76 – Verschlafener Rückweg
„Wie spät ist es?“
Erik sparte sich den erneuten Blick aufs Handy und meinte: „Dürfte allmählich gegen sieben sein.“
„Kurze Nacht“, gab Berger mit einem unterdrückten Gähnen und einem deutlich auffälligeren Seufzen zurück.
Diesmal antwortete Erik nicht. Seinem Zeitgefühl nach war die Nacht nicht sonderlich kurz gewesen. Tatsächlich hatte es phasenweise so gewirkt, als wollte sie überhaupt nicht enden. Allerdings wäre das durchaus in Eriks Interesse gewesen. Schließlich hatte er einen Großteil dieser Zeit damit verbracht, Berger anzusehen – wobei ‚anzustarren‘ es wohl besser bezeichnen dürfte. Was dabei in seinem Kopf vorgegangen war, konnte Erik nicht einmal genau sagen. Es war jedenfalls zur Abwechslung kein Schweinkram gewesen.
‚Zumindest nicht alles davon.‘
Na gut, den einen oder anderen Kurzporno hatte sein mentaler Quälgeist in den letzten Stunden durchaus ausgespuckt, aber das gehörte nach den vergangenen Monaten ja quasi zum Alltag. Wenn Eriks Körper auf jedes dieser Bilder reagieren würde, wäre der Dauerständer inzwischen reichlich schmerzhaft – und nicht mehr zu ignorieren.
„Wir sollten in die Herberge zurückkehren“, meinte Berger und erhob sich aus dem Sand.
Nur zu gern wäre Erik länger am Strand liegen geblieben, aber schließlich hatte er genau deshalb zu dem improvisierten Weckdienst angesetzt. Wäre allerdings ein netter Abschluss für die ansonsten ziemlich beschissene Reise gewesen, wenn er wenigstens diesen einen Kuss bekommen hätte. Aber das schien weiterhin unmöglich – und Erik konnte es Berger nicht einmal verübeln nach dem Gespräch, das der mit Frau Farin am Vorabend gehabt hatte.
„Stell mich auch gern schlafend“, murmelte Erik verhalten, während Berger sich den Sand vom Hintern klopfte und anschließend nach seinen Schuhen griff.
„Hm?“
Erik schüttelte den Kopf. „Nichts.“
„Dann kommen Sie. Mit etwas Glück schaffen wir es zurück in die Herberge, ohne nervige Fragen beantworten zu müssen.“
Grinsend stand Erik auf, schnappte sich die eigenen Schuhe und stapfte Berger durch den Sand hinterher in Richtung Promenade. Sie kletterten beide über die kleine Mauer, setzten sich darauf und zogen sich die Schuhe an.
Immer wieder schielte Erik dabei zu Berger. Der wirkte ruhig und gelassen. Der Spaziergang, das Bad im Meer, die Nacht hier am Strand. Was auch immer es davon gewesen war, scheinbar hatte Berger den Streit mit Frau Farin inzwischen zu den Akten gelegt, wenn er schon wieder darauf anspielen konnte.
„Ich würde eher davon ausgehen, dass es schwer genug werden wird, den Rest des Kurses pünktlich vor der Abfahrt auf die Beine zu bekommen“, murmelte Erik verschlafen.
Er selbst würde schließlich auch lieber ins Bett fallen. Vielleicht würde sein Verstand danach wieder einigermaßen in Gang kommen. Einen Moment lang überlegte Erik, ob er sich tatsächlich für ein, zwei Stunden hinlegen sollte. Sie würden ohnehin nicht vor zehn fahren.
„Hm“, brummte Berger, klang dabei allerdings nicht sonderlich begeistert. „Vielleicht sollte ich mir aus der Herbergsküche einen Topf besorgen.“
Verwundert runzelte Erik die Stirn. Er war definitiv zu müde, um diesem Gedankengang folgen zu können. Berger musste seinen irritierten Ausdruck bemerkt haben, denn er sah ihn achselzuckend, aber grinsend an.
„Wer dem Alkoholkoma erliegt, muss auch mit dem Weckdienst klarkommen.“
✑
Berger machte seine Drohung nicht wahr. Wobei er bei genauerer Betrachtung den halbkomatösen Gestalten zwischen den Unterkünften der Schüler vielleicht auch nur eine Galgenfrist einräumte. Letztendlich hatte Erik allerdings nicht genug Hirnzellen zur Verfügung, um ernsthaft darüber nachzudenken. Sein Weg führte vom Parkplatz, den Weg um die Hecke, zu ihrer Hütte und dort direkt in sein Zimmer.
Die Sekunde, in der Erik sich müde auf das Bett fallen ließ, hätte er einschlafen können. Zumindest theoretisch. Denn praktisch weckte ihn gefühlte zwei Sekunden später ein inzwischen vertraut gewordenes Geräusch wieder auf. Unter anderen Umständen hätte das leise Rauschen Erik womöglich noch weiter in den Schlaf getrieben. Die Vorstellung davon, wie Berger unter der Dusche stand und sich den Sand herunter wusch, führte jedoch eher zum Gegenteil.
Gewisse Teile von Eriks Körper waren augenscheinlich fest entschlossen, der Erschöpfung entgegenzuwirken. Träge schob er seine Hand unter den Hosenbund. Aber nicht einmal das Bild von Berger, wie der am Strand alle Hüllen fallen gelassen hatte, konnte Erik aus seiner momentanen Müdigkeit reißen.
„Sinnlos“, murmelte er verschlafen.
Selbst wenn sein Geist ausgesprochen willig war, der Rest von Erik war definitiv zu müde.
Also versuchte er, das Rauschen sowie die damit einhergehenden Bilder zu verdrängen. Wie so oft stellte sich das allerdings als reichlich sinnlos heraus. Mit einem Stöhnen richtete Erik sich auf und sah zur Zimmertür hinüber. Das Rauschen der Dusche hielt weiterhin an. Er schloss die Augen. Es war doch nur eine Frage der Konzentration, oder nicht?
‚Hör auf, dich wie ein hormongesteuerter Teenager aufzuführen!‘, ermahnte Erik sich selbst und seinen Körper. Nur um sich ebenso prompt zu fragen, wie oft er das in den letzten Tagen bereits gedacht hatte.
„Was wäre denn ... ‚erwachsen‘?“
So sehr Erik nach einer Antwort auf diese Frage suchte, er hatte keine Ahnung, wie er sie finden sollte. Womöglich war es die Müdigkeit. Vielleicht hatte er auch nur schlichtweg keine Lust mehr, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Was wäre passiert, wenn Berger nicht am letzten Unterrichtstag diese blöde Bemerkung fallen gelassen hätte? Wäre Erik dann jemals auf die Idee gekommen darüber nachzudenken, ob er eine Chance bei Berger haben könnte?
„Was spielt das für eine Rolle?!“
Erik stöhnte, presste die Handballen erneut gegen die müden Augen und atmete tief durch. Irgendwie musste er wenigstens die Zeit bis zur Abfahrt herumbringen. Jetzt schlafen zu gehen, würde alles nur noch schlimmer machen. Und dieses permanente Gedankenkarussell machte es nicht einfacher.
Also stand Erik auf und zog sich das T-Shirt über den Kopf. In dem stinkigen Ding wollte er ganz sicher nicht die kommenden Stunden neben Berger sitzen. Mal davon abgesehen, dass es dreckig war und nach Meerwasser roch, würde er in dem Shirt ständig daran denken müssen, was letzte Nacht passiert war.
‚Passiert ist rein gar nichts‘, belehrte der dämliche Quälgeist Erik prompt. Dabei hatte das Arschloch in den vergangenen Stunden doch auch weitestgehend die Klappe gehalten. ‚Du hast Berger nur die ganze Zeit wie ein Volltrottel angestarrt.‘
Erik schüttelte den Kopf, um den Gedanken loszuwerden, und zog sich weiter aus. Shirt und Unterhose stopfte er direkt in die Reisetasche. Die Überlegung, was er für die Rückfahrt anziehen sollte, dauerte jedoch etwas länger. Was wiederum ausschließlich der Müdigkeit geschuldet sein konnte. Immerhin war da nur noch ein sauberes T-Shirt sowie eine bisher unbenutzte Unterhose. Die einzige offene Frage war also, ob er Jeans oder kurze Hose anziehen wollte.
Die Tatsache, dass er über dieses Problem mindestens drei Minuten nachdachte, wäre definitiv extrem peinlich gewesen, wenn Eriks Hirn nicht zwischenzeitlich erneut in den Leerlauf geschalten hätte. Aus diesem merkwürdigen Dämmerzustand, in dem er unfähig war, irgendeine Entscheidung zu treffen, riss ihn erst ein Geräusch. Besser gesagt, die Abwesenheit eines ebensolchen.
„Berger ist fertig“, murmelte Erik und sah sich erneut im Zimmer um.
Seine Sachen waren alle eingepackt. Nur das frische Shirt und die Unterhose für den Tag lagen auf dem Bett. Hinter der offensichtlich viel zu dünnen Wand zum Bad war Klappern zu hören, das Erik nicht einschätzen konnte. Zweifellos war Berger aber jeden Moment fertig und würde aus dem Bad kommen.
Ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben, zog Erik sich die frische Unterhose drüber und die Zimmertür auf. In genau diesem Augenblick kam auch Berger aus dem Bad. Als der Sturkopf stockte und die grünen Augen sich vor ihm weiteten, konnte Erik nicht anders, als breit zu grinsen.
„Sie ... sollten sich etwas anziehen“, murmelte Berger in dieser so verdammt verführerisch schüchternen Art.
Ein klatschendes Geräusch war zu hören, als Erik das Gummiband seiner Pants ein Stück vorzog und zurück gegen den Bauch schnellen ließ. Er wollte verdammt sein, wenn Bergers Blick nicht wenigstens für eine Millisekunde in Richtung Geräuschquelle nach unten zuckte. Bei Erik zuckte es in etwa der gleichen Region, wo Bergers Augen hingewandert waren. Vergessen war die Müdigkeit. Der Morgen war gerade deutlich interessanter geworden und das Fleisch womöglich doch noch willig genug für den Geist.
„Hab was an.“
„Dann ziehen sie mehr drüber!“
„Hmpf ...“, brummte Erik unzufrieden und ließ einen demonstrativ unverhohlenen Blick an Bergers deutlich zu bekleidetem Körper herabwandern. „Bin gerade mehr am Aus- als am Anziehen interessiert.“
„Vielleicht sollten Sie eher duschen“, murmelte Berger, während er zur Seite trat und zu seinem eigenen Zimmer ging.
„Geben Sie ruhig zu, dass Sie gern zuschauen würden.“
Berger stockte. Die linke Hand am Türstock sah aus, als würde der Kerl sich förmlich daran festkrallen. Natürlich warf die im Moment zu laute Stimme in Eriks Kopf ein, dass die schlanken Finger sich lieber in ihn als in das Holz dieser blöden Hütte krallen sollten. Darüber würde Erik garantiert die Erschöpfung und Müdigkeit vergessen können.
„Gehen Sie duschen“, meinte Berger erneut. „Kalt.“
Eriks Grinsen wurde breiter. Ließ der Kerl sich jetzt eigentlich tatsächlich einfacher provozieren, oder fand er nur endlich die richtigen Worte, um Berger aus der Reserve zu locken? Ganz sicher war Erik sich nicht, es spielte aber letztendlich keine Rolle. Das Gefühl, zur Abwechslung nicht wie der hilflose und von den eigenen Emotionen völlig überforderte Teenager dazustehen, gefiel ihm. Zu gut, als dass Erik bereit gewesen wäre, darauf zu verzichten.
„War Ihre Dusche auch kalt?“, fragte er deshalb zurück, bevor die Zimmertür zugefallen war.
„Nein“, entgegnete Berger, sicht- und hörbar gereizt. „War angenehm heiß!“
Die grünen Augen schienen nur so Funken zu sprühen, während sie über Bergers Schulter hinweg auf Erik gerichtet wurden. Trotzdem konnte er selbst sich das anhaltende Grinsen nicht verkneifen. Mit jeder verstreichenden Sekunde schienen Bergers zusammengepresste Lippen ein Stück schmaler zu werden – während sich Eriks Grinsen konstant hielt. Dieses Gefühl von ...
‚Überlegenheit‘, schlug der Quälgeist mit einem geradezu hämischen Unterton vor.
Etwas in Erik krampfte sich unangenehm zusammen. Diesen Gedanken hätte er am liebsten direkt wieder verworfen. Ein Teil von ihm fand an dem Wort aber durchaus Gefallen. Obwohl es schon lange nicht mehr darum ging, Berger in die Ecke zu drängen, bloßzustellen oder überhaupt irgendwie zu schaden, war da weiterhin dieser düstere Teil in Erik. Das Verlangen danach, die Kontrolle zu haben. Nicht über Berger per se, aber ganz sicher, wenn es darum ging, wie eine mögliche Zukunft für sie beide aussehen könnte.
Diese Entscheidung dem Sturkopf allein zu überlassen nagte weiterhin an Eriks Eingeweiden. Obwohl er nur zu gut wusste, dass diese Wahl in Bergers Händen liegen musste, wenn sie zu seinen Gunsten ausfallen sollte.
‚Im Bett wird er danach hoffentlich nicht genauso ein Kontrollfreak sein wie Tom.‘
Prompt war das Grinsen von Eriks Lippen verschwunden. In die Richtung wollte er doch nicht mehr denken. Der Vergleich zwischen Berger und Tom war im Augenblick ohnehin nicht hilfreich. Oder angemessen. Die Müdigkeit vernebelte Erik offenbar schon wieder den Verstand.
„Kalte Dusche klingt vernünftig“, murmelte er und verzog sich vorsorglich ins Bad.
✑
Die Dusche war in der Tat hilfreich gewesen. Nicht nur, um Eriks erhitztes Gemüt und die abschweifenden Gedanken zurück auf Kurs zu bringen. Vor allem half sie jedoch gegen die Müdigkeit. Zwar fühlte sich Eriks Kopf weiterhin an, als würde das Innere mehrheitlich aus Watte bestehen, aber zumindest waren die Augenlider nicht mehr zentnerschwer.
Nachdem die Zähne geputzt waren, besah Erik sich im Spiegel. Die Stoppeln am Kinn kratzten merklich, als er mit den Fingern darüber fuhr. Normalerweise hätte er sie abrasiert, aber irgendwie hatte er darauf heute keine Lust. Zumal Erik nicht zum ersten Mal dachte, dass der angehende Bart ihn älter wirken ließ. Nachdenklich rieb er mit der Hand darüber.
‚Steht Berger da drauf?‘
Mit einem leisen Seufzen schüttelte Erik den Kopf. Würde letztendlich wohl kaum den Ausschlag geben, wenn es um Bergers Entscheidung ging. Im Grunde sollte es auch keinen machen. Schließlich wollte Erik den Mann nicht von seinem Äußeren überzeugen, sondern von dem, was da in ihm drinnen war.
‚Diese irrwitzigen Fantasien, bei denen Du Berger auf dem Küchentisch oder im Klassenzimmer vögelst?‘
„Fuck!“, fluchte Erik leise und stopfte frustriert seine Waschsachen in die kleine Tasche. „Den Scheiß kennt er eh schon.“
Und bisher hatte das zumindest nicht zu einer klaren Abfuhr geführt. Also bestand Hoffnung. Erik schloss die Augen und unterdrückte das genervte Stöhnen, das ihm entkommen wollte. Er war zu müde und das machte diese dämliche Grübelei nicht besser.
Also schnappte Erik sich das noch immer feuchte Handtuch und sah sich erneut im Bad um. Da waren zwar weiterhin einige Sachen von Berger, Eriks eigene waren aber offenbar alle verstaut. Er atmete noch einmal tief durch, um sich zu beruhigen, und ging anschließend zurück in sein Zimmer.
Das Waschzeug stopfte Erik mit Gewalt in die Reisetasche – anders passte es merkwürdigerweise nicht mehr hinein. Das Handtuch ließ er allerdings zunächst noch draußen, weil es zu feucht war. Das würde wohl später einen Platz im Rucksack finden müssen.
Ein kurzer prüfender Blick durch den Raum zeigte Erik, dass er auch hier alles andere eingepackt hatte. Um nicht doch noch der Versuchung des Bettes zu erliegen, entschied er sich, etwas frische Luft zu schnappen.
Erik nahm das Badetuch und hing es draußen zum Trocknen über das Geländer der Veranda. Den Rest seiner Sachen ließ er vorerst noch im Zimmer.
Einen Moment zögerte Erik, setzte sich schließlich aber doch auf den Stuhl, den Berger rausgestellt hatte. Gedankenverloren schloss er die Augen.
In ein paar Stunden wäre dieser Höllentrip von Klassenfahrt endlich vorbei. Und dann?