41 – Uneinsichtiger Sturkopf
Von irgendwoher glaubte Erik ein „Lass los!“, zu hören, aber das war Unsinn. Denn es kam nicht von ihm und welcher Vollidiot sollte ihn auffordern, dass er Berger einfach abstürzen ließ? Wer auch immer sich hinter dieser oft viel zu kalten Schale verbarg, er hatte es sicherlich nicht verdient, dass man ihn einfach fallen ließ.
Trotzdem schaffte Erik es nicht, das Gleichgewicht zu halten. Und so war das Nächste, was ihm bewusst wurde, dass er ebenfalls den Boden unter den Füßen verlor. Vom Fall bemerkte Erik ausgesprochen wenig. Etwas in ihm bestand darauf, sich zu drehen, um auf diese Weise wenigstens einen Teil des von ihm verursachten Sturzes abzufangen. Aber da war zu viel Widerstand. Stattdessen war da mit einem Mal eine Hand, die Eriks eigenen Kopf gegen eine Schulter drückte.
Sein Verstand bestand darauf, dass beides zu Berger gehören musste. Aber das erschien schon wieder reichlich unsinnig, denn Erik hatte diesen Sturz verursacht. Der blöde Lehrer sollte sauer auf ihn sein, ihn von sich stoßen, anstatt Erik zu helfen.
Den Aufprall selbst bemerkte er ebenfalls kaum. Erstaunlicherweise war sich Erik ziemlich sicher, dass er insgesamt sogar deutlich mehr Schmerz verspüren müsste – oder überhaupt welchen. Zumindest war das der erste vollkommen absurde Gedanke, der Erik in dem Moment kam, als das Gefühl zu fallen endete.
Ein Ächzen, Stöhnen, aber nicht von ihm selbst, sondern aus dem Körper unter ihm. Sie rutschten weiter einen Abhang hinab. Eriks Augen waren zusammengekniffen. Immer wieder sagte er sich, er sollte sie öffnen, endlich die Kontrolle über die Situation gewinnen. Aber der Widerstand unter ihm ließ nicht nach.
Jemand zischte vor Schmerz, erneutes Stöhnen. Irrsinnigerweise fühlte es sich so an, als würde der Absturz eine halbe Ewigkeit dauern. Dabei konnten es in der Realität nur wenige Sekundenbruchteile gewesen sein, bis sie endlich zum Stillstand kamen.
Keuchend wartete Erik darauf, dass Überraschung und Schock abklangen und nun doch der Schmerz einsetzte. Aber da war weiterhin nichts. In seinem Kopf schrie eine Stimme danach, dass er verletzt sein musste. Trotzdem war alles, was Erik spürte, ein warmer, stoßweiser Atem an seiner Schläfe, zusammen mit einer Hand, die von seinem Nacken den Hinterkopf hinauf strich.
„Sind Sie ... okay?“, wisperte jemand kaum hörbar unter ihm.
Erst jetzt wurde Erik klar, warum sich der Boden so verflucht weich anfühlte. Die Hand von seinem Hinterkopf glitt kraftlos hinab, während ein weiteres Stöhnen zu hören war, das definitiv nicht von Erik selbst gekommen war.
„Falls ja, wäre es ... hilfreich, wenn Sie ... von mir runtergehen könnten. Zu ... zu schwer ...“
Hastig schlug Erik die Augen auf. „Fuck!“
„Eloquent ... wie immer, Herr ... Hoffmann.“
Mit Mühe stemmte Erik sich mit den Armen nach oben und sah auf Berger hinab. Dessen Augen waren geschlossen, das Gesicht schmerzverzerrt. Mit zusammengepressten Lippen versuchte er offensichtlich dagegen anzukämpfen. Die warme Kribbelblase, die eben noch in Erik aufgestiegen war, verwandelte sich schlagartig in einen festen Knoten, der seine Eingeweide zusammenpresste.
„Herr Berger! Erik! Seid ihr in Ordnung?!“, rief es in dem Moment besorgt von weiter oben.
Hastig hob er den Kopf und sah hoch. Da stand Oliver und sah aus großen Außen zu ihnen hinunter. Weiterhin verwirrte senkte Erik den Blick und sah auf seine Hände. Weder Blut noch irgendwelche Schrammen waren zu sehen. Eine kurze mentale Bestandsaufnahme zeigte, dass er in der Tat keine Schmerzen hatte. Anbetrachts des Abhanges von mindestens drei, womöglich gar vier Metern, an dessen Fuß sie saßen, ausgesprochen erstaunlich, um nicht zu sagen unwahrscheinlich.
Erst jetzt wurde Erik klar, dass er noch immer auf Bergers Schoß hockte. „Scheiße!“, zischte er und sah zu, dass er endlich von seinem Lehrer runterkam. „Mir geht’s gut“, rief Erik gleichzeitig Oliver verspätet zu.
„Sagen Sie den anderen Bescheid, bevor Sie ... auch jemand umrennt“, fügte Berger ächzend hinzu.
Automatisch murmelte Erik eine Entschuldigung. Sein Blick wanderte über den Mann, der weiterhin keuchend neben ihm am Boden lag. Während er wohlgemerkt offensichtlich mit geschlossenen Augen stoßweise nach Atem rang. Die Frage, ob Berger verletzt war, hätte Erik sich sparen können.
Sie rutschte ihm trotzdem heraus. Was Berger zumindest dazu brachte, ein Auge zu öffnen und ihn daraus anzufunkeln.
„Entschuldigung“, murmelte Erik schon wieder automatisch und wandte den Blick ab.
Das schien eine gute Gelegenheit zu sein, sich weiter umzusehen. Kaum zwei Armlängen entfernt, gegenüber vom Abhang, befanden sich auf der anderen Seite neben ihnen einige reichlich dornig aussehende Sträucher. Offenbar hatten sie Glück gehabt, dass sie auf dem schmalen Streifen zwischen Abhang und dem Gestrüpp liegen geblieben waren.
Erik hörte ein weiteres Ächzen hinter sich und drehte sich erneut zu Berger. Der war gerade dabei, sich nach oben zu kämpfen. Die rechte Hand hielt er ungewohnt steif gegen den Bauch gepresst.
„Wie schlimm ist es?“, fragte Erik besorgt.
Auch wenn ihm der Gedanke, dass er für diese Schmerzen verantwortlich war, unangenehm in den Magen schnitt, war das nur umso mehr Grund, dafür zu sorgen, dass er Berger hier rausbrachte. Gegebenenfalls zu einem Arzt. Wobei Erik gleichzeitig bezweifelte, dass der Kerl zugeben würde, dass er verletzt war.
Die Reaktion kam verhalten und gequält: „Nichts gebrochen.“
„Sicher?“ Berger sah ihn entgeistert an. Okay, offensichtlich brauchten sie darüber nicht zu diskutieren.
„Kommen wir durch die Sträucher durch, Herr Berger?“, rief Oliver in dem Moment von oben zu ihnen herunter.
Erik war kurz davor zurück zu fauchen, dass sie sich nach dem beschissenen Wald mit den fiesen Ästchen jetzt ganz sicher nicht durch eine Dornenhecke kämpfen würden, als Berger bereits antwortete: „Vielleicht lassen sich die Büsche runtertreten.“
Sofort zuckte Eriks Kopf wieder nach unten. Entgeistert starrte er Berger an. Sie waren gerade diesen beschissenen Abhang heruntergestürzt, der Mann war offensichtlich verletzt und jetzt wollte der sich auch noch durch dieses Gestrüpp kämpfen?
‚Wozu?!‘
Glücklicherweise zeigte Erik genug Geistesgegenwart, um sich umzusehen, bevor ihm die Frage herausrutschte. Nachdem sein Blick auf das fiel, was hinter dem etwa fünfzehn Meter breiten Streifen Grünzeug befand, war er umso glücklicher darüber. Denn auf der anderen Seite der Dornensträucher lag eine Straße.
Erik musste das Stöhnen zurückhalten, das sich aus seiner Brust quälen wollte. Da drüben war vermutlich genau der Weg, den sie suchten. Jetzt, wo diese dämliche Straße endlich in greifbarer Nähe war, erschien es umso unfairer, dass sie nicht einfach hinüberlaufen konnten. Mit einer Mischung aus Wut und Verachtung betrachtete Erik die verdammten Dornensträucher vor ihm. Beinahe hüfthoch erschienen sie auf den ersten Blick nicht wirklich abschreckend. Auf den zweiten waren da jedoch recht große Dornen zu erkennen, die verflucht wehtun würden.
Langsam drehte Erik den Kopf ein Stück zur Seite, sodass er Berger aus dem Augenwinkel sehen konnte. Der sah zunächst aus, als wollte er etwas umständlich den Rucksack von den Schultern ziehen. Tatsächlich schob er jedoch den rechten Arm vorsichtig halb durch den Schultergurt, sodass dieser den Arm gegen seinen Körper gepresst fixierte. Die zusammengepressten Lippen und verengten Augen schienen immer mehr darauf hinzudeuten, dass Berger sich in der Tat bei dem Sturz verletzt hatte. Misstrauisch beobachtete Erik, wie der Sturkopf sich anschließend auf die Beine kämpfte.
„Was ist mit Ihrem Arm?“
„Nichts weiter“, kam es sofort murrend zurück.
Eriks Augen verengten sich, als sie Berger folgten, der inzwischen auf die Dornensträucher zutrat. „Sieht nicht nach ‚nichts‘ aus für mich.“
„Nur ein Kratzer.“
Auch das war garantiert weit untertrieben. Also blickte Erik diesmal genauer hin. Aber mit dem Arm im Schultergurt war die eigentliche Verletzung nur schwer zu erkennen. Trotzdem war Erik sich sicher, dass er ein paar rote Spuren am Ärmel sehen konnte. Prompt krampfte sich sein Magen weiter zusammen. Die Handkante sah ebenfalls blutig aus. Wie die Handfläche aussah, wollte er lieber gar nicht erst wissen.
„Es wäre besser, das wenigstens sauber zu machen“, murmelte Erik – hatte aber wenig Hoffnung, dass der Sturkopf das zugeben würde.
„Ist nichts weiter“, sagte Berger prompt erwartungsgemäß.
Mit einem zunehmend unangenehmen Gefühl im Bauch betrachtete Erik den an der Seite reichlich ramponierten Rucksack. Bei dem Gedanken, dass statt des festen Stoffes Bergers Hemd am Rücken aufgerissen worden wäre, drehte sich ihm schon wieder der Magen um.
„Das ist meine Schuld ...“
„Nein, ist es nicht“, antwortete Berger sofort. Als Erik aufsah, funkelten ihn diese verdammten grünen Augen schon wieder an – weiterhin nicht wütend oder böse, eher belustigt. „Ich habe nicht aufgepasst und Sie nicht rechtzeitig gewarnt.“
‚Will der Kerl hier etwa die Schuld übernehmen?‘
Eriks Augen verengten sich. „Ich hab Sie umgerannt. Und deshalb sind Sie verletzt.“
Den Part, dass Berger auch noch den Sturz für ihn abgefangen hatte, unterschlug Erik – obwohl er ihm nur zu bewusst war. Beschützt von einem Kerl, der nicht nur deutlich kleiner, sondern auch noch lockere zehn bis fünfzehn Kilo leichter sein dürfte.
‚Versager!‘, tönte es bereits in Eriks Kopf und zog das Band um seine Eingeweide fester. Das war nicht richtig so. Er müsste verletzt sein, nicht Berger. Nicht weil er größer und kräftiger war. Nicht einmal, weil er den Sturz verursacht hatte. Nein, schlicht und ergreifend, weil die Schürfwunden an der Hand vermutlich verdammt wehtaten, aber garantiert weniger schmerzhaft waren als das Messer, das sich Erik gerade in den Bauch rammte.
Berger lächelte jedoch nur zurück, während er antwortete: „Hören Sie auf. Da drüben ist unser Ziel. Schuldige zu suchen bringt uns nicht dorthin.“ Damit schien die Diskussion von seiner Seite aus beendet, denn schon trat der Kerl erneut auf die Büsche zu.
Sofort schoss Eriks Hand herauf und packte Berger am Arm, um ihn zurückzuhalten. „Sie haben doch jetzt wohl nicht vor, da durchzulaufen?“, fragte er entrüstet darüber, dass der Kerl die eigene Verletzung einfach so zu ignorieren schien. Der kalte und emotionslose Blick sollte Erik eigentlich nicht mehr überraschen. Trotzdem fuhr ihm ein Schauer über den Rücken. „Haben Sie die Dornen nicht gesehen?“
„Es ist der kürzeste Weg“, antwortete Berger gelassen und deutete mit dem Kinn zur Straße auf der anderen Seite des Grabens. „Dort drüben ist der Abhang nicht so hoch, da kann man sicherlich raufklettern.“
Die Selbstverständlichkeit, mit der Berger sich aus seinem Griff löste und nach der ersten Pflanze trat, um zu prüfen, wie gut er sie niedertrampeln konnte, war für Erik nicht begreifbar. Klar, er konnte ebenfalls sehen, dass ihr verfluchtes Ziel quasi in Reichweite lag. Aber an dem Gestrüpp dort drüben würden sie sich am Ende noch die Beine aufreißen. Also hielt er Berger erneut auf.
„Irgendwo ist dieser beschissene Graben vielleicht nicht mit Dornensträuchern gefüllt“, fauchte Erik wütend.
„Ich bin müde“, meinte Berger und senkte seinen Blick für einen Sekundenbruchteil auf die rechte Hand, die er weiter gegen seinen Bauch gepresst hielt. „Wir können in einer halben Stunde dort drüben sein. Besser als stundenlang herumzuirren.“
Danach stand Erik selbst auch nicht gerade der Sinn, aber bevor er antworten konnte, waren von oben erneut Stimmen zu hören. Oliver und Mirek riefen lautstark nach hinten, dass die Leute dort endlich aufhören sollten zu drängeln.
„Hier vorn geht’s grad nicht weiter, jetzt wartet gefälligst mal ab!“, schrie Oliver über die Schulter in Richtung Wald.
„Es ist keine Zeit mehr“, schnaubte Berger und zog den Arm aus Eriks Griff.
Erneut trat er auf einige Pflanzen. Die schienen sich zwar zunächst etwas zu sträuben, ließen sich aber runtertreten. Als Nächstes nahm Berger sich die Pflanze daneben vor, um den potenziellen Weg zu verbreitern. Etwas in Eriks Magen zog sich zusammen, während sein Blick erneut an der blutigen, gegen den Bauch gepressten Hand hing. Als Berger mit einem Mal kurz schwankte, zuckte Eriks Arm ein weiteres Mal vor. Doch da hatte der Sturkopf sich bereits gefasst und trat keuchend den nächsten Busch hinunter.
„Sie sind verletzt. Lassen Sie mich das machen und setzen Sie sich lieber hin“, zischte er, allmählich genervt von der Dickköpfigkeit, die ihm hier entgegenschlug.
Bergers Augen zuckten zu Eriks eigenen nackten Unterschenkeln, bevor der Kerl ihm wieder ins Gesicht sah. „Nein.“
Ohne Erik noch eines weiteren Blickes zu würdigen, arbeitete Berger sich Zentimeter für Zentimeter vorwärts. Alles, was ihm selbst blieb, war hinter dem Sturkopf zu stehen. Ein Teil von Erik hoffte, dass das angenehme Flattern zurückkehren würde, das ihn den Vormittag über immer wieder begleitet hatte. Aber stattdessen war da nur das unangenehme Ziehen in seinem Bauch, das ihm sagte, hier lief etwas falsch.
‚Lässt dich retten wie die Jungfrau in Nöten, du Weichei!‘, flüsterte es in Eriks Kopf und verstärkte damit das Ziehen im Bauch.
In diesem Moment stockte Berger und presste den rechten Arm fester gegen seine Seite. Ein Laut war jedoch nicht zu hören. Trotzdem war Erik sich sicher, dass es hätte da sein müssen – ein schmerzhaftes Zischen, das Berger krampfhaft zu unterdrücken schien.
‚Das reicht!‘
Entschlossen trat Erik die zwei Meter, die Berger sich bisher vorgearbeitet hatte, an diesen heran und zog ihn an der linken Schulter herum. Schon wieder dieser undeutbare Ausdruck. Als würde es den Kerl nicht einmal interessieren, dass er bereits verletzt war und auf der anderen Seite dieses beschissenen Grabens noch schlimmer aussehen würde. Von dem mit einem Mal umso deutlicher hervorstechenden Striemen auf der linken Wange mal abgesehen, war da mindestens ein verletzter rechter Arm.
‚Weil er den Sturz für dich abgefangen hat, Prinzesschen.‘ Eriks Kiefer schmerzte, so fest pressten sich seine Zähne aufeinander.
„Ich mach das“, sagte er leise, aber entschieden und zog Berger ein Stück weiter zu der Seite, auf der sie abgestürzt waren. Sein Blick wanderte zu Oliver hinauf. „Komm runter und mach dich nützlich.“
Einen Moment schien der zu zögern, dann zuckten seine Mundwinkel nach oben und er nickte. „Hey Lucky, pass auf, dass die hinten nicht zu weit vordrängeln, damit keiner abstürzt.“
Berger ließ sich die Bevormundung natürlich nicht gefallen – jedenfalls nicht lange. Und so standen sie kurz darauf zu dritt zwischen den beschissenen Dornensträuchern und trampelten diese auf einer Breite von etwa einem Meter runter. Als Oliver keifend und fauchend nach weiterer Unterstützung rief, kamen auch Mirek und Luca herunter. Trotz aller Bemühungen ließ Berger sich aber nicht davon abbringen mitzuhelfen. Also sagte Erik irgendwann nichts mehr dazu – weigerte sich allerdings ebenso, von dessen Seite zu weichen.
‚Der sture Esel wird schon noch merken, dass du genauso ein Dickkopf sein kannst.‘
Ein Grinsen huschte über Eriks Lippen bei dem Gedanken. Er würde nicht aufgeben. Weder hier noch wenn es um diesen blöden Sturkopf da drüben ging. Und obwohl Berger sich standhaft dagegen wehrte – da war etwas. An immer mehr Stellen in diesem verfickten Schutzpanzer, den Berger um sich erschaffen hatte, tauchten Risse auf.
Da war Erik sich absolut sicher.
✑
Es dauerte vermutlich nicht einmal zwanzig Minuten, bis sie die andere Seite des verdammten Grabens erreicht hatten. Einige weitere Jungen hatten sich ihnen angeschlossen, sodass Berger dazu übergegangen war, lediglich grob einen Teil der Sträucher niederzutrampeln, damit überhaupt so etwas wie ein Weg erkennbar war. Daran anschließend traten Erik und die anderen Jungen den Rest herunter.
Zunächst hatte Erik zu erneutem Protest angesetzt. Aber Bergers wütender Blick und dessen Ermahnung, dass er im Gegensatz zu den Schülern keine kurzen Hosen trug, hatten Erik verstummen lassen. Irgendwo hatte der sture Bock ja recht. Berger hatte heute wieder eine Jeans an und die bot gegen die verdammten Sträucher wenigstens ansatzweise etwas Schutz.
Der Moment, als Erik sich auf der anderen Seite die deutlich kleinere Anhöhe nach oben stemmte, fühlte sich besser an, als jeder verfluchte Sieg, den er im Sport errungen hatte. Für eine Sekunde kniete Erik dort und atmete tief durch, bevor er sich zur Seite drehte. Aber entgegen seiner Erwartung war Berger nicht da.
Verwirrte sah Erik über die Schulter in den Graben. Anstatt endlich hier raufzukommen und sich auszuruhen, deutete Berger in diesem Moment auf einige der Sträucher und wies ein paar der Jungen hinter ihm an, den Weg an dieser Stelle zu verbreitern.
„Und geben Sie dem Rest der Gruppe Bescheid, dass sie nicht so drängeln sollen. Wir können keine Verletzten gebrauchen.“
Erik schnaubte und schüttelte den Kopf. Der Kerl war echt unglaublich. „Wir sind alle keine Kinder mehr. Lassen Sie es gut sein“, rief er Berger murrend zu. „Und wenn Sie jetzt sagen, dass wir immer noch ihre Schüler sind, komm ich da runter und hau Ihnen eine rein.“
Als Berger nicht reagierte, sondern weiter Anweisungen gab, war Erik in der Tat kurz davor, seine Drohung wahr zu machen. Neben ihm schwangen sich schließlich immer mehr von ihnen den brusthohen Absatz auf dieser Seite nach oben oder halfen den nachfolgenden hinauf.
Die meisten brachen allerdings zugegeben ein paar Meter weiter irgendwo mitten auf der Straße förmlich zusammen und legten sich keuchend und stöhnend auf den Rücken. Etwas, das Erik in diesem Augenblick auch gern gemacht hätte. Stattdessen starrte er wütend auf Bergers verdammten Hinterkopf. Eben hatte der Kerl getönt, dass er müde wäre, und trotzdem stand er weiterhin dort unten, anstatt sich endlich auszuruhen. Schon hatte Erik den Mund geöffnet, um den sturen Esel erneut anzufauchen, als er dessen kurzen Seitenblick bemerkte.
‚War das Unsicherheit?‘
Nein, unmöglich. Berger würde doch nie im Leben Schwäche zeigen. Schließlich hatte er während des ganzen Schuljahres immer Oberwasser gehabt. Jeder kuschte vor ihm, völlig ungeachtet möglicher körperlicher Überlegenheiten.
Traf auf Erik ebenso zu. Weil da irgendwas an Berger war, vor dem man einfach Respekt haben musste. Obwohl Erik nicht hätte sagen können, was zum Geier das war. Trotzdem stellte gerade das einen Teil der Faszination dar, die dieser sture Esel da unten ausübte.
Mit einem Mal war Erik klar, warum Berger noch immer im Graben stand. ‚Er kommt mit nur einem Arm hier nicht rauf. Und er wird vor keinem von denen eine Schwäche zugeben.‘
Aber so einfach wollte Erik Berger nicht davonkommen lassen. Also lehnte er sich ein Stück weiter vor und streckte diesem eine Hand entgegen: „Kommen Sie rauf.“
Grüne Augen starrten ihn für eine Sekunde an. Lange genug, dass Erik glaubte, eine Spur Zweifel darin zu entdecken. Prompt begann das Herz in seiner Brust wieder schneller zu schlagen, während das Ziehen im Bauch sich in ein Flattern verwandelte. Aber schon konnte Erik sehen, dass Berger kurz davor stand, ihn abzuweisen.
„Na los. Ein Zwerg wie Sie kommt doch hier nicht alleine hoch.“
Okay, es war frech. Und nicht mal wahr, denn mit an die einen Meter achtzig war Berger nun wirklich kein Zwerg. Und der dämliche Abhang für diesen somit ebenfalls nur ungefähr brusthoch. Trotzdem schien es zu wirken, denn Erik war sich sicher, dass da die Mundwinkel belustigt zuckten.
Und tatsächlich streckte sich kurz darauf eine linke Hand zu ihm hinauf. „Falsche Seite“, gab Berger grinsend zurück, als sich das etwas ungünstig zu Eriks weiterhin ausgestreckten Rechten erwies.
Die Tatsache, dass der Sturkopf sich überhaupt dazu herabließ, auf sein Angebot einzugehen, ließ das Flattern in Eriks Bauch aber schon wieder stärker werden. Also ergriff er stattdessen Bergers Hand mit der Linken und zog mit einem kräftigen Ruck daran. Kurz darauf standen sie nebeneinander und Erik kam nicht umhin, eine geradezu kindische Freude darüber zu empfinden.
‚Immerhin hast du in zwanzig Jahren was zu erzählen von dieser bescheuerten Fahrt‘, sagte Erik sich und konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
„Amüsieren Sie sich?“, fragte Berger neben ihm.
Grinsend zuckte Erik mit den Schultern. „Besser als die letzten Tage.“
Da war schon wieder ein Zucken um Bergers Mundwinkel herum, das vielleicht tatsächlich ein Grinsen hätte sein können. Aber das zeigte der dumme Kerl natürlich nicht offen. Stattdessen murmelte er kaum hörbar: „Merkwürdige Vorstellung von Spaß haben Sie da.“