46 – Belauschte Wahrheit
Natürlich saß Erik dreißig Sekunden, nachdem er in den Bus eingestiegen war, auf dem inzwischen üblichen Platz am Fenster. Und selbstverständlich setzte Berger sich neben ihn. Das verdammte Flattern im Bauch hielt unvermindert an. Dieses kindische und alberne Gefühl, als hätte Erik irgendetwas erreicht, nur weil der Kerl tatsächlich das Handtuch auf den Sitz legte, bevor er sich darauf setzte.
‚Idiot‘, zischte es mal wieder in Eriks Kopf, aber er konnte nicht anders, als sich trotzdem deshalb glücklich zu fühlen. Wenigstens schaffte er es, statt zu Berger aus dem Fenster zu sehen, sodass dem das hoffentlich nicht auffiel.
Die Fahrt über musste Erik sich dennoch verdammt zusammenreißen, um nicht wenigstens einen kleinen Blick zu riskieren. Vermutlich würde das beschissene Hemd weiterhin an Berger kleben, wie eine zweite Haut. Nur zu gern hätte Erik ihm die abgezogen – um zu sehen, was darunter zum Vorschein kommen würde.
Bevor ihm bewusst wurde, was er tat, hatte Erik die Hand gehoben und strich damit über das Shirt vor seiner eigenen Brust. Als sie wieder nach oben wanderte, konnte er das konstante Pochen darunter fühlen.
Irgendwo da drinnen wollte Erik Berger diese verdammte Fassade herunterreißen und sehen, was für ein Mensch tatsächlich dahintersteckte. Er krallte die Hand vor seiner Brust in das T-Shirt. Es war nicht nur die Fassade, die Erik Berger runterreißen wollte, sondern die Klamotten gleich mit. Und ganz sicher nicht, um sich mit dem Anblick den Mann endlich aus dem Kopf zu schlagen.
‚Dann fällt deine eigene Fassade gleich mit.‘ Der Gedanke versetzte Erik einen Stich in die Brust. Aber er konnte nicht zurück.
Etwas stieß gegen seine linke Schulter und ließ Erik zusammenschrecken. Er brauchte nicht einmal aufzusehen, um zu wissen, was das war – besser gesagt: wer. Das Pochen unter Eriks Hand beschleunigte sich. Aus dem Augenwinkel lugte er nach links, aber weiter als bis zu dem Oberschenkel, der nur wenige Zentimeter von seinem entfernt war, kam Erik nicht.
Er bräuchte nur die Hand aus dem Schoß vom eigenen Bein gleiten zu lassen und schon läge sie neben Bergers. Von dort wäre es ein Leichtes, sie ein Stück weiterzuschieben. Nur etwas anheben und über den vermutlich durchgeweichten Stoff der Jeans gleiten lassen.
‚So einfach ...‘
Und trotzdem ein Ding der Unmöglichkeit. Die Mädchen auf der anderen Seite des Ganges könnten es sehen. Hanna hätte eine Bestätigung ihres Verdachtes und Berger vermutlich eine ganze Menge Ärger am Hals, weil er Erik sich nicht vehementer vom Leib hielt. Mal davon abgesehen, dass ihre Unterbringung damit wohl hinfällig werden würde.
Also richtete er den Blick wieder stur nach vorn. Er ignorierte das Gewicht an seiner linken Schulter und krallte dafür beide Hände in das T-Shirt. Alles, um nicht doch noch schwach zu werden.
‚Anstand, kein Chaos. Albert, nicht Werther‘, sagte Erik sich immer und immer wieder.
Glücklicherweise dauerte die Fahrt nicht sonderlich lange. Sobald er die Straße der Ortschaft, in der sie untergebracht waren, erkannte, zuckte Erik mit der linken Schulter und hustete wenig dezent in seine Rechte.
„Hm?“, brummte es neben ihm, als das Gewicht verschwand.
„Wir sind gleich da“, raunte Erik, darum bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.
„Ah. Gut.“
Sie erreichten kurz darauf die Herberge. Berger stand bereits neben seinem Platz, bevor der Bus endgültig angehalten hatte. Dummerweise war Erik nicht schnell genug, um ihm direkt zu folgen. So musste er warten, bis sich in der Reihe der anderen aus seinem Kurs endlich eine Lücke auftat und Erik auf den Gang hinaus kam.
Jeder Schritt die Stufen hinab, fühlte sich an, als würde ein Bleigewicht ihn nach unten ziehen. Diese Art der totalen Kraftlosigkeit kannte Erik sonst nur von der Zeit nach seinen Wettkämpfen. Die, bei denen er sich tatsächlich bis zum Umfallen verausgabt hatte.
Kaum draußen war das Erste, was Erik tat, nach Berger zu suchen. Der war jedoch nirgendwo zu sehen. Da waren nur die Übrigen aus seinem Kurs, die schon ausgestiegen waren.
Er wollte sich gerade abwenden, um zu seiner Hütte zu gehen, als plötzlich Oliver vor ihm stand. Zunächst grimmig starrte der Erik an, dann seufzte er und schob die Hände in die Hosentaschen.
„Hey. Wir gehen vor dem Abendessen die Straße runter. Da ist ein Supermarkt.“
Irritiert runzelte Erik die Stirn. „Und?“
„Die haben Bier. Deutsches.“ Erik verstand weiterhin nicht, warum Oliver ihn ansprach, geschweige denn, was das merkwürdige Gefasel sollte. Vermutlich sah man ihm das auch an. Zumindest setzte Oliver nach: „Das Lagerfeuer ist erst am Donnerstag, aber wir wollten heute Abend darauf anstoßen, dass wir alle diese dämliche Wanderung überlebt haben.“
Ein kurzes Grinsen zog an Eriks Mundwinkeln. „Etwas übertrieben, oder nicht?“
Mit einem fetten Schmollen hob Oliver den rechten Arm und deutete auf die zwei kaum sichtbaren Schrammen. „Hey, ich bin verletzt!“, meinte er. Als Nächstes zeigte er auf Eriks Bein. „Du auch.“
Erik grinste weiter, zuckte diesmal allerdings mit den Schultern. „Nicht wirklich. Genauso wenig wie du.“
„Jetzt versau’s nicht, Hoffmann. Die Mädels stehen auf Helden.“ Für eine Sekunde schien Oliver zu zögern. Plötzlich stieß er Erik leicht mit der Faust gegen die Brust. „Manche Kerle ja womöglich auch. Was weiß ich.“
„Aha“, gab Erik kühl zurück.
„Hey, ich reich dir hier den Ölzweig, also greif gefälligst zu“, keifte Oliver, angepisst.
Erik hingegen schnaubte lachend und fuhr sich müde über das Kinn. „Das ist der Olivenzweig.“
Beleidigt verzog Oliver den Mund. „Nerd.“
„Trottel.“
Während Erik sich fragte, warum sie dieses Gespräch führten, stöhnte Oliver und warf einen unsicheren Blick über die Schulter. Als Erik dem folgte, standen da Mirek und Sophie. Letztere verdrehte gerade aus irgendeinem Grund die Augen.
„Was ist jetzt? Kommst du mit oder nicht?“.
Eben wollte Erik ablehnen, da legte sich eine warme Hand auf seine Schulter und schob ihn in Olivers Richtung. „Natürlich wird Herr Hoffmann mitgehen. Schließlich ist es Ihre Abschlussfahrt.“ Überrascht drehte Erik den Kopf und starrte Berger an. Der grinste, während er fortfuhr: „Sie sollten endlich anfangen, das hier zu genießen.“
Für einen Moment war Eriks Hirn leer, blank, eine unbeschriebene Seite, auf die es zur Abwechslung nicht einmal die Worte des mentalen Quälgeistes schafften. Wobei dieser ja schon den ganzen Tag eher zurückhaltend gewesen war. Womöglich dauerte der Moment auch etwas länger. Zumindest hatte Berger ausreichend Zeit, sich abzuwenden und in Richtung Haupthaus zu schlurfen.
‚Um das hier wirklich zu genießen, müsste der Sturkopf nur auftauen‘, mischte sich jetzt – mit reichlich Verspätung – doch noch ein gewisser mentaler Jemand ein.
„Also gut“, sagte Oliver in diesem Augenblick und wandte sich ab. „Komm mit oder lass es.“
Zunächst sah Erik ihm nach. Eigentlich hatte er keine Lust mitzugehen, aber irgendwie hatte Oliver recht. Ein Bier klang in Anbetracht des bisher ziemlich beschissenen Tages nicht schlecht. Und vielleicht würde Berger ja mit ein paar Promille intus auftauen.
„Ich trinke nicht im Dienst.“ Erik runzelte die Stirn, weil er wie so oft am heutigen Tag nicht sagen konnte, wann Berger ihm diesen dämlichen Satz an den Kopf geschmissen hatte.
„Irgendwann heute Abend wird der Dienst ja mal zu Ende sein“, murmelte Erik vor sich hin und setzte sich, Oliver folgend, in Bewegung.
✑
Obwohl es absolut selbstverständlich sein sollte, fühlte es sich für Erik merkwürdig an, im Tross mit den anderen zum Supermarkt zu laufen. Ohne Lehrer. Und das, obwohl Berger doch die beschissene zehn Meter Regel extra für ihn aufgestellt hatte. Das schien im Augenblick aber vollkommen egal zu sein. Zumindest nahm Erik das an, denn der blöde Sturkopf von Lehrer war ja nicht hier um sie durchzusetzen.
Verstohlen sah Erik zu den anderen in der Gruppe. Das waren die Leute, mit denen er in den letzten Jahren zusammen zur Schule gegangen war. Eriks Blick wanderte nach links, wo Mirek vor ihm lief. Einige kannte er seit der Fünften. Andere erst seit der Oberstufe. Unwillkürlich sah er nun zu Sophie. Manche hatte Erik selbst in den Jahren dort nicht wirklich kennengelernt. Und um ehrlich zu sein, verspürte er weiterhin keine große Lust, Zeit mit ihnen zu verbringen.
‚Zumindest nicht, solange bessere Alternativen in der Herberge auf dich warten.‘
Ein kurzes Grinsen huschte über Eriks Lippen. Dass Berger tatsächlich auf ihn warten würde, war eine deutlich interessantere Vorstellung, als hier mit Mitschülern abzuhängen. Leider keine sonderlich realistische. Zumal der sture Kerl Erik ja auch noch förmlich dazu gedrängt hatte, mit den anderen mitzugehen.
Glücklicherweise war der Weg zum Supermarkt nicht weit und deren Angebot an Alkohol erstaunlich gut. Genau wie Oliver versprochen hatte, gab es auch eine Auswahl von Sorten, die Erik kannte. Als er vor dem Regal stand, zögerte er jedoch. Auf einen Abend mit Mitschülern hatte er keine Lust. Die Idee, sich zur eigenen Hütte zurückzuziehen und stattdessen Berger abzufüllen, klang deutlich interessanter – wenn auch unrealistisch.
‚Einen Versuch ist es wert‘, sagte Erik sich selbst.
Mit einem leichten Grinsen fing er an, einige Flaschen einzupacken. Bei der vierten stockte er allerdings. Wie viel würde es brauchen, um ein schmales Hemd wie Berger betrunken zu machen?
„Wenn er überhaupt eins anrührt ...“
Beinahe hätte Erik mindestens zwei der Flaschen wieder ausgepackt, aber am Ende siegte der erste Gedanke: Einen Versuch war es allemal wert. Also stand er einige Minuten später an der Kasse vom Supermarkt. Neben den vier Flaschen Bier hatten sich – unter anderem – noch zwei weitere mit Wasser hinzugesellt. Für den kommenden Tag war schon wieder ein Ausflug geplant und Eriks Hoffnung gering, dass die ungeplant lange Wanderung heute daran etwas ändern würde.
„Seit wann rauchst du?“
Überrascht sah Erik hinter sich. Doch kaum fiel sein Blick auf das unsicher wirkende Gesicht seines Mitschülers, wandte er sich wieder ab. „Geht dich nichts an.“
„Hey, Erik ... Ich ...“
Sein Kiefer verspannte sich, während er unruhig darauf wartete, dass er zahlen konnte. Die Verkäuferin war nicht gerade die jüngste, aber die paar Sachen würde sie ja wohl endlich mal über den verdammten Scanner ziehen können.
„Es ...“, setzte Mirek schon wieder an, als Erik sich jetzt doch noch einmal umdrehte und ihn wütend anfunkelte.
„Ich will’s nicht hören“, zischte er, um Beherrschung bemüht. „Du hast das ganze beschissene Jahr nicht mit mir gesprochen. Also fang nicht ausgerechnet heute damit an.“
„Aber ...“
Endlich hatte die Alte an der Kasse Eriks Sachen eingescannt und sagte irgendetwas. Da er wie üblich nichts verstand, sah er kurz zum Display und gab der Frau die dort angezeigte Summe.
„Lass es, Miroslaw“, murmelte Erik, während er seine Einkäufe einpackte. „Spiel mit Oli den Helden vor euren Weibern. Ich verzichte.“
Damit stapfte er davon, ohne sich umzusehen. Erst nachdem Erik draußen war, fing er allmählich an, sich wieder zu beruhigen. Genau wie nach dem Gewitter am See, war auch hier die spätnachmittägliche Luft deutlich kühler als an den vergangenen Tagen. Langsam lief Erik den Weg zur Herberge zurück. Mit jedem Schritt wurde die Wut weniger, bis sie, nachdem er ihre Unterkunft erreichte, fast verschwunden war.
Als er neben den Hütten entlang in Richtung Haupthaus lief, konnte Erik Rufe hören, aber die ignorierte er geflissentlich. Würden sicherlich nicht ihm gelten. Und wenn doch, war das auch egal. Erik war nicht auf diese beschissene Fahrt mitgekommen, um sich irgendwie als Teil dieses dämlichen Kurses zu fühlen.
‚Weshalb dann?‘
Da war Erik sich zugegeben selbst nicht mehr so sicher. Für heute war er allerdings auch zu erschöpft, um da groß drüber nachdenken zu wollen. Bis zum Abendessen war noch Zeit. Sich vorher etwas auszuruhen, klang entsprechend verlockend. Also lief er weiter – passierte den Durchgang und wandte sich nach rechts in Richtung der Hecke, die das Haupthaus von dem Bauplatz der neuen Hütten trennte. Doch bevor er tatsächlich dem Weg folgen konnte, sah er aus dem Augenwinkel eine Gestalt den Hügel zum Speisesaal hinaufgehen.
Ehe Erik sich versah, hatte er die Richtung geändert und stapfte ebenfalls dorthin. Er hatte gerade den Vorplatz erreicht, da verschwand die gleiche Gestalt im Inneren. Der Herzschlag in Eriks Brust wurde mit jeder Sekunde heftiger – wenn auch nicht wirklich schneller. Wahrscheinlich wäre es klüger zu gehen, aber etwas trieb ihn weiter.
„Ihr Fuß hat sich erstaunlich flott erholt, Hanna“, hörte Erik Bergers Stimme aus dem Inneren.
„Ach, ja. Es ... geht wieder ... Kann ich ... mich zu Ihnen setzen?“
Eriks Magen krampfte sich zusammen. Der Rhythmus in seiner Brust beschleunigte sich erneut, während seine Schritte das genaue Gegenteil taten.
„Nein“, gab Berger ruhig zurück. Eriks Hand zuckte zu seinem Mund, in der Hoffnung das überraschte Schnauben zu unterdrücken. „Wir haben darüber schon vor Monaten gesprochen, Hanna“, fügte Berger mit einem hörbaren Seufzen hinzu. „Sogar zusammen mit Ihren Eltern. Hören Sie endlich auf.“
„Aber ... Es sind doch nur noch ein paar Tage. Sie ... Ich ... ich mag Sie und ...“
„Hanna. Bitte. Es reicht. Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass Ihr Interesse fehl am Platz ist? Es mag schmeichelhaft sein, aber ich habe Ihnen inzwischen mehrmals gesagt, dass ich es nicht erwidere.“
Von seiner Position vor der Tür konnte Erik die beiden nicht sehen – aber wenigstens würde er so auch nicht bemerkt werden. Dass Berger und Hanna dieses Gespräch sicherlich nicht vor anderer Leute Ohren führten, verstand sich von selbst. Zumindest klang das nicht nach einer Unterhaltung, die man in der Öffentlichkeit führen wollte. Anständig wäre deshalb wohl, wenn Erik ebenfalls verschwinden würde. Seine Beine schienen aber zu versagen und er blieb stehen.
„Sagen Sie Erik das Gleiche?“, zischte es mit einem Mal von Hanna zurück.
Prompt wanderte sein besorgter Blick in Richtung des Haupthauses, aber bisher war niemand sonst zu sehen oder zu hören. Das hier wäre definitiv der richtige Augenblick, um abzuhauen. Trotzdem blieb Erik weiterhin stehen. Immerhin redete Hanna über ihn. Also war das irgendwie auch seine Sache. Oder?
„Ich wüsste nicht, was Herr Hoffmann damit zu tun hat.“
Hanna schnaubte. „Also bitte! Der hängt doch seit wir losgefahren sind wie eine Klette an Ihnen. Und er ist ... ist ...“
Das Klopfen in Eriks Brust wurde ein weiteres Mal stärker. Am liebsten wäre er dort hineingestürmt und würde Hanna irgendetwas an den Kopf knallen. Aber Erik hatte keine Ahnung was. Alles, was er hätte sagen können, würde sowohl ihn als auch Berger kompromittieren.
„Herr Hoffmann schreibt mir keine Liebesbriefe“, sagte der jedoch nur. Die Stimme klang kühl und teilnahmslos, so ganz anders als ihr Lehrer sich sonst den Mädchen gegenüber zu geben schien. Es waren allerdings die Worte, die Erik einen Stich versetzten.
‚Nein, du schreibst darüber, wie du den Kerl im Klassenraum vergewaltigst und auf dem Küchentisch nagelst ...‘
Weiter entfernt waren allmählich doch Stimmen zu hören. Nicht mehr lange und die anderen würden hier auftauchen. Erik war klar, dass er sich verziehen sollte – und sei es nur, damit niemand merkte, dass er gelauscht hatte. Ganz zu schweigen davon, dass er auf weitere Verdächtigungen Hannas verzichten konnte. Zumal die ja dummerweise nicht einmal aus der Luft gegriffen waren.
„Aber er ist ... schwul ... und .... und ...“, stammelte Hanna mit zitternder Stimme.
„Na und?“
Erik blieb bei der Emotionslosigkeit, die er zu hören glaubte, fast der Atem weg. Was ihn zurückschrecken ließ, war allerdings, dass Bergers Stimme näher zu kommen schien. Hastig trat Erik einen Schritt zurück.
„Aber ...!“, rief Hanna – laut genug, dass man sie vermutlich noch am Fuß des Hügels hören konnte. Automatisch drehte Erik den Kopf herum und sah in Richtung Haupthaus. Über dessen Dach hinweg waren einige Schüler zu erkennen, die sich rund um die Hütten sammelten – vermutlich um zum Essen zu kommen.
„Ich kann mich nicht erinnern, dass Herr Hoffmann irgendwann schon einmal unangemessenerweise vor meiner Wohnungstür aufgetaucht ist.“
Eriks Kopf schnellte herum. ‚Was zum ...?!‘
Hastig stolperte er einige Schritte nach hinten, versuchte, weiteren Abstand zwischen sich und die Tür zum Speisesaal zu bringen. Erik hatte genug gehört – definitiv mehr, als er hatte wissen wollen. Bevor ihn doch jemand erwischte, machte Erik auf dem Absatz kehrt und rannte den Hügel hinunter. Noch während er auf den Torbogen in Richtung Parkplatz zustürmte, konnte er auf der anderen Seite einige Mitschüler sehen. Die sahen ihn garantiert auch, war Erik aber zur Abwechslung ziemlich egal.
Vor dem Torbogen bog er nach links ab und rannte durch den überdachten Gang in Richtung der eigenen Unterkunft. Im Augenblick war Erik sogar egal, falls jemand mitbekommen würde, wo er hinrannte. Da der Weg einen Bogen machte, würde man ihn jedoch vermutlich nicht hinter der Hecke verschwinden sehen. Aber unterm Strich verschwendete Erik in diesem Moment keinen Gedanken darauf. Stattdessen stürmte er weiter.
Erik hielt erst an, nachdem er die Hütte erreichte, die er sich mit Berger teilte.
„Scheiße ...“, keuchte er.
Mit den Händen auf den Knien, nach vorn gebeugt, stand Erik da und versuchte seinen Puls wieder zur Ruhe zu bringen. Ebenjenes Herz hämmerte aber ungehindert weiter in Eriks Brust. So gern er sich eingeredet hätte, dass es vom Spurt hierher war, das stimmte einfach nicht. Bei zwei bis drei Mal Joggen in der Woche bekam Erik ganz sicher keinen Herzkasper von zweihundert Meter Sprint.
„Scheiße!“, fluchte er erneut, denn das schien zumindest einen Teil des Drucks in der Brust zu nehmen.
Von links waren Stimmen zu hören. Erschrocken richtete Erik sich auf und sah hinüber. Aber es waren lediglich die Handwerker, die ihrerseits zu ihm zurückblickten. Was sahen diese Kerl in ihm? Konnte man das Arschloch sehen, das Erik in seinem Kopf mit sich herumtrug? Er biss sich auf die Lippe, während etwas in seiner Brust sich anfühlte, als würde es immer weiter aufreißen. Dieses beschissene schwarze Loch, das ihn zu verschlingen drohte.
Berger hatte es abgestritten, aber an welchem Punkt war Erik denn tatsächlich anders gewesen als Hanna?