72 – Finaler Abend
Gelangweilt starrte Erik in Richtung des allmählich ruhiger brennenden Lagerfeuers. Würde er auf seinem Handy nach der Uhrzeit sehen, wäre es vermutlich gegen halb elf – so zumindest seine aktuelle Schätzung. Die Sonne war jedenfalls schon vor einer Weile untergegangen und entsprechend dunkler war es inzwischen geworden. Ungefähr im gleichen Verhältnis, wie die Stimmung um Erik herum sich aufzuhellen schien. Das dürfte allerdings weniger der fortgeschrittenen Stunde, als vielmehr dem stetig steigenden Blutalkoholpegel geschuldet sein.
Die meisten hatten sich einen Platz zwischen den Hütten und in der Nähe des Feuers gesucht. Erik saß am anderen Ende des Areals, dort, wo niemand sein wollte. Nicht einmal er selbst, denn Erik wäre ja grundsätzlich lieber woanders. Aber daran ließ sich augenscheinlich nichts ändern. Genauso wie an der Tatsache, dass Berger nicht hier bei ihm saß.
Erik zog die Stirn kraus und den Kopf, um irgendwie zu dem Mann sehen zu können, an dessen Seite er eigentlich diesen Abend verbringen wollte. Immerhin hatte der zu Erik gesagt, er solle ihn genießen. Langsam hob er die Hand, in der er seit ungefähr einer halben Stunde eine Bierflasche hin und her drehte. Der Schluck daraus schmeckte nicht nur schal, sondern war vor allem zu warm.
‚Der Abend ist genauso scheiße, wie zu erwarten war.‘
Na gut, da war Erik selbst vermutlich nicht ganz unschuldig dran, gestand er sich ein. Seine Mutter, Alex, Berger, sogar Sophie – sie alle hatten ihm irgendwie versucht klarzumachen, dass er diese Fahrt genießen sollte. Aber offenbar gelang ihm das schlichtweg nicht.
Ein weiteres Mal blickte Erik zu Berger und trank einen Schluck. Erneute Bestätigung, dass das Bier noch immer eine warme Dreckspisse war und er es weiterhin scheiße fand, dass Berger da drüben auf der Veranda der anderen Hütte saß und irgendwelche Weiber anlächelte. Der sollte hier sein. Bei Erik und ihn anlächeln anstatt Jenny und Alina, die gerade lachend mit einer Weinflasche angekommen waren.
Dass Berger an diesem Abend auch wieder nichts trank, sollte allmählich allen klar geworden sein. Trotzdem hob der Sturkopf von Lehrer das Glas, das er in der Hand hielt. Seit mindestens zwei Stunden war das Ding halb voll. Alle paar Minuten hob Berger es an die Lippen und setzte es wieder ab. Selbst bei tröpfchenweiser Inhalation hätte es sich allmählich leeren müssen. Tat es allerdings nicht. Was aber scheinbar keine der Damen störte, die immer wieder ankamen, und ihm nachschenken wollten.
Für Erik machte es jedoch letztendlich keinen Unterschied. Trotzdem kotzte es ihn an. Berger saß da drüben mit dem Wein, den er nicht trank, den Lehrerinnen, mit denen er nicht sprach, und den übrigen Damen, die er zwar anlächelte, aber ansonsten auf Abstand hielt.
Hätte Frau Farin einfach ihr Maul gehalten, anstatt Berger zu nerven, wäre der vielleicht nicht so mies gelaunt gewesen. Vor allem aber würde er womöglich bei Erik sitzen. Weil es sich dann hoffentlich weniger ‚unangemessen‘ anfühlen würde.
Mit etwas zu viel Schwung landete die Bierflasche auf dem Boden neben Erik, ging aber glücklicherweise nicht zu Bruch. Wobei ihm das ein weiteres Sitzen hier im Halbdunkel womöglich ersparen würde. Wenn er sich an den Scherben der Flasche die Hand aufschnitt und treudoof grinsend zu Berger lief, würde der sich bestimmt erbarmen, die Verletzung zu verarzten. Aber eine verbundene Hand war jetzt nicht unbedingt sexy und würde auch garantiert nicht zu irgendetwas führen, was Erik gern mit Berger angestellt hätte.
Vielleicht war er ja doch ein allmählich besoffener Idiot.
Wobei Erik gerade einmal drei Bier intus hatte. In ebenso vielen Stunden. Nein, er war bestimmt nicht betrunken. Wirklich nicht. Jedenfalls befand Erik sich noch weit weg von dem Zustand, in dem er am Montagabend nach der Weinverkostung gewesen sein musste.
Bei der Erinnerung an diese Nacht runzelte er die Stirn. Da war irgendetwas, nicht am Montag, sondern etwas, das Berger am Vortag gesagt hatte. Aber Erik konnte es nicht greifen, sich vielleicht auch nur nicht wirklich daran erinnern. Dabei war er letzte Nacht viel zu nüchtern gewesen. Gedankenverloren drehte Erik wiederum die Bierflasche zwischen den Fingern. Davon würde die Plörre nur noch wärmer werden, aber schlimmer konnte sie dadurch garantiert nicht mehr schmecken.
„Alles Scheiße“, murmelte Erik kaum hörbar vor sich hin, während er diesmal der Versuchung widerstand, die Flasche erneut zum Mund zu führen.
Wahrscheinlich wäre es cleverer, sich endlich etwas Alkoholfreies zu holen. Cola war ungekühlt zwar genauso ein Dreckszeug, aber erträglicher als pisswarmes Bier. Dafür hätte Erik allerdings aufstehen müssen – und Berger längere Zeit ganz aus den Augen lassen. Zwei Dinge, auf die er im Moment absolut keinen Bock hatte. Also saß Erik weiterhin hier, während dieses beschissen miese Bauchgefühl an seinen Eingeweiden nagte.
Die Stimmen aus Richtung Lagerfeuer wurden lauter. Um der zunehmenden Langeweile zumindest ein Stück weit zu entgehen, griff Erik sich die Bierflasche erneut und stand auf. Gelangweilt sah er sich um, während er sich an das Geländer der Veranda lehnte.
Zwar hatten sich einige, ähnlich wie er und die Lehrer, Plätze auf der Veranda der einen oder anderen Hütte gesucht, die meisten befanden sich jedoch in der Nähe des Lagerfeuers.
Lachen, Grölen, Flaschen, die klingend gegeneinandergestoßen wurden. Die Stimmung war zweifellos super. Aber Erik fühlte es nicht. Obwohl er gar nicht so recht verstand, warum, setzte ihm das zu. Es war ja nicht so, dass Erik darauf brannte, sich hier den besten Abend seines Lebens zu machen oder überhaupt mit diesen Typen zu feiern. Das hatte er früher mit seinen Kumpels gemacht. Jungs, die er damals zumindest für seine Freunde gehalten hatte.
Eriks sah zu Mirek. Einer von genau den Kerlen, mit denen er letzten Sommer tatsächlich noch am Lagerfeuer gesessen hatte. Und die danach keinen Finger gerührt hatten, nachdem irgendjemand sich verquatscht hatte. Vielleicht sollte es Erik interessieren, wer von ihnen es gewesen war. Womöglich wäre es angemessen, wenn er Mirek und den anderen deshalb weiterhin böse sein würde.
So merkwürdig das klang: An diesem Abend war Erik genau das nicht. Es war ihm inzwischen egal. Er brauchte weder Mirek noch einen von den anderen. Es würde ihm nichts fehlen, wenn er sie ab kommender Woche tatsächlich nie wiedersehen würde. Erik grinste, als er Mirek nach einem Funkenflug vom Lagerfeuer hastig aufspringen und auf die Hosen schlagen sah.
‚Na gut, das kann als Unterhaltung durchgehen‘, dachte Erik mit einem verhaltenen Lachen bei sich.
Die Bierflasche war schon wieder auf halbem Weg zu seinem Mund, als er innehielt und sie angewidert erneut senkte. Von dem Zeug hatte er für heute genug. Prompt wanderte Eriks suchender Blick in Richtung seines eigentlichen Zielobjektes. Der Mann, mit dem er nur zu gern eine ganz andere Form der Abendunterhaltung begonnen hätte. Aber dass Erik darauf heute nicht zu hoffen brauchte, war ihm inzwischen nur zu bewusst. Berger war wie ein wildes Tier, dessen Vertrauen er scheinbar noch nicht weit genug errungen hatte. Etwas, was nicht unbedingt eine von Eriks Stärken zu sein schien.
Und das zeigte sich auch sehr deutlich, als sein Blick endlich dort angelangt war, wo Berger eben noch gesessen hatte. Ruckartig richtete Erik sich auf. Die Flasche fiel vom Geländer, landete glücklicherweise im Kiesbett vor der Hütte und zerbrach dabei nicht. Selbst wenn dem so gewesen wäre, hätte es ihn nur am Rande interessiert. Was hingegen Eriks volle Aufmerksamkeit auf sich zog, war der Stuhl, auf dem Berger eben noch gesessen hatte. Dummerweise tat der Kerl das im Augenblick nicht mehr, was Eriks Herz prompt dazu brachte, heftiger zu schlagen. Berger war doch eben noch da gewesen!
Seine Augen zuckten ein Stück nach rechts und zeigten seinem Hirn, was Erik irgendwo tief in sich drinnen bereits befürchtet hatte. Frau Farin fehlte auch.
Scheiße! Wo zum Geier waren die zwei hin? Und warum waren auf einmal gleich beide weg? Nicht, dass Erik sich auch nur ansatzweise vorstellen konnte, dass Berger an der Farin Interesse haben könnte. Jedenfalls schien er ihr nicht die Art von Beachtung schenken zu wollen, die Erik in den letzten Tagen erfahren hatte. Wobei er deshalb nicht gerade unglücklich war – weder über die Aufmerksamkeit, noch darüber, dass andere ebendiese nicht bekommen hatten.
Vorerst interessierte Erik jedoch nur, wo Berger war. Also wandte er sich ab und lief eiligen Schrittes zwischen den Hütten entlang in Richtung Haupthaus. Schließlich konnte der Sturkopf nur dorthin verschwunden sein. Wäre er zum Feuer gegangen, hätte Erik ihn bemerkt und zwischen den Unterkünften der Schüler war Berger auch nicht mehr zu sehen.
‚Vielleicht ist er lediglich aufs Klo‘, versuchte Erik sich selbst zu beruhigen. Die Tatsache, dass Frau Farin ebenfalls fehlte, lag aber wie ein Stein in seinem Magen und machte jeden Versuch in diese Richtung zunichte.
„Scheiße!“, fluchte Erik noch einmal.
Beinahe hoffte er darauf, dass die beiden Lehrer vor ihm auftauchten und er eine total sinnlose Predigt dafür erntete, dass er hier fluchend durch die Gegend stolperte. Mal wieder allein wohlgemerkt. Wobei es Erik ja auch deutlich lieber gewesen wäre, wenn er nur auf einen der beiden fehlenden Lehrer treffen würde. Vorzugsweise Berger, denn die Farin ging Erik schließlich genauso am Allerwertesten vorbei wie der Rest dieser schon wieder lauter herumgrölenden Idioten.
Er umrundete gerade die letzte Hütte, um zum Haupthaus zu eilen, als er von rechts etwas hörte. Erik stockte und sah verwundert in die Richtung. Da befand sich jedoch nur der Parkplatz. Außer dem Bus, mit dem sie gekommen waren, stand dort ein Kleinbus, der vermutlich den Arbeitern gehörte, die die Hütten bauten und zwei weitere Autos, die Erik nicht zuordnen konnte. Alle Fahrzeuge lagen jedoch im Dunkel, was nicht darauf hindeutete, dass jemand gerade kam oder wegfuhr. Irritiert runzelte er die Stirn und war bereits dabei, wieder in Richtung Haupthaus aufzubrechen, als er erneut jemanden rufen hörte.
Die Worte konnte er zwar nicht ausmachen, aber er war sich sicher, dass die Stimme zu Frau Farin gehörte. Und sie klang nicht gerade begeistert. Eher ziemlich angepisst. Darum bemüht, keinen Lärm zu machen, schlich Erik näher an den Bus heran. Zwischen den Autos hatte er sie nicht gesehen, also musste sie irgendwo dort sein.
Zwar interessierte es Erik überhaupt nicht, was die Frau so trieb, die Vorstellung, dass sie Berger hinter den Bus geschleift hatte und jetzt derartig sauer klang, bereitete Erik jedoch reichliches Unbehagen. Unsicher, ob er einfach auf die andere Seite gehen und nachsehen sollte, blieb er neben dem Bus stehen.
„Ich will jetzt endlich eine Antwort!“
Erik zuckte zusammen. Diesmal war die wütende Stimme mehr als deutlich zu verstehen gewesen. Was auch immer Frau Farin wissen wollte – und von wem –, sie war definitiv reichlich angepisst. Vielleicht wäre es besser, wenn er sich verziehen würde. Immerhin ging ihn das hier nichts an. Außerdem wollte er ja nicht die Farin finden, sondern Berger. Und der war hoffentlich nicht dort drüben.
„Und ich bin es leid, mich zu wiederholen: Es geht Sie nichts an.“
Schlagartig sprang Eriks Puls nach oben. So viel dazu, dass Berger nicht bei Frau Farin war. Damit sah die Situation schon wieder ganz anders aus – und nicht besonders rosig. Die klangen beide nicht danach, als ob sie lediglich bei einer Kippe plauderten.
„Es geht mich sehr wohl etwas an, wenn Sie sich ... ungebührlich verhalten!“
Scheiße, das klang gar nicht gut. Was zum Teufel war jetzt schon wieder passiert? Erik überlegte, während er neben dem Bus in die Knie ging und versuchte, darunter hindurchzusehen, um zu erkennen, wo die beiden genau standen. Was er sah, war ein Paar nackte Beine, das zu Frau Farin gehören dürfte und eines in Jeans, das entsprechend offensichtlich Berger sein musste. Tatsächlich war er mit den beiden fast auf gleicher Höhe. Unsicher blickte Erik sich um, aber außer ihnen dreien war keiner zu sehen. Der Rest befand sich noch immer beim Lagerfeuer und zwischen den Hütten – folglich außerhalb von Sicht- und vermutlich auch Hörweite waren. Zumindest wenn Erik danach ging, wie wenig Rücksicht die beiden da auf der anderen Seite des Busses darauf nahmen, ob man sie hörte oder nicht.
„Das ist absolut lächerlich!“, gab Berger bollernd zurück. „Wollen Sie mir etwa erzählen, dass Sie sich auf dieser Fahrt angemessen verhalten haben?“
Unter dem Bus sah Erik, wie Berger sich ein paar Schritte von Frau Farin in Richtung hinteres Ende des Busses entfernte.
„Es war nicht das erste Mal auf dieser Fahrt, dass Erik Hoffmann einfach spurlos verschwindet. Und jedes Mal tauchen Sie mit ihm später wieder auf, als wäre nichts passiert“, fuhr Frau Farin fort. Der Unterton in ihrer Stimme behagte Erik gar nicht.
„Weil ich mir in den vergangen Tagen als Einziger die Mühe gemacht habe, nach ihm zu sehen“, gab Berger ruhig zurück. „Und was heute angeht, war es reiner Zufall, dass ich ihn auf dem Marktplatz getroffen habe.“
„Wie bei Hanna, oder nicht? Die haben Sie gestern auch – natürlich absolut zufällig – im Park getroffen.“
Ein Seufzen war von Berger zu hören. Immer stärker wurde derweil in Erik der Drang, endlich auf die andere Seite zu gehen und Frau Farin gegenüberzutreten. Immerhin ging es hier auch um ihn. Sollte er da nicht ein Wörtchen mitzureden haben? Aber kaum war ihm der Gedanke gekommen, schob er ihn schon wieder weg. Wenn er sich einmischte, würde das Berger vermutlich nur noch mehr Ärger bereiten.
„Ich frage Sie jetzt zum letzten Mal, Herr Berger ... Schlafen Sie mit einem Schüler im gleichen Zimmer?“
Die Art und Weise, wie Frau Farin das letzte Wort aussprach, rammte Erik eine Speerspitze in die Eingeweide. Ganz sicher ging es hier nicht einfach nur darum, ob sie sich ein Zimmer teilten – was aber angesichts von Bergers Reaktion bei ihrer Ankunft vermutlich schon schlimm genug wäre. Die Frau spielte hier doch auf etwas ganz anderes an. Für Erik vielleicht eine Wunschvorstellung, mit einem Mal aber auch ein Schreckgespenst. Obwohl er in den letzten Tagen nur noch ein Ziel bezüglich Berger gehabt hatte, drehte sich Erik im Augenblick der Magen um. Vor allem wenn er daran dachte, was es tatsächlich für Konsequenzen haben könnte, falls Berger ihm nachgegeben und die Farin es rausgefunden hätte.
„Und ich antworte Ihnen gern zum vierten Mal: Nein! Natürlich schlafe ich nicht mit ihm im gleichen Zimmer. Der Herbergsleiter hat eine angemessene Lösung gefunden. Und Frau Fink ist darüber informiert. Also lassen Sie es endlich gut sein!“
Schweigen trat ein und Erik war sich nicht sicher, ob das Gespräch damit zu Ende war. Offensichtlich hatte Frau Farin ja dieses Thema nicht zum ersten Mal angeschnitten. Bevor er von dem Punkt weiterdenken konnte, fuhr sie jedoch wieder fort.
Diesmal klang ihre Stimme allerdings deutlich ruhiger und weniger gereizt: „Erik hängt inzwischen wie eine Klette an Ihnen. Mehr als Hanna. Und Sie machen nicht gerade den Eindruck, als wäre es sonderlich unangenehm, dass ein männlicher Schüler Ihnen hinterherschmachtet. Sie verbringen erst recht permanent Zeit mit ihm. Was zum Teufel soll man davon bitte halten?“
„Es ist mir vollkommen egal, was Sie darüber denken“, antwortete Berger umgehend, der Tonfall deutlich kühler und abweisender als der von Frau Farin. „Es ist mir ebenfalls egal, wenn die Tatsache, dass ich mich um meine Schüler kümmere, bei Ihnen zu irgendwelchen kranken Fantasien führt.“
„Wie bitte?!“
„Ich habe mich nie an einem Schüler vergriffen. Und das werde ich ganz sicher auch niemals tun. Wenn Sie daran Zweifel haben, besprechen Sie das mit Frau Fink. Ich bin Ihnen über mein Privatleben ansonsten keine Rechenschaft schuldig. Und ich übernehme sicherlich nicht die Verantwortung dafür, dass Sie Herrn Hoffmann heute aus den Augen verloren haben. Er war in Ihrer Obhut, nicht in meiner. Ich hatte mich für den Vormittag bei Ihnen abgemeldet.“
Wenn es möglich wäre, dass einem tatsächlich das Herz aus der Brust springen könnte, würde Erik es in diesem Moment wohl in Händen halten. So fühlte es sich nur so an, als wolle ihn etwas von innen heraus zerreißen. Wie erstarrt hockte er neben dem Bus, unfähig sich zu bewegen. Frau Farin antwortete irgendetwas, ihre Stimme nur noch ein keifendes Fauchen, das Erik gar nicht mehr wirklich wahrnahm. Das diffuse Rauschen in seinen Ohren war schon wieder viel zu laut. Vielleicht redeten die beiden auch nur inzwischen leiser, denn Bergers wütende Antwort ging im gleichen Rauschen unter.
‚Reiß dich zusammen!‘, versuchte Erik sich selbst zu beruhigen.
Wenn er schon hier hockte und lauschte, sollte er doch wenigstens mitbekommen, worüber die beiden redeten. Das ging jedoch noch immer in dem Rauschen unter, das seinen Gehörsinn fest im Griff zu haben schien. Trotzdem drang neben den weiterhin verschwommenen Stimmen irgendwann ein neues Geräusch zu ihm durch. Hammergleich drosch es auf ihn ein. Bis Erik klar wurde, was es war, vergingen jedoch weitere wertvolle Sekunden.
Er blinzelte und schaffte es endlich, den Kopf zu drehen, um erneut unter dem Bus hindurchzusehen. Das Geräusch kam tatsächlich von Schritten – und zwar von Berger. Der hatte sich inzwischen von Frau Farin entfernt und beinahe das Ende des Busses erreicht. Mehr krabbelnd als laufend, bewegte Erik sich in die gleiche Richtung, bis er Berger eingeholt hatte. Nicht, dass er dem unbedingt in die Arme laufen wollte, aber Frau Farin war in diesem Fall definitiv die schlechtere Wahl.
Eigentlich wäre es besser, ganz zu verschwinden. Eriks Blick zuckte nach links und rechts. Die Beleuchtung des Durchganges schaffte es nicht, den Weg bis hierher zu erleuchten – zumal der Bus einen Schatten genau in Eriks Richtung warf. Während er an seiner momentanen Position also in einem hilfreichen Halbdunkel hockte, würde er am anderen Ende des Busses im direkten Licht stehen – somit garantiert entdeckt werden. Und zwar von Frau Farin.
Hier hinten lief er allerdings noch immer Gefahr, Berger in die Hände zu laufen. Wobei Erik zugeben musste, dass er die Aussicht, mit dem heute noch etwas Zeit unter vier Augen zu verbringen, gar nicht so mies fand. Leider dürfte Berger dafür im Moment zu schlecht gelaunt sein. Was Erik diesem nach dem Gespräch mit Frau Farin nicht einmal übel nehmen konnte.
Blieb die Flucht in Richtung der Hütten. Von dort flackerten aber das Feuer und die Verandabeleuchtung zu ihm hinüber. Auch auf diesem Weg würde er also garantiert auffallen. Erik schloss die Augen und atmete zweimal tief durch. Allmählich beruhigte sich sein Herzschlag, und auch das Rauschen in den Ohren wurde leiser. Noch einmal riskierte Erik einen Blick unter den Bus hindurch. Berger stand weiterhin mit ihm auf gleicher Höhe. Wenn er einfach hierblieb, würden ihn hoffentlich beide nicht entdecken.
„Warten Sie!“, rief Frau Farin – deutlich schriller als während des eben belauschten Gesprächs. Erik sah, wie Berger sich auf der anderen Seite des Busses herumdrehte und wiederum einige Schritte auf sie zuging.
Unsicher zuckte Eriks Blick zu den Hütten auf der anderen Seite des breiten Weges. Bisher hatte ihn niemand bemerkt. Vermutlich würde es nicht einmal jemand merken, dass er weg war. Wenn Erik jetzt rannte, solange die beiden dort drüben noch sprachen, würde er bis zu den Hütten kommen, ohne dass ihn jemand sah.
Aber dann hätte er den Rest des Gesprächs verpasst. Und obwohl das reichlich dämlich anmutete, wollte Erik wissen, was Berger weiter zu diesen beschissenen Vorwürfen zu sagen hatte.
„Sie können jetzt nicht einfach so verschwinden.“
Eigentlich hoffte Erik, dass von Berger direkt eine Erwiderung kam. Und zwar in die Richtung, dass dieser Frau Farin durchaus stehenlassen konnte. Gern im Regen. Oder in der Wüste. Wo auch immer. Hauptsache es war sehr weit weg.
Just in diesem Moment musste natürlich irgendjemand bei den Hütten anfangen herumzukrakelen. War ja irgendwie schon immer so gewesen. Jedes Mal, wenn irgendwo irgendein Gespräch interessant wurde, fing jemand an zu schreien, kam ins Klassenzimmer oder die verdammte Schulglocke hatte geläutet. So war es schon das ganze Jahr gewesen!
‚Beschissenes Timing, so wie immer!‘
Erik bekam zwar mit, dass Berger etwas antwortete, allerdings nicht, was das war. Das verhaltene Fluchen, das ihm entkam, machte die Situation definitiv nicht besser. Trotzdem fühlte Erik sich damit nicht mehr ganz so mies und riskierte einen weiteren Blick unter dem Bus hindurch. Diesmal war es Frau Farin, die sich ruckartig umdrehte und in Richtung Haupthaus davonstürmte. Glücklicherweise schien sie auf nichts und niemanden zu achten und bekam dadurch hoffentlich nicht mit, dass Erik weiterhin auf dem Asphalt neben dem Bus hockte. Sein Herz hämmerte wie wild. Dabei hätte er nicht einmal wirklich sagen können, warum überhaupt. Was die Situation mal nur umso unerträglicher machte, weil Erik sich damit wie so oft vollkommen unzulänglich vorkam. Kindisch. Albern. Schlicht nicht erwachsen genug. Vielleicht hatte er ja deshalb seine Antwort immer noch nicht. Bei dem Gedanken drehte sich Erik der Magen um. Er schloss die Augen, setzte sich auf den kühlen Boden neben dem Bus und lehnte den Rücken dagegen.
Vielleicht hätte Erik darüber nachdenken sollen, dass das Ding vermutlich saudreckig war und er sich damit entsprechend einsauen würde. Aber das war im Augenblick nichts, worüber Erik sich ernsthaft Gedanken machen wollte.
Um genau zu sein, hatte er überhaupt keine Lust, groß nachzudenken. Wenn es nach Erik ging, würde er sich Berger schnappen, in ihre Hütte zurückkehren und dort den Rest des Abends in trauter Zweisamkeit verbringen. In Eriks Gedanken war dabei zur Abwechslung nicht mal sonderlich viel nackte Haut im Spiel – oder besonders tiefgreifende Gespräche. Im Grunde wäre es genug, wenn sie auf dieser blöden Veranda saßen und sich anschwiegen.
War natürlich eine total hirnrissige Vorstellung und selbstverständlich würde Berger da nicht wirklich mitmachen – schon gar nicht nach dem Gespräch mit Frau Farin. Aber es klang trotzdem deutlich besser, als alle Alternativen, die Erik im Moment einfielen.
„Keine Lust mehr auf Party?“
Erschrocken zuckte er zusammen – hoffte gleichzeitig, dass man das in dem um ihn herrschenden Halbdunkel nicht wirklich sehen konnte. Schließlich wollte Erik über diesen Zustand pubertärer Unsicherheit doch allmählich mal hinauskommen.
„Miese Gesellschaft“, presste er hervor – darum bemüht, wenigstens selbstsicherer rüberzukommen, als er sich fühlte. Wirklich sonderlich cool dürfte er dabei allerdings nicht rübergekommen sein.
Stand Berger denn auf ‚cool‘? War bestimmt eher etwas, was der Kerl als ‚kindisch‘ und unreif betiteln würde. Andererseits hatte er mit dem forscheren Ton, den der Quälgeist aus Eriks Kopf in den letzten Tagen immer wieder ausgespuckt hatte, so einiges erreicht bei Berger. Jedenfalls mehr als mit Zurückhaltung und angeblich anständigem Verhalten. Leider schien genau das ja inzwischen zu ganz anderen Problemen zu führen, wenn man nach dem Gespräch zwischen den beiden Lehrern ging.
„Kommen Sie“, sagte Berger plötzlich mit rauer Stimme, die Erik für einen Moment etwas irritierte.
Da er aber ganz sicher nicht auf eine derartige Einladung verzichten würde, sprang Erik hastig auf und klopfte sich den Dreck vom Hosenboden. Berger wartete nicht, lief den Weg, der von der Herberge wegführte, entlang, ohne auf Erik zu warten oder sich auch nur umzuschauen.
„Ist es okay, wenn wir einfach verschwinden?“, fragte er Berger irritiert.
Natürlich war Erik der in Aussicht stehenden Zweisamkeit nicht gerade abgeneigt. Aber ihm war auch durchaus bewusst, dass Berger eben noch von Frau Farin genau deshalb angezählt worden war, weil der Mann ständig mit Erik rumhing. War das hier nicht am Ende noch mehr Öl im Feuer?
„Da Sie nicht alleine rumlaufen dürfen, ist es notwendig, dass ich Sie begleite.“
„Hä?“
Nun war Erik verwirrt. Berger hatte ihn doch aufgefordert mitzukommen. Wieso klang es jetzt mit einem Mal danach, als wäre es eher umgekehrt, so als würde Berger ihn nur begleiten? Gerade wollte Erik ansetzen, um zu widersprechen, hielt jedoch rechtzeitig inne, bevor der Blödsinn seinen Mund verlassen konnte. Wenn Berger mit ihm irgendwo hingehen wollte, sollte er einen Teufel tun, sich dagegen zu wehren.
Also grinste Erik und stopfte die Hände in die Hosentaschen, während er frech nachfragte: „Wo will ich denn hin?“
Berger antwortete nicht sofort, aber Erik war sich dennoch sicher, dass dessen Mundwinkel nach oben zuckten. Sie liefen zunächst weiter, die Straße entlang in Richtung Strand. Je länger das Schweigen anhielt, desto unsicherer wurde Erik, ob er es brechen sollte. Die Gesellschaft war definitiv die erwünschte, aber das hier fühlte sich irgendwie falsch und erzwungen an. Jedes Mal, wenn er zu Berger schielte, verstärkte sich jedoch erneut das Gefühl, als wäre es besser, den Mund zu halten und einfach mitzumachen. Zumindest sah es so aus, als würde Berger allmählich ruhiger werden und die bei der Herberge noch deutlich aggressivere Stimmung sich wandeln. Leider nicht in einer Art und Weise, wie Erik es sich erhoffen würde. Denn statt wütend, wirkte der Mann zunehmend düsterer und bedrückt.
‚Berger braucht ein Ventil‘, dachte Erik bei sich. ‚Irgendetwas, wo er Dampf ablassen konnte.‘
Sonderlich viele Möglichkeiten fielen ihm dafür aber nicht ein. Also sah er belustigt zu Berger und sagte mit einem Lächeln das Erste, was ihm einfiel: „Vielleicht fange ich doch mal das Rauchen an. Soll Leute geben, denen das hilft Stress abzubauen.“
Berger schnaubte und stopfte seinerseits die Hände in die Hosentaschen, während er antwortete: „Die Prüfungen sind vorbei, was haben Sie denn gerade für Stress?“
Weiterhin lächelnd zuckte Erik mit den Schultern: „Ach, eigentlich nicht wirklich. Da ist nur dieser ... Kerl, wissen Sie. So ein blöder Sturkopf, der mich einfach nicht ernst nehmen will. Das stresst ganz schön.“
Diesmal kam von rechts ein Seufzen und Berger zog die linke Hand wieder aus der Tasche, um sich wie so oft durch die Haare zu fahren. Eine Antwort blieb allerdings aus. Dabei hatte Erik bereits das Gefühl gehabt, als würde er womöglich doch ein Stück vorwärtskommen.
„Ich nehme Sie durchaus ernst“, sage Berger irgendwann.
Am liebsten hätte Erik dem Mann ein saloppes ‚Ach ja?‘, an den Kopf geschmissen für den blöden Spruch. Aber der Gedanke, dass Berger es tatsächlich so meinte, hielt ihn davon ab. Stattdessen steigerte sich allmählich das Pochen in Eriks Brust zu einem erneut deutlich rascheren Rhythmus. Schließlich könnte das bedeuten, dass er durchaus Chancen hatte, hier nicht wie ein unreifes Kind behandelt zu werden, sondern wie jemand, der zumindest Potenzial zu einer Beziehung bieten konnte.
„Wenn ich Sie nicht ernst nehmen würde, wären Ihre Eltern schon vor Monaten zu dem gleichen Gespräch geladen worden wie Hannas.“
Erik schluckte und versuchte das Stechen, das sich irgendwo zwischen Bauchbereich und Brust in ihm ausbreitete, zu ignorieren. So hatte er die Sache bisher nie betrachtet. Aber in der Tat hatte Berger im Verlauf des letzten Jahres mehr als nur einmal Grund – und Gelegenheit – gehabt, ihn ans Messer zu liefern. Ein Gespräch mit dem Direktorium und seiner Mutter wäre garantiert nicht sonderlich hilfreich gewesen.
„Danke“, murmelte er.
Dabei war Erik sich nicht einmal sicher, ob er das wirklich war – dankbar. Dafür, dass Berger ihn nicht an den Pranger gestellt und von der Schule hatte werfen lassen? Ganz sicher. Aber sonst? Die letzten Wochen, Monate, diese Fahrt – das alles könnte leichter sein, wenn Berger nicht wäre. Allerdings auch langweiliger. Uninteressant. So dämlich das Kribbeln im Bauch und die Dauergeilheit waren, Erik wollte keines von beidem missen.
Um der schon wieder mieser werdenden Stimmung nicht nachzugeben, fragte Erik noch einmal: „Brauche ich jetzt was zu rauchen, oder wo will ich hin?“
Berger lachte verhalten. „Das ist in der Tat die Frage, nicht wahr?“
„Ob ich Kippen brauche?“
Wieder dieses unterdrückte Lachen, das Berger einfach nicht rausließ. Wie so vieles – jedenfalls wenn es nach der dummen Stimme in Eriks Kopf ging. Dabei war ihm längst klar, dass er wusste, warum Berger nicht offen war. Es nicht sein konnte. Während er selbst weiterhin daran glauben wollte, dass es nur diesen einen Grund dafür gab, dass der Sturkopf ihnen bisher einfach keine echte Chance gab.
Ein Job, ein Beruf, ein Leben. Wenn die Farin anfing Gerüchte zu verbreiten und Berger am Ende tatsächlich bei Frau Fink wegen irgendetwas anschwärzte, könnte das diesen so einiges kosten. Und trotzdem war Erik hier, lief neben Berger, anstatt dass der sich allein beruhigte. Wie viel ihm dieser Vertrauensbeweis wirklich bedeutete, wurde Erik erst nach und nach klar. Blieb jedoch eine offene Frage. Eine, die zunehmend drängender wurde, je weiter sie sich von der Herberge entfernten.
„Warum bin ich hier?“
„Philosophie ist nicht meine Stärke“, gab Berger verhalten zurück. „Religion ebenfalls nicht.“
Da musste Erik lächeln. „Dafür trifft man sie ziemlich oft vor Kirchen an.“
Schon wieder ein zurückhaltendes Lachen, das sich wie eine Löschdecke über das Brennen in Eriks eigenen Bauch zu legen schien. Warum musste dieses ‚Etwas‘ zwischen ihnen derartig kompliziert sein? Wenn er nicht Bergers Schüler wäre, würde der weiterhin zögern? Oder hätte er sich längst mit ihm verabredet?
Das Kribbeln und eine stetig lauter werdende Stimme in Eriks Bauch behauptete, dass sich die Frage nicht stellte – dass sie in diesem Fall schon vor Monaten ausgegangen wären. Womöglich wollte er aber auch nur einfach daran glauben.
Mehr als jemals zuvor.