57 – Falsche Anschuldigung
Selbst wenn Frau Farin erneut versucht hätte, ihn vom Gehen abzuhalten, wäre Erik nicht mehr stehen geblieben. Über die Folgen, die das womöglich haben mochte, dachte er nicht einmal nach. Stattdessen rannte Erik, so schnell er konnte, weiter hinter Berger her. Dabei achtete er nicht wirklich auf die Umgebung. Glücklicherweise war der Verkehr, kaum dass er die Hauptstraße verlief nicht sonderlich groß, sodass er nicht Gefahr lief, vom Auto überfahren zu werden, bevor er Berger eingeholt hatte. Da der Sturkopf sowieso nicht auf ihn hören würde, verzichtete Erik darauf, diesem zuzurufen, dass er auf ihn warten sollte. Das führte allerdings dazu, dass Berger erschrocken einen Schritt beiseite sprang, als Erik plötzlich neben ihm auftauchte.
„Was zum Teufel ...“, zischte er wütend, bevor er sich direkt wieder unter Kontrolle hatte. Prompt folgte auch schon die erwartete Aufforderung: „Gehen Sie zurück!“
„Vergessen Sie es“, antwortete Erik lediglich.
Berger grummelte zwar zunächst etwas vor sich hin, verzichtete aber auf weitere Kommentare. Sah so aus, als würde er allmählich verstehen, dass er gegen Eriks eigenen Dickkopf in diesem Fall nicht ankommen würde. Schweigend liefen sie weiter, den Weg zurück in Richtung Park. In den Gassen war es inzwischen deutlich ruhiger geworden. Um sicherzugehen, dass die beiden Mädchen sich nicht irgendwo hier in der Nähe aufhielten, sahen sie sich zunächst in den umliegenden Gassen um. Aber natürlich fanden sie die zwei nicht.
„Verdammt“, zischte Berger und sah auf die Uhr am Handy.
Obwohl sie sich beeilt hatten, waren inzwischen fast zwanzig Minuten vergangen, wie Erik nach einem Blick auf das eigene Handy feststellte.
„Kein Anruf?“, fragte er trotzdem in Richtung Berger.
Der schüttelte schweigend den Kopf und deutete zu dem Weg, der in den Park führen würde. Dort ging es zu dem Café, in dem sie am Nachmittag mit den beiden Mädchen gewesen waren. Während sie zügigen Schrittes dem Weg folgten, wandte Berger sich Erik schließlich doch zu.
„Was ist vorhin passiert?“, fragte er noch einmal nach.
„Nichts.“
Berger schnaubte und schüttelte den Kopf. „Das ist nicht der Zeitpunkt für Spiele. Weder für Sie noch für Hanna. Die anderen warten, und wenn den beiden Mädchen etwas passiert ...“
„Dann sind Sie nicht daran schuld“, zischte Erik wütend zurück.
„Es geht nicht um Schuldzuweisungen.“
„Doch, genau darum geht es!“ Erik hielt an und wartete, bis Berger das ebenfalls tat. „Hanna hat Scheiße gebaut. So einfach.“
„Erik ...“
„Nein!“, schrie er wütend zurück. Bergers Lippen waren nur noch ein schmaler Streifen. Erik konnte zur Abwechslung nur zu gut sehen, wie es in dem Dickschädel arbeitete. „Hören Sie auf, sie in Schutz zu nehmen! Wir wissen beide, dass sie sich gestern nicht den Fuß verstaucht hat. Hanna hat Sie einfach diesen beschissenen Hügel hochrennen lassen, obwohl die blöde Kuh ganz genau wusste, dass Sie verletzt sind und ein Gewitter aufzog. Das ist schlichtweg mies. Und dafür tragen Sie nicht die Schuld, sondern Hanna!“
„Was gestern war hat nichts ... damit zu tun, dass ...“
Wieder unterbrach Erik Bergers zunehmend zögerlichen Versuch, für Hannas untragbares Verhalten die Verantwortung zu übernehmen: „Doch, es hat jede Menge damit zu tun. Sie hat sich garantiert nicht verlaufen. Weder Hanna noch Alina sind so dämlich, dass sie Maps nicht verwenden können. Zumal Sie uns den Weg ja extra erklärt hatten. Dass sie nicht am Bus auftaucht, soll doch nur wieder dafür sorgen, dass Sie als Retter angerannt kommen.“
„Wenn den beiden irgendetwas passiert, wird Hannas Absicht vollkommen irrelevant sein“, widersprach Berger.
Erik biss die Zähne zusammen. Da er nicht antwortete, setzten sich sie kurz darauf erneut in Richtung Café in Bewegung. Ihm war natürlich klar, dass sie die zwei Mädchen nicht zurücklassen konnten. Und dabei war es absolut unerheblich, dass Berger sich als ihr Lehrer verpflichtet sah, weiterhin auf sie aufzupassen. Trotzdem kam Erik nicht umhin, Hanna für dieses weitere absolut kindische Verhalten die Pest an den Hals zu wünschen.
‚So viel dazu, dass ihr erwachsen seid ...‘
Von den eigenen Gedanken beleidigt, schob Erik die Hände in die Hosentaschen. Wenn Hanna sich nicht dermaßen affig aufführen würde, müssten sie nicht durch diesen Park irren. Sein Blick wanderte für einen Sekundenbruchteil nach links. Der Sturkopf schwieg. Die übliche Maske war an Ort und Stelle, Erik sich allerdings verdammt sicher, dass Berger sauer auf ihn war.
Was auch immer Hanna mit dieser beschissenen Aktion vorhaben mochte, Erik würde nicht zulassen, dass ihr dämlicher Plan aufging. In den Hosentaschen ballte er seine Hände zu Fäusten. Diesmal würde Erik dafür sorgen, dass Hanna endgültig klar wurde, dass sie mit diesem Scheiß nicht durchkam. Wenn Berger nichts sagte, würde das eben Erik selbst erledigen müssen.
Wenige Minuten später erreichten sie das Café. Aber auch dort waren die beiden Mädchen nicht zu finden. Berger sprach mit dem Kellner. Der überlegte einen Moment, schüttelte aber schließlich den Kopf.
„Sie waren nicht noch einmal hier?“, fragte Erik trotzdem nach.
„Nein. Sieht nicht so aus.“
Berger seufzte und fuhr sich durch die Haare. Ein weiteres Mal zog er das Handy aus der Hosentasche und prüfte die Uhrzeit. Als Erik ebenfalls darauf schielte, konnte er sehen, dass sie inzwischen bei bald vierzig Minuten waren. Eher beiläufig stellte er fest, dass nicht nur weder Nachricht noch Anruf verpasst worden waren, sondern Bergers Sperrbildschirm zusätzlich ausgesprochen nichtssagend war.
‚Wenigstens kein Foto von irgendeinem Lover oder Ex‘, dachte Erik bei sich und wandte sich wieder ab.
„Wo sind die beiden lang nach Ihrem Streit?“
Erik zögerte zunächst, schalt sich aber umgehend selbst dafür. Es war kindisch, Informationen zurückzuhalten, nur weil er Hanna zunehmend weniger leiden konnte. Außerdem hatten sie hier wohl beide das gleiche Ziel: Die Mädchen aufspüren und danach zurück zum Bus, damit der Tag endlich ein Ende fand. Er überlegte und sah sich kurz um. Mit dem Zeigefinger deutete Erik in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
„Da lang, so wie Sie gesagt hatten, als sie uns den Weg zum Bus beschrieben haben.“
Berger schien nicht überzeugt. „Sicher?“, hakte er erneut nach.
Entrüstet hob Erik die Arme, als er antwortete: „Der Weg führt an diesem Laden nur vorbei. Ich bin durchaus in der Lage, links und rechts zu unterscheiden.“
Das Grinsen, das über Bergers Lippen huschte, schaffte es, ein kurzes Kribbeln in Eriks Bauch heraufzubeschwören. Dabei war das vermutlich der unpassendste Augenblick dafür.
„Vielleicht sind sie den langen Weg zurück und unterwegs noch ein bisschen shoppen“, schlug Erik halbherzig vor.
„Shoppen?“
Berger lachte – ehrlich und verstärkte damit das Kribbeln in Eriks Bauch. Je länger das nachfolgende Grinsen anhielt, desto mehr spürte er allerdings, wie ihm die Scham den Nacken hochkroch.
„In Filmen gehen die Frauen ständig Klamotten kaufen, wenn sie frustriert sind“, murmelte Erik verlegen, weil er im Grunde nicht die geringste Idee hatte, wovon er da sprach.
Ein weiteres, nicht mal wirklich verhaltenes Lachen neben ihm. Diesmal musste Erik ebenfalls grinsen. Diese Seite kannte er bei Berger sonst nicht, aber sie gefiel ihm noch besser als der Rest. Immerhin stand dem Kerl das Lachen ausgesprochen gut. Obwohl Erik es überhaupt nicht mochte, dass letztendlich Hanna – oder besser gesagt deren Abwesenheit – zu diesem Gespräch hier geführt hatte. Der Gedanke versetzte Erik entsprechend einen winzigen Stich – irgendwo auf Brusthöhe. Es erinnerte ihn wieder einmal daran, dass Berger diese Seite normalerweise nicht zeigte. Und das war ein ausgesprochen bedrückender Gedanke.
„Herr Berger!“
Eriks Kopf schnellte nach oben, als er überrascht versuchte herauszufinden, wo die Stimme herkam. Lange suchen musste er nicht, denn Alina kam ihnen von rechts entgegen.
„Doch die andere Richtung“, murmelte Berger neben ihm.
Erik verkniff sich einen Kommentar. Er war sich absolut sicher, dass er sich nicht geirrt hatte. Alina und Hanna waren am Nachmittag garantiert in die andere Richtung verschwunden. Aber offensichtlich hatten sie irgendwann, nachdem Erik und Berger weg waren, umgedreht und waren zurückgelaufen.
‚Sie hat sich hier versteckt, um auf ihn zu warten.‘
„Wo ist Hanna?“, fragte Berger, sobald Alina sie erreicht hatte.
Die stockte einen Moment. Unsicher sah sie zunächst zu Erik, dann zurück zu ihrem Lehrer. Der Blick gefiel ihm nicht. Irgendetwas war hier im Argen. Eben war da noch dieses angenehme Kribbeln in seinem Inneren gewesen, jetzt wurde das wieder einmal zu einem unangenehmen Ziehen und Stechen.
„Sie ...“, setzte Alina an und sah dabei unsicher in Eriks Richtung. Zögerlicher als bereits zuvor fuhr sie fort: „Sie ist noch dort hinten.“
Sofort stieg die Wut in ihm auf. Was sollte das denn jetzt? Erik hatte damit gerechnet, dass Hanna irgendwelchen Mist abziehen wollte, aber das hier war allmählich lächerlich. Da waren sie schon extra hergelaufen, um sie zu holen, und die blöde Pute rannte immer weiter weg.
„Was soll der Scheiß?“, fauchte Erik entsprechend angepisst. „Hol sie gefälligst her. Die anderen warten seit bald einer Stunde am Bus und sie führt sich hier auf wie ein trotziges Kleinkind!“
Alinas Blick blieb kritisch. Die Art und Weise, wie sie dabei den Mund verzog, gefiel Erik gar nicht. Zwar hatte er nicht den Eindruck, sie würde Hannas Verhalten gutheißen, trotzdem unternahm sie offensichtlich weiterhin nichts dagegen. Zumindest setzte Alina sich nicht wie gefordert in Bewegung, um ihre Freundin endlich zu holen.
„Sie sagt, sie traut sich nicht“, fuhr Alina stattdessen verhalten fort.
Diesmal war es Berger, der antwortete: „Warum das denn?“
Ein weiterer, beinahe ängstlicher Blick in Eriks Richtung. Allmählich wurde das hier lächerlich. Er schnaubte und setzte zu einem Kommentar an, da fuhr Alina bereits fort: „Sie hat wohl Angst, dass Erik sie ... schlagen würde ... oder so.“
„Wie bitte?!“, fauchte er inzwischen mehr als nur angepisst. Sichtlich erschrocken, zuckte Alina zurück. Erik musste sich auf die Zunge beißen, damit er in deutlich gemäßigterem Tonfall fortfahren konnte: „Das ist lächerlich. Schließlich war es Hanna, die vorhin zugelangt hat und nicht ich!“
„Wo ist sie?“, fragte Berger, statt auf die Bemerkung einzugehen.
Alina deutete den Weg entlang, den sie gekommen war. „Ein Stück weiter dort lang führt ein Weg nach rechts weg. Da ist sie reingelaufen.“
Berger seufzte und sah endlich wieder zu Erik. „Gehen Sie beide schon einmal zurück in Richtung Bus. Ich hole Hanna und wir kommen nach.“
‚Der glaubt ihr das doch nicht etwa?‘
Der Knoten, der sich in Eriks Eingeweiden formte, war ausgesprochen schmerzhaft. Berger würde doch nicht ernsthaft annehmen, dass er Hanna oder Alina etwas getan hatte, was diesen Irrsinn rechtfertigen konnte? Erik schluckte und versuchte, an Bergers Gesichtsausdruck zu erkennen, was der tatsächlich darüber dachte, aber es war unmöglich. Und das nicht nur, weil der Kerl Erik nicht einmal wirklich ansah.
Verdammt! Die Situation fing immer deutlicher an, ihm zu entgleiten. Letzte Nacht hatte es sich so angefühlt, als wäre da irgendetwas gewesen. Und obwohl ihre Gespräche am heutigen Tag nicht unbedingt in die Richtung gelaufen waren, die er sich ausgemalt hatte, hatte es ich trotzdem nach Fortschritt angefühlt. Es hatte Momente gegeben, da hatte es so ausgesehen, als würde Berger womöglich auftauen.
„Sie glauben diesen Scheiß doch nicht etwa, oder?“, presste Erik heiser heraus.
Mit einem kurzen Lächeln schüttelte Berger einmal den Kopf. Keine wirkliche Bestätigung, aber genug, dass der Stein, der sich in Eriks Inneren geformt hatte, krachend zu Boden schlug. Die Erleichterung, die sich in ihm ausbreitete, war trotz der anhaltenden Zweifel beinahe greifbar.
„Die anderen warten“, fuhr Berger jedoch fort. „Wir reden später darüber.“
„Ich hab sie nicht angerührt.“
„Das weiß ich.“
Trotz der Bestätigung war da kein Lächeln, nicht einmal im Ansatz. Und das reichte nicht aus, um den letzten Funken Zweifel zu beseitigen. Aber der Druck in Eriks Brust nahm dennoch nicht wieder zu. Immerhin hatte Berger gesagt, sie würden später darüber reden. Reden klang gut – wobei Erik ein Thema bevorzugt hätte, in dem Hanna keine Rolle spielte.
„Bringen Sie Alina zum Bus“, wiederholte Berger und machte sich auf den Weg.
Einen Moment sah Erik ihm unsicher hinterher. Der Gedanken, Berger alleine gehen zu lassen, gefiel ihm nicht – erst recht angesichts der Tatsache, dass der ausgerechnet zu Hanna wollte. Ein Blick zur Seite offenbarte Alina, die noch immer reichlich nervös aussah.
„Wir ... sollten gehen?“
Erik runzelte die Stirn. „Ist das eine Frage oder eine Feststellung?“
Alina schluckte und sah sich daraufhin um, als würde sie erwarten, dass jeden Moment jemand hier auftauchte.
‚Ja. Hoffentlich Berger mit Hanna, damit dieses Theater wenigstens für heute endlich ein Ende findet.‘
Seufzend schüttelte Erik den Kopf und wandte sich in Richtung Bus. Alina folgte wortlos. Je weiter sie liefen, desto stärker rumorte es jedoch in Eriks Bauch. Ein ungutes Gefühl, das er nicht wirklich in Worte fassen konnte. Manche hätten es womöglich ‚Vorahnung‘ genannt, aber mit solchem Unsinn hatte er sich nie befasst und nie daran geglaubt.
Erik hielt an und drehte sich wieder um. Wenn Hanna nur ein paar Meter entfernt gewesen war, warum folgten sie und Berger ihnen dann nicht inzwischen? Der Druck in Eriks Brust wuchs weiter an. Hanna täuschte vielleicht einen verstauchten Fuß vor und machte einen auf Jungfrau in Nöten, damit Berger sie abholte, aber sie würde ihm ja wohl kaum etwas tun. Immerhin schien sie ja in ihn verknallt zu sein.
„Abgewiesene Frauen können verdammt gefährlich werden.“
Erik schluckte. Das war doch idiotisch. Hanna würde Berger sicherlich nichts tun. Je mehr er versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, desto lauter konnte Erik jedoch Sophies Worte in seinem Kopf hören. Wie eine Endlosschleife wiederholten sie sich immer wieder und wurden dabei stetig lauter.
Aus dem Augenwinkel sah Erik zu Alina, die nervös an ihrer Strickjacke herumzog, aber ebenfalls stehen geblieben war. Kaum hatte sie seinen starren Blick bemerkt, sank sie noch mehr in sich zusammen, sah aus, als wollte sie am liebsten wegrennen. Immer wieder zuckten ihre Augen dabei in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Wieso zum Teufel war Alina so nervös? Sie war doch bei dem Streit mit Hanna dabei gewesen. Sie hatte selbst gesehen, dass Eri nichts getan hatte. Immerhin war er es, der die Ohrfeige kassiert hatte und nicht Hanna. Es gab also überhaupt keinen Grund dafür, dass eine von beiden Angst vor ihm hatte.
‚Irgendetwas stimmt hier nicht!‘
In der Sekunde, in der Erik auf Alina zutrat, flüchtete die prompt zwei Schritte zurück. Etwas verkrampfte sich in ihm. Was zum Teufel war hier los?
„Du erzählst mir jetzt ganz genau, was passiert ist“, zischte Erik Alina mit gepresster Stimme an.
Obwohl er es ungern zugab, musste er Alina zumindest geben, dass sie nur kurz zögerte. Ob es Angst oder Vernunft war, die sie dazu brachte, Erik alles zu erzählen, würde er aber wohl nie mit Sicherheit klären können. Zumal sich dann immer noch die Frage stellen würde, ob es Angst vor ihm oder Hanna war, die sie dazu trieb.
„Wir sind in die Stadt gelaufen. Den Weg, wie Herr Berger ihn erklärt hatte. Nach eurem Streit war sie unheimlich ... aufgebracht“, fing Alina zögerlich an. Ihre Augen zuckten weiterhin zwischen dem Weg und Erik hin und her. „Sie hat gesagt, du ... würdest Berger nachschleichen und ihm ... auflauern, um ihn ... Na ja ... Also ...“
Erik zog zischend die Luft ein, während er darum kämpfte, Alina nicht anzuschnauzen. Hier gab es eindeutig nur eine Schuldige und das war zweifellos Hanna. Was aber am meisten verletzte, war die grausame Wahrheit, dass da vor ein paar Monaten genau dieser beschissene Gedanke tatsächlich in Eriks krankem Hirn aufgekommen war.
Um Alina nicht noch weiter zu verschrecken, schluckte er die Wut herunter und murmelte: „Da scheint sie was zu vertauschen.“ Nervös fuhr Erik sich durch die Haare und bedeutete ihr, fortzufahren. „Was ist danach passiert?“
„Irgendwann meinte sie, sie würde sich Sorgen machen, weil wir Herrn Berger mit dir alleine gelassen haben.“
Erik musste die Augen schließen, um nicht erneut auszurasten. Das hier dauerte ohnehin schon viel zu lange. Er sah den Weg zurück, den sie gekommen waren. Weshalb waren Berger und Hanna weitehrin nicht da?
Ein stückweit war Erik stolz, dass er es schaffte, ruhig zu bleiben, als er fragte: „Willst du mir ernsthaft weismachen, dass du diesen Scheiß geglaubt hast?“
Er musste Alina zugutehalten, dass sie einigermaßen geknickt aussah. Eine Antwort bekam er nicht. Trotzdem war ihnen garantiert beiden klar, wie sie gelautet hätte.
„Ich weiß nicht, was mit ihr los ist“, flüsterte Alina stattdessen. „So ist Hanna sonst nicht. Sie war stinksauer und ... hat sich da wohl ... in irgendwas reingesteigert.“
Weiterhin kein Berger oder Hanna, die ihnen entgegenkamen. Zu hören war auch nichts. „Wie weit ist diese Abzweigung denn entfernt?“, fragte er murmelnd, ohne tatsächlich mit einer Antwort zu rechnen.
„Nicht weit“, antwortete Alina trotzdem darauf. „Vielleicht ein- oder zweihundert Meter vom Café.“
Erik runzelte die Stirn. „Warum sind sie dann nicht zurück?“
Der Blick zu Alina gab keinen Aufschluss. Wenigstens wirkte sie nicht mehr so nervös und ängstlich. Vielleicht hatte sie verstanden, dass dieses Getue bei Erik nicht ziehen würde – womöglich auch nur endlich kapiert, dass Hanna ihr einen Haufen Schwachsinn erzählt hatte. So oder so würde es für Erik keinen Unterschied machen. Deutlich interessanter blieb die Frage, warum Berger und Hanna immer noch nicht aufgetaucht waren. Das ungute Gefühl in Eriks Magen wurde mit jeder verstreichenden Sekunde stärker.
‚Warum stehst du dann hier noch rum?‘, fragte Erik sich selbst.
In seiner Brust begann das Hämmern erneut, als ihm klar wurde, dass er hier seine Zeit verschwendete, anstatt das einzuhalten, was er Berger großspurig versprochen hatte. Erik fuhr sich mit der Hand über die müden Augen und atmete einmal tief durch, damit sein Verstand wieder klar wurde. Das Letzte, was Erik gebrauchen konnte, war, dass er Hannas Behauptungen bestätigte, indem er Hals über Kopf losstürmte und sich wie die Axt im Wald benahm. Andererseits hallten da ebenso Sophies Worte durch seinen Geist.
„Du hast genau drei Möglichkeiten, Alina“, sagte Erik mit rauer Stimme. „Entweder du gehst jetzt zum Bus, bleibst alleine hier stehen oder du kommst mit mir mit.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, rannte Erik los – in die Richtung, aus der Berger längst hätte zurückkommen müssen. Der Klang seiner Turnschuhe auf dem asphaltierten Weg war leise. Trotzdem hatte Erik das Gefühl, als würde er mit jedem Schritt lauter werden. Je mehr er versuchte, den Gedanken daran, dass Hanna tatsächlich nicht nur irgendeine eine jämmerliche Mitleidsmasche abziehen könnte, desto stärker wurde er. Erik brauchte Gewissheit.
Während er zwischen hastigen Atemzügen den Blick nach links und rechts schweifen ließ, versuchte Erik sich immer wieder zu sagen, dass es keinen Grund zur Sorge gab. Ein kurzer Blick über die Schulter, aber Alina konnte er nicht sehen. Für einen Moment setzte das schlechte Gewissen bei Erik ein. Immerhin hatte Berger ihm aufgetragen, auf Alina aufzupassen. Allerdings hatte er dem Dickkopf letzte Nacht noch etwas ganz anderes versprochen – und heute Nachmittag quasi erneut. In Eriks Augen wog dieses Versprechen deutlich mehr.
Wie Alina gesagt hatte, kam etwa zweihundert Meter vom Café entfernt auf der rechten Seite eine Abzweigung. Da Erik niemanden hören konnte und Berger und Hanna auch hier nicht zu sehen waren, beschleunigte er ein weiteres Mal seine Schritte. An der Stelle, wo der Pfad sich teilte, hielt Erik an und sah beide Wege entlang. Niemand war zu sehen.
„Verdammt!“, zischte Erik erbost.
Sich einzureden, dass Hanna bloß dumme Spielchen spielte, wurde zunehmend schwerer. Wieder konnte er Sophies Warnung hören, wie sie sich in seinem Kopf ein ums andere Mal wiederholte. Erik biss sich auf die Unterlippe und sah sich um, aber natürlich änderte das nichts an den Tatsachen. Er stand hier alleine, mit diesem beschissenen Brennen in der Brust und der zunehmend bedrückender werdenden Erkenntnis, dass er schon wieder dabei war zu versagen.
‚Wenn Berger irgendwas passiert, wird Hanna das büßen!‘
Erik fluchte leise. Wo zum Teufel sollte er jetzt lang? Falls er den falschen Weg nahm und die beiden verpasste, würde Berger ihm die Haut abziehen, weil er einen weiteren verloren gegangenen Schüler suchen musste. Und ganz sicher wollte Erik sich nicht auf Hannas Niveau hinabbegeben.
‚Vernünftig wäre, entweder zum Bus zu gehen oder hier zu warten, bis sie kommen.‘
Als etwas seine Wange streifte, sah Erik sich zunächst irritiert um. Schnell wurde ihm klar, dass es ein Wassertropfen war. Immer mehr trafen sein Gesicht und den Kopf. Mit einem Stöhnen sah Erik zum zunehmend dunkler werdenden Himmel. Als ob er nicht schon genug Probleme hätte. Musste es jetzt auch noch anfangen zu regnen? Hoffentlich wurde daraus nicht genauso ein Gewitter wie am Vortag.