenes: „Hm?“
„Sicher, dass ich nicht gehen soll?“
„Nein.“
Rob konnte sehen, wie Erik zusammenzuckte. Trotzdem war da prompt ein Lächeln. Schief und krumm und falsch. In jeder nur erdenklichen Hinsicht. Entsprechend unangenehm fing es in Robs Magen an zu brennen. Da jetzt noch Alkohol draufzukippen wäre eine reichlich dämliche Idee.
„Entschuldige“, murmelte Rob und rieb sich mit der freien Hand über die Augen.
Womöglich war er tatsächlich schlicht zu müde. Hatte Erik nicht auch etwas davon gesagt, dass sie einfach nur ins Bett gehen und schlafen könnten? Irgendwie klang das vollkommen falsch. Und dennoch verlockend – auf eine reichlich verquere Art und Weise. Aus dem Augenwinkel schielte Rob zu seinem Gast. Der stand weiterhin an der Tür, die Hände in den Hosentaschen.
Vielleicht würden sie hier jetzt nicht wie dumme Teenager vor ihrem ersten Mal stehen, wenn Rob sich ein paar Sekunden Zeit genommen hätte, bevor er Erik seine stumme Zustimmung gegeben hatte. Letztendlich war es weiterhin eine saudämliche Idee, sich auf einen Schüler einzulassen. Egal ob es ein ehemaliger war oder nicht.
Aber als Rob da an dieser Mauer neben dem Hotel gestanden und Erik aus ebendiesen hatte stolpern sehen, war etwas in ihm ebenfalls ins Stolpern geraten. Ein Herzschlag, die Atmung, Robs ganzes Sein. Gedanken, die er nicht denken durfte. Gefühle, die er nicht haben sollte. Verlangen, das ihn der Hölle, in deren Vorhof Rob lebte, nur noch näher bringen würde, anstatt ihn endlich daraus zu befreien.
Aber dann stand Erik vor ihm und hatte auf seine merkwürdige, verquere und total verworrene Art und Weise genau die richtigen Worte gefunden. Erik war einmal mehr der Gedankenleser gewesen, den Rob suchte – brauchte. Irrwitzigerweise war es dem Mann nicht bewusst, dass er mit geradezu erschreckender Perfektion stets genau den Punkt in Rob traf, den der seit jeher versuchte, vor den Augen anderer zu verstecken. Letztendlich waren es aber keine Worte gewesen, die ihn überzeugt hatten.
Erik hatte vor Rob gestanden – mit all der Unsicherheit, der Angst und dem Zittern in der Stimme. Genauso wie fast vierundzwanzig Stunden zuvor. Erik hatte gewusst, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Abfuhr kassieren würde. Weil es ‚anständig‘ von Rob wäre, ihm diese zu erteilen. Weil diese Gesellschaft es von ihm als Lehrer – nein, im Grunde sogar von ihnen beiden – erwartete. Zwei Menschen, zwischen denen Gefühle nicht existieren konnten, weil sie nicht existieren durften. Und trotzdem waren sie da.
Wer hatte also recht?
Wie gebannt hingen Robs Augen jetzt ebenso auf Erik – irgendwo zwischen dem auf- und ab zuckenden Adamsapfel und dem Punkt, an dem die straffe Haut schließlich doch vom Hemd verdeckt wurde. Da drüben stand kein naiver Junge, sondern ein Mann, der genauso gut verstand, wonach es Rob verlangte, wie Erik wusste, was Rob wollte. Obwohl sie es offensichtlich beide nicht wirklich aussprechen konnten.
Das war der Moment, in dem ein Teil von Rob beschloss, dass es vollkommen egal war, wie ekelhaft der Cognac war. Er brauchte jetzt einen Drink, um nicht völlig den Verstand zu verlieren. Also griff er zur Flasche und goss sich zwei Finger breit ein. Schmeckte erwartungsgemäß furchtbar. Arbeitete sich dafür effektiv Robs Kehle hinunter durch den Magen. Wenigstens konnte er sich so einreden, dass das anhaltende Brennen dort drinnen vom Alkohol kam und nicht von gewissen anderen Dingen. Gedanken, Gefühlen, Wünschen. Alles Sachen, die Rob nicht hatte, nicht wollte und trotzdem brauchte.
„Willst du da die ganze Nacht stehen?“
„Warte noch, ob ich bleiben darf“, kam Eriks Antwort im gleichen saloppen Tonfall zurück.
Rob schnaubte und schüttelte lächelnd den Kopf. Womöglich besser, dass Erik noch nicht wirklich perfekt war, was das ‚Gedankenlesen‘ anging. Andernfalls würde er erkennen, was für eine Finsternis in Robs eigenem Inneren wohnte. Und dann würde Erik womöglich doch noch schreiend davonrennen.
‚Würde er nicht.‘
Zumindest würde es diese zunehmend peinliche Situation auflösen. Etwas, zu dem Rob selbst im Moment nicht in der Lage war. Denn er stand ja weiterhin hier, unfähig endlich zu sagen, dass die Aussicht, heute noch im Bett zu landen, zunehmend verlockend klang – dort lediglich zu schlafen allerdings gedanklich reichlich ‚gewöhnungsbedürftig‘ war. Um es nett zu formulieren.
„Ich werde dich nicht wegschicken“, murmelte Rob, während er sich ein weiteres Glas einschenkte. „Falls du etwas trinken willst ... ich habe nur das ekelhafte Zeug hier und Wasser im Kühlschrank.“
Einen Augenblick lang betrachtete Rob den Cognac, bevor er auch dieses Glas in einem Zug leerte. War letztendlich egal, ob das Zeug ihm den notwendigen Mut verlieh oder ihn Rob endgültig nahm. Irgendetwas würde passieren. Entweder er kippte betrunken um, was ihm die Grübelei darüber ersparte, ob er wirklich nur neben oder doch lieber mit Erik schlafen wollte. Oder er betäubte damit den störenden Teil seiner selbst, der nie im Leben äußern würde, dass Rob die zweite Variante deutlich reizvoller fand.
‚Mumpitz.‘
Erik schwieg, trat aber jetzt doch zögerlich ins Wohnzimmer. Es war nicht zu übersehen, wie der Blick von Robs Gaste forschend über die spärliche Einrichtung glitt. Neben der geradezu winzig erscheinenden Anrichte, vor der Rob stand, war da ein kleiner Glastisch vor einem Sofa. Das selbst sah aus, als hätte es mehr Jahre auf dem Buckel als Rob. Was garantiert sogar stimmte. Ein weiterer kleiner Tisch, auf dem ein Fernseher stand, den andere eher als Monitor bezeichnet hätten.
Auf keinem dieser Dinge blieb Eriks Blick hängen. Stattdessen lief der weiter in den Raum hinein, hinüber zu dem Bücherregal, das eine Wand des Zimmers komplett ausfüllte. Entgegen der restlichen – zugegeben nicht sonderlich spektakulären – Einrichtung verwendete Erik deutlich mehr Zeit darauf, die Titel in dem Regal zu studieren.
„Sagen Si... Sag es nicht“, meinte Rob mit einem Lächeln auf den Lippen, während er sich ein drittes Glas einschenkte. Diesmal behielt er es jedoch zunächst in der Hand. Die Entscheidung darüber, ob er ohne den Alkohol den Mund in ausreichendem Maße aufbekam, damit Erik nicht prompt wieder hinausrannte, stand schließlich weiterhin aus. Genauso wie die Frage, welche Aussicht Rob gerade erschreckender fand.
„Was genau?“, fragte Erik seinerseits zurück – grinste dabei über die Schulter zu Rob. Dieses noch so jugendliche, unschuldige und naive Grinsen, das schon eher einem Lächeln glich.
Etwas in Robs Brust zog sich unsanft zusammen. Ein reichlich bescheidenes Gefühl. Als wollte es ihn zerquetschen. Vielleicht müsste er panisch werden, Fluchtgedanken bekommen. Kalte Füße unter der Erkenntnis, dass das, was er hier trieb, eine Dummheit sondersgleichen war. Aber irrwitzigerweise waren weder Stechen noch Schmerz oder Atemnot unangenehm. Im Gegenteil. Rob mochte das Gefühl, so blöd es im Grunde war. Er versuchte, zu lächeln, um die mit alldem einhergehende Unsicherheit wegzudrängen. Dabei war er doch viel zu alt, um wie ein Teenager wegen eines anderen Mannes nervös zu werden.
Hastig schüttete Rob den Inhalt seines Glases hinunter und antwortete murmelnd: „Dass es nicht die Art von Literatur ist, die du erwartet hast.“
Erik lachte. Sanft. Verhalten. Aber er lachte und es jagte Rob ein weiteres Prickeln durch den Körper. Gänsehaut, die sich unter den Ärmeln des Hemdes bildete. So war sie glücklicherweise nicht zu sehen. Er schielte zur Cognacflasche. Allmählich bereitete das Zeug ihm aber eher Übelkeit, als dass es die Situation weniger unangenehm machte.
„Ja, ein bisschen erstaunt bin ich schon“, gab Erik im gleichen Moment zu und zog damit Robs Blick wieder auf sich. „Schätze, es ist ein Klischee, dass man bei einem Deutschlehrer eher Schiller, Hesse, Goethe oder so etwas erwarten würde.“
Rob zwang sich zu einem Lächeln und zuckte mit den Schultern. „Die meisten davon gibt es kostenlos im Netz“, murmelte er verlegen.
Zunächst drehte Erik sich um, runzelte dabei offenbar verwundert die Stirn. Anstatt darauf einzugehen, deutete der Junge auf eine der oberen Reihen: „Robert Merles ‚Fortune de France‘. Oder? Die hab ich auch.“
In Robs Brust flackerte etwas. Ein Stolpern seines Herzschlages, das er nicht einzuordnen wagte. Der erste Vorbote dieses Gefühls, dem er seit seiner Kindheit hinterherjagte. Sein Hoch, auf dem er schweben und nie mehr fallen wollte. Die Sucht, von der er sich scheinbar nicht entwöhnen konnte.
Kein Verlangen nach Sex. Das war es nie gewesen. Nähe, Wärme, Leidenschaft, Begierde. Mit einem vertrauten Geist, der ihn womöglich tatsächlich würde verstehen können. Es gehörte alles dazu und war dennoch irgendetwas anderes. Die Sehnsucht nach etwas, das Rob nicht kannte, nicht in Worte fassen konnte. Trotzdem hatte er es in Eriks Aufsätzen gesehen. Konnte es wieder fühlen. Hier und jetzt – genau wie vor einer Stunde im Park vor dem Hotel. So verführerisch, so verlockend und gleichzeitig so gefährlich.
„Schätze, deine Ausgabe ist nicht auf Französisch.“
Lächelnd trat Erik auf ihn zu. Jeder Schritt auf dem ausgetretenen Parkett hallte als ein heftig hämmernder Herzschlag in Robs Brust wider. Sein Verstand wusste, dass es ein Fehler war. Erinnerte sich an den Blick von Eriks Mutter. Das Entsetzen, die Vorwürfe. Abscheu. Ekel. Weil sie gesehen hatte, was Erik glücklicherweise nie wirklich bewusst gewesen war.
Für eine Sekunde waren da die Gewissensbisse. Ein stechendes Etwas, das sich Rob in die Brust rammte, um das eben noch so schöne Gefühl zu vertreiben. Miese Widerhaken, die versuchten seine Seele zu zerreißen.
Aber bevor Rob darüber nachdenken konnte, hatte Erik ihn erreicht. Ohne etwas zu sagen, nahm er Rob zunächst das Glas aus der Hand und stellte es zurück auf die kleine Anrichte, neben der er stand. Im nächsten Moment legten sich Eriks Arme um Robs Schulter, zog ihn an sich. Und plötzlich war alles, was er noch sah, leicht gebräunte Haut, die Rob in den letzten Tagen vielleicht zwei, drei, womöglich auch zehn Mal zu oft angestarrt hatte. Mit ein paar Fetzen Weiß von Eriks Hemd an der Peripherie des Sichtfeldes.
Der verflixte Druck in Robs Brust war so groß, dass er keinen Ton herausbrachte. Dabei gab es so vieles, das er in diesem Augenblick hätte sagen können. Wollen. Sollen.
Rob schloss die Augen und konzentrierte sich aufs Atmen. Ein Zittern wanderte durch seinen Körper, während er weiter um Kontrolle kämpfte. Er musste endlich aufhören, sich so aufzuführen. Schließlich war er doch hier der Ältere. Zögerlich hob Rob die Hand und legte sie neben seinen eigenen Kopf auf Eriks Brust. Aus welchem dieser zwei Körper kam das Hämmern, das er spürte, förmlich hörte?
Bevor Rob weiter darüber nachdenken konnte, hob Erik bereits seinen Kopf nach oben und küsste ihn. Zunächst nur zaghaft, vorsichtig – genau wie am Hotel. Nichts von der Ungeduld und der ungestümen Jugend, die doch eigentlich durch Erik toben mussten. Oder taten sie das nicht?
Das, was Erik in seinen Aufsätzen gezeigt hatte, war nicht einfach nur Verlangen, keine simple, körperliche Begierde. Da war ein Dominanzgedanke enthalten, den Rob seinerseits ausgesprochen verführerisch fand. Er hatte keinen Wunsch nach echter Unterwerfung und dennoch wollte Rob sich Erik nur zu gern ergeben. Loslassen, sich selbst fallenlassen, in dem Wissen, aufgefangen zu werden. Der Versuch, in eine unbekannte Freiheit zu fliegen, anstatt immer tiefer in die Finsternis zu stürzen. Dieses kribbelnde Gefühl im Bauch, das Rob sonst nur spürte, wenn er sich vom Sprungturm stürzte – und das Wasser über ihm zusammenbrach. Genau das, was er im Moment brauchte.
Ein Kuss, zwei, drei. Erst nach und nach wurde Erik mutiger. Das Gefühl einer anderen Zunge im eigenen Mund fühlte sich wie immer merkwürdig an. Normalerweise keines, das Rob sonderlich mochte. Aber bei Erik war es anders. Es gehörte dazu, war trotz dessen dominant aggressiver Tendenzen nicht wirklich fordernd. Sanft. Eher prüfend. Suchend. Forschend. Trotzdem wäre es Rob lieber, die Zunge würde woanders Erkundungen anstellen als ausgerechnet in seinem Mund.
Wie aufs Stichwort wandte Erik den Kopf zur Seite, zog eine Spur von Berührungen, Küssen zu Robs Ohr. Rob schloss die Augen, während er mit der Hand von Eriks Brust herab zum Bauch fuhr, weiter, bis er sie am Hosenbund stoppte. Etwas in Robs Inneren zog sich zusammen – nicht vor Angst oder Erregung wohlgemerkt.
Die gleiche Unsicherheit, die er schon zu oft in den letzten Tagen, nein eher Monaten verspürt hatte. Dieses stechende Verkrampfen, bei dem sich Robs Bauchmuskeln unwillkürlich mit anspannten. Als könnten sie es so in seinem Inneren halten – dabei wollte er es doch nur zu gern loswerden. Diese verdammte Hoffnung, dass es diesmal anders werden würde.
‚Hoffen muss nur der, der Angst hat zu verlieren.‘
Angst war grauenhaft, wie so vieles andere. Rob wollte nicht mehr ängstlich, kein Verlierer sein – auch nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt, nicht hier. Im Augenblick gab es nur eines, was Rob wollte: mehr. Von Erik. Und all dem, was der mit ihm anstellte, in Rob auslöste. Trotzdem schwieg er weiter. Denn die Worte zu kennen war das eine, sie auszusprechen etwas vollkommen anderes.
Erik hatte damit weniger Probleme. „Entschuldige. Läuft gerade nicht ganz nach Plan.“
Der Vorsatz, nicht zu lächeln, scheiterte bereits im Ansatz. Erik hatte eine geradezu gespenstische Art, stets genau die Worte zu finden, die den Druck auf Robs Brust weit genug auflösten, damit er atmen konnte. Langsam schüttelte Rob den Kopf – bekam aber weiterhin die Worte nicht heraus. Die unweigerliche Konsequenz stand bereits jetzt klar vor Robs Augen: Es würde ebenso enden, wie seine Versuche zuvor. Weil es das immer tat.
‚Niemand will defekte Ware.‘
Robs Magen krampfte sich bei dem Gedanken unwillkürlich zusammen. Schon wieder ein Hoffen. Dabei war Rob sich nicht einmal sicher, worauf er hoffen sollte. Dass Erik anders war? Dass er das, was er Rob in seinen Aufsätzen unter die Nase gehalten hatte, Wirklichkeit werden lassen konnte?
Nicht den Sex, nicht die Gier, sondern das Gefühl, genug und begehrt zu sein. Das Wissen, nicht jede eigene Begierde aussprechen zu müssen, weil sie schon bekannt war. Aus der schlichten Tatsache heraus, dass Erik sie in gewisser Weise teilte.
Angefangen mit dieser wunderbaren, dreckigen kleinen Fantasie, die Rob speziell während des Jahreswechsels über die eine oder andere einsame Nacht geholfen hatte. Dieser verflixte erste Aufsatz, den Erik ihm vor die Füße geschmissen hatte wie einen Fehdehandschuh. Verbotene eintausenddreihundertvierundsiebzig Worte, deren Kopie ein gewisser Jemand hoffentlich nie im Nachttisch finden würde.
Den Blick gesenkt fuhr Rob mit der Hand erneut über Eriks Brust. Was für eine Ironie. Da stand er hier, der Deutschlehrer, und brachte kein Wort heraus. Dabei waren sie alle in seinem Kopf. Es war schließlich nicht so, dass Rob keine Vorstellung davon hatte, was da in ihm tobte. Trotzdem blieb die Unsicherheit. Die unbestimmte Angst, dass sobald er es aussprach, es wie ein Fluch wirken und alles kaputtmachen würde. Weil es nicht sein durfte und jeder, der davon erfuhr, ihn dafür verteufeln würde.
Widerwillig kämpfte Rob sich aus Eriks Umarmung heraus und trat einen Schritt zurück. Wieder war da dieser Druck, der seine Brust zusammenpresste. Als ob er versuchte, die Worte, die Rob nicht sagen konnte, aus ihm herauszuquetschen. Er hob den Blick und sah Erik fest in die Augen. Prompt fing sein Herz wieder schnell an zu schlagen. Sie waren so weit gekommen, weil der Junge hartnäckig geblieben war.
‚Kein Junge! Mann. Typ. Kerl. Erik. Bei dem es vielleicht doch funktioniert.‘
Ruckartig wandte Rob sich ab. Sein Herz raste förmlich, während er mit zielsicheren Schritten aus dem Wohnzimmer lief – quer durch den Flur bis zum Badezimmer. Wie weit würde Erik sein Versprechen einhalten können?
Im Bad angekommen, zögerte Rob nur einen Moment, bevor er sich die Krawatte vom Hals zog und sie in Richtung des Wäschekorbes warf. Als er den ersten Knopf am Hemd durch das Knopfloch drückte, zitterten seine Hände noch leicht. Rob schloss für einen Moment die Augen, während er blind mit den anderen Knöpfen fortfuhr. Als er am letzten ankam, war das Zittern verschwunden – und das Hemd kurz darauf ebenfalls im Wäschekorb.
Die Schritte im Flur waren nicht zu hören. Trotzdem war Rob sich sicher, dass sie da waren. Na gut, vielleicht war es eher ein Glauben als definitive Sicherheit. Zumal es selbige zumindest in seinem Leben doch noch nie gegeben hatte. War letztendlich aber auch nicht die entscheidende Frage. Die wäre eher, ob die Schritte sich ihm genähert hatten oder ob Erik es sich bereits anders überlegt hatte.
„Ich will nicht nach Hause gehen.“
Eriks Stimme klang verhalten. Schüchtern. Etwas, das er bestimmt nicht war. Oder doch? Manchmal war sich Rob nicht sicher. Erik hatte einmal gesagt, dass er all die verschiedenen Seiten, die er in Rob gesehen hatte, mochte. Das Gleiche galt andersherum ebenso. Wobei der so unsichere und zurückhaltende Erik nicht gerade Robs Liebling war. Der forsche Typ, der ihn im Laufe der letzten Woche mehrmals gegen diese vermaledeite Wand im Flur ihrer Hütte gepresst hatte, gefiel Rob deutlich besser. Mit dem musste man nicht reden. Der tat das, was Erik ihm schon gefühlte hundert Mal versprochen und trotzdem nicht gemacht hatte: Er nahm sich, was er wollte.
Mit einem Mal schlangen sich Eriks Arme erneut um Robs Brustkorb. Der Kontakt von Haut auf Haut, als Eriks Hand tiefer glitt, jagte Rob einen Schauer über den Rücken, der ein weiteres Mal die Gänsehaut auf seine Arme trieb. Er schloss die Augen, während er versuchte wenigstens sein rasendes Herz unter Kontrolle zu bringen.
Die Hand, die Robs Brust hinabgeführt wurde, war warm. Setzte jede Stelle, die sie dabei passierte, förmlich in Brand. Aber das war natürlich nur Einbildung. Eine, über die Rob im Augenblick nicht nachdenken wollte. Denn der Schwelbrand unter seiner Haut war nur zu willkommen.
„Du willst genauso wenig, dass ich nach Hause gehe“, murmelte Erik.
Dessen Lippen legten sich auf Robs Schulter. Scheinbar eine Lieblingsstelle seines Gastes. Die Erinnerung an das Verlangen, das er aus Eriks Stimme in den vergangenen Tagen so oft herausgehört hatte, ließ weiteres Prickeln durch Robs Körper laufen.
„Ich dachte, du wolltest nur schlafen gehen, Erik“, gab er heiser zurück.
Ein verhaltenes Brummen, das kurz darauf in ein ebenso leises Lachen überging. Erik ließ seine Hand derweil tiefer wandern. Anstatt wie sonst am Hosenbund zu stoppen, verstärkte sich der Druck. Presste damit nicht nur Eriks Hand gegen Robs Schritt, sondern in der Folge auch ihre Körper stärker aneinander.
„Wenn ... das da ... an meinem Po nur schlafen will, wäre ich ausgesprochen überrascht“, platzte es umgehend mit einem unsicheren Lachen aus Rob heraus.
Es löste allerdings dennoch die Anspannung in seinem eigenen Körper. Allmählich fing Rob an, sich lockerer zu fühlen. Das hier wirkte zunehmend normaler. Erik war nicht mehr ein Schüler, er selbst nicht sein Lehrer. Sie waren nur zwei Männer, die in seinem verflixten Badezimmer standen, obwohl sie beide lieber nackt im Bett liegen wollten. Bei dem Gedanken, innerhalb der nächsten Minuten genau dort mit Erik zu landen, wanderte wiederum ein Zittern durch Robs Körper.
„Sch...“, flüsterte Erik hinter ihm. „Denk an den Plan.“
Rob lachte erneut und zog schließlich Eriks Arm von seiner Brust weg. Er trat nach rechts zu dem kleinen Hängeschrank über der Waschmaschine und öffnete ihn. Auf den Zehenspitzen stehend wühlte er in einer der Kisten im Schrank.
„Brauch...“, setzte Erik an, nur um prompt den Mund wieder zu schließen, nachdem Rob die Schranktür knallend zufallen ließ.
„Hier“, sagte er und hielt Erik eine Packung mit einer Zahnbürste vor die Nase, die er glücklicherweise gefunden hatte. War ja nicht so, dass Rob häufiger Hausgäste und einen entsprechenden Vorrat von den Dingern gehabt hätte.
Erik runzelte zunächst irritiert die Stirn, während er zur Zahnbürste griff. Nach etwa dreißig Sekunden erhellte sich jedoch sein Gesicht und da war wieder dieses verschmitzte, jungenhafte Grinsen, das Rob in den letzten Tagen viel zu oft in Versuchung geführt hatte.
„Kann die länger hier bleiben?“
Gespielt genervt verdrehte Rob die Augen. „Also wenn du das jetzt weiterhin fragen musst, solltest du an dieser Gedankenlesersache definitiv noch arbeiten.“
Um die zunehmend peinlicher werdende Situation nicht schlimmer zu machen, wandte Rob sich ab und trat ans Waschbecken. Dabei schnappte er sich die eigene Zahnbürste. Bevor er dazu kam, zur Zahncreme zu greifen, schlangen sich jedoch erneut Eriks Arme um ihn, zogen Rob zurück und pressten ihn fest an diesen für einen Neunzehnjährigen zu verboten gut gebauten Körper hinter ihm.
„Warum hast du es dir anders überlegt?“, wisperte Erik neben Robs rechtem Ohr.
Ein kurzes Lächeln stahl sich auf Robs Lippen, während er die Hand hob und erneut auf Eriks Unterarm vor seiner Brust legte. Es engte ihn nicht ein, machte keine Angst, es war genau das, was sein rasendes Herz verlangte. Ein Anker. Jemand, der ihn festhielt. Ein Ort, wo er hingehörte.
„Hab ich nicht“, presste Rob heiser heraus. „Es ist eher ... dass ich mich nicht entscheiden wollte.“
Erik klang überrascht, als er fortfuhr: „Ich war so sicher, dass ich eine Abfuhr kassieren würde. Dass ... das Risiko, was passieren könnte, wenn jemand von ... uns ... erfährt, zu groß sein würde.“
Als Rob in den Spiegel blickte, lag Eriks Stirn auf seiner Schulter. Unmöglich, diesem in die Augen zu sehen. „Dachte ich auch“, antwortete Rob schließlich wahrheitsgemäß. Denn für das trotzige, spätpubertierende Hormonbündel, das er vor über einer Woche im Bus auf den Platz neben sich geschoben hatte, wäre Rob dieses Wagnis nicht eingegangen.
Prompt hob Erik den Kopf. Durch den Spiegel sah er jetzt doch zu Rob zurück. Mit gerunzelter Stirn fragte er erneut: „Was hat sich geändert?“
Lächelnd lehnte Rob sich nach hinten: „Du.“