32 – Unschöne Nähe
Berger hatte sich wieder zu dem alten Mann vorgearbeitet, der die Führung offenbar übernehmen würde. Zumindest sah es so aus, als ob Berger mit dem Alten irgendwas besprechen würde. Selbst wenn Erik Französisch verstehen würde, war es viel zu laut, um hören zu können, was gesagt wurde. Also sah er sich stattdessen weiter um.
Dummerweise gab es nichts, das Eriks Aufmerksamkeit auch nur für eine Sekunde auf sich ziehen konnte. Jedenfalls wenn man von dem schwarzen Haarschopf absah, der sich weiter vorn den Gang entlang bewegte. Wobei es weniger der daran befestigte Mann an sich war, der Eriks Puls wie so oft in die Höhe trieb, sondern die Frau, die mit einem Mal direkt neben Berger stand. Zu nah. Genau wie der französische Schleimbeutel auf der Promenade vom Vorabend.
Na gut, nicht ganz so nah, aber viel fehlte nicht. Ein Knirschen war zu hören und lenkte Erik für eine Sekunde von dem Anblick ab. Jedenfalls bis ihm klar wurde, dass es die eigenen Zähne waren, die da knirschten und dass sein Kiefer sich allmählich schmerzhaft zusammenpresste.
‚Reiß dich zusammen!‘, ermahnte Erik sich mal wieder.
Glücklicherweise ging kurz darauf die Führung endlich los. Und natürlich war Berger ganz vorn – mit Hanna. Nicht mehr viel und die hing ihrem Lehrer am Arm. In Eriks Bauch tobte es immer stärker. Wenn er das machen würde, gäbe es reihenweise dämliche Kommentare. Aber bei einer Frau sagte natürlich niemand was. Erik wandte den Blick ab und wartete, bis Berger samt Anhang um die erste Ecke verschwunden waren, bevor er sich dem Ende der Gruppe anschloss. Wenigstens musste er den Mist so nicht die ganze Zeit sehen.
War allerdings auch gar nicht notwendig, denn der weiterhin im Arschlochmodus befindliche Quälgeist versorgte Erik mit ausreichend imaginärem Bildmaterial. Im Gegensatz zum sonst üblichen Kopfkino waren das jedoch eher Horrorfilme. Eine Sparte, auf die Erik so gar nicht stand. Dafür war er zunehmend versucht, einfach abzuhauen. Vielleicht würde das ja Berger auf den Plan rufen. Der konnte ihn dann suchen und zusammenstauchen. Weil Erik mal wieder nicht gehört und sich vor allem nicht an die beschissene zehn Meter Regel gehalten hatte.
„Als ob“, murmelte Erik kaum hörbar.
Sie kamen in einen Kellerraum, in dem sich links und rechts des Ganges mehrere riesige Fässer befanden. Der ältere Herr erzählte irgendetwas auf Französisch, das Berger anschließend lautstark für den Teil der Gruppe übersetzte, die wie Erik keinen Plan hatten, was der Mann sagte.
Wenigstens für diese paar Minuten hielten Hanna und ihre Weiber etwas Abstand. Kaum wurde die Führung fortgesetzt, hingen sie aber schon wieder wie die Kletten an Berger. Und so ging es bei jeder Station weiter. Sie hielten an, warteten auf die Nachzügler – zu denen ausnahmsweise nicht Erik gehörte. Dann erklärte der Alte irgendwas, was Berger übersetzte und vermutlich niemanden so wirklich interessierte.
Mit jedem Mal, dass Hanna ihrem Lehrer auf die Pelle rückte, sah der für Erik aus, als würde er sich zunehmend unwohler zu fühlen. Vielleicht war das nur seine eigene Einbildung. Womöglich auch Wunschdenken. Trotzdem konnte Erik sich das wütende Zähneknirschen kaum verkneifen.
Noch vor zwei Tagen hätte Erik es wahrscheinlich sogar amüsant gefunden, dass Berger wegen der blöden Mädchen miese Laune hatte. Dummerweise wollte die Schadenfreude nun nicht kommen.
Nachdem Erik sich erst vor ein paar Stunden eingestanden hatte, dass er durchaus mehr als nur körperliches Interesse an dem Kerl haben könnte, wollte er ganz sicher keine Frau an Bergers Arm hängen sehen.
„Ich bin immer noch Ihr Lehrer“, hörte Erik Bergers Stimme in seinem Kopf.
‚Na und?‘, entgegnete er mental mit der Frage, die Erik dem Blödmann im Schwimmbad hätte stellen sollen. Bevor der ihn da am Beckenrand hatte stehenlassen. Aber natürlich hatte er da kein vernünftiges Wort rausbekommen.
Wütend über sich selbst und auf Berger sah Erik zu dem hinüber, als sie wieder stoppten. Erneut übersetzte ihr Lehrer, was der Alte sagte und ein weiteres Mal rückte Hanna ihm danach auf die Pelle. Berger trat prompt einen Schritt beiseite und steckte die Hände in die Hosentaschen. Mit gesenktem Blick folgte er anschließend dem Alten weiter den Gang entlang.
Alles an Berger strahlte Ablehnung aus, aber entweder Hanna bemerkte es nicht, oder es interessierte sie nicht. Erik setzte gerade an, der Gruppe zu folgen, als ihn ein Blick traf. Einer, mit dem er nicht gerechnet hatte. Prompt beschleunigte sich sein Herzschlag.
‚Hat die blöde Kuh dich eben angegrinst?!‘
Erik musste ein überraschtes Keuchen unterdrücken. Das konnte nicht sein. Und trotzdem hatte er keinen Zweifel daran, dass Hanna nicht nur eben gegen Bergers Rücken gedrängelt hatte. Nein, sie hatte sich umgedreht. Und ja, Erik war sich absolut sicher, dass sie seinen eigenen Blick förmlich gesucht hatte, bevor dieses beschissene Grinsen auf ihrem Gesicht gewesen war.
Glücklicherweise dauerte der Rundgang danach nicht mehr lange und sie kamen endlich zum hoffentlich deutlich angenehmeren Teil des Abends – der Verkostung. Viel schlimmer konnte es schließlich nicht mehr werden. Ein kurzer Blick auf die Uhr am Handy zeigte Erik, dass es inzwischen tatsächlich bereits deutlich nach acht Uhr war, als der alte Mann sie in einen weiteren Kellerraum führte. Dort waren mehrere aus großen Fässern zusammengezimmerte Tische, um die jeweils vier ebenfalls aus Holz gefertigte Hochstühle herumstanden.
Die Schüler verteilten sich recht schnell in Gruppen an die verschiedenen Tische. Eriks Blick wanderte direkt zu Berger. Der hatte sich offenbar von Hanna loseisen können und saß stattdessen mit den beiden Lehrerinnen an einem Tisch. Dort war noch ein Platz frei. Ganz so unverfroren, sich da hinzusetzen und seinerseits Hanna anzugrinsen war Erik aber leider nicht. Also suchte er sich einen anderen, freien Stuhl.
Von da hatte er allerdings einen direkten Blick zu Berger, wie Erik prompt feststellte, als er den Kopf hob. Mit gewohnt ausdruckslosem Gesicht sah Berger zurück. Damit öffnete sich in Eriks Inneren einmal mehr das unerklärliche Loch, das sich anfühlte, als wollte es alles von ihm verschlingen. Das Gefühl hatte er inzwischen mehrmals an diesem Tag gehabt. Genau dann, wenn Erik in seinem Kopf diese beschissenen sechs Worte hörte: „Ich bin immer noch Ihr Lehrer.“
„Wann gibt’s endlich etwas zu trinken?“, rief irgendjemand. Zur Abwechslung war der Idiot auch nicht Sandro. Der stimmte aber prompt zu. Weitere Hälse recken sich in die Höhe und suchten nach dem älteren Herrn, der sie hierher geführt hatte.
Dieser kam auch tatsächlich kurz darauf zurück, brachte zusammen mit einer Frau allerdings zunächst nur Tabletts mit Essen. Brot, Wurst, Käse – alles reichlich. So ganz unglücklich war Erik darüber nicht, denn kaum hatte er einen Blick auf die Tabletts geworfen, knurrte sein Magen. Zwei weitere Frauen kamen herein, die Tonkrüge brachten und neben dem Essen platzierten.
Als die Ersten die auf dem Tisch stehenden Gläser füllten, mussten sie jedoch enttäuscht feststellen, dass das nur Wasser war. Natürlich ging das Gemaule direkt erneut los. Nachdem Erik einen kurzen Blick zu Berger riskierte, war von dem aber vorerst wohl kein Einspruch zu erwarten. Ein weiteres Mal war der Mann von drei Mädchen umlagert. Etwas zum Saufen klang mit einem Mal ausgesprochen hilfreich.
Glücklicherweise schickte Frau Farin die Schülerinnen vorerst an ihren eigenen Tisch zurück. Je länger sie mit Brot und Wasser abgespeist wurden, desto lauter erklangen derweil die Rufe nach Alkohol. Da halfen auch Bergers harsche Worte, dass sie sich gefälligst wie Erwachsene benehmen sollten, rein gar nichts. Die Leute saßen auf dem Trockenen und konnten sich hier nicht gerade mit einer Party von dieser Tatsache ablenken.
‚Welcher Idiot hatte die Idee mit der Weinprobe?‘, fragte Erik sich spontan und sah sich um.
Einige aus dem Kurs versuchten beruhigend auf den Rest der Chaoten einzuwirken. Bei Damian und Alina war Erik sich ziemlich sicher, dass die in der Gruppe gewesen waren, die die Planung für ihre Reise übernommen hatten. Wer da für welchen Ausflug verantwortlich gewesen war, erklärte das aber nicht.
Erik beobachtete das Ganze mit möglichst wenig Anteilnahme, während er lustlos ein paar Stücke Brot und Käse in den Mund schob. Abgesehen von dem weiterhin knurrenden Magen, lenkte das Essen ebenfalls vom fehlenden Alkohol ab. Und von dem Blödmann von Lehrer, bei dem schon wieder eine seiner Mitschülerinnen stand. Diesmal war es wenigstens nicht Hanna. Machte den Anblick aber nur minimal besser.
Endlich wurde das Rufen der Affenbande erhört und der Alte brachte zusammen mit den drei Frauen den ersten Wein. Sie erklärten etwas dazu und Berger übersetzte. Erik ignorierte sowohl Lehrer als auch den Alten und wartete stattdessen darauf, dass die anderen drei an seinem Tisch sich endlich eingegossen hatten, damit er auch etwas bekam.
Zögerlich nippte Erik an dem Wein – nur um festzustellen, dass es seinen Grund hatte, warum er sich von dem Zeug normalerweise fernhielt. Ein Weißwein, allerdings sehr trocken. Lecker war anders. Jedenfalls für Erik. Alternativen gab es aber nicht, also nippte er weiter an dem Wein. Glücklicherweise hatte er sich nicht sonderlich viel eingeschenkt. Vielleicht wäre die nächste Sorte ja schon eher sein Geschmack.
Aus Mangel an Alternativen und weil er ganz sicher nicht ständig zu Berger starren und dessen kühlen Blick ertragen wollte, nippte Erik weiterhin an seinem Glas und stopfte sich zwischendurch mit Brot voll. Das half zumindest gegen das Brennen im Magen. Der Wein war definitiv nicht seins. Als das Glas endlich leer war, schüttete er ein weiteres mit Wasser hinterher.
‚Such schon einmal die Toiletten, wenn das so weitergeht‘, sagte er sich selbst und hob prüfend den Kopf, um genau das zu tun.
Zwar entdeckte Erik in der Tat ein kleines Schild unterhalb der Decke, das die entsprechende Richtung wies. Leider sah er bei diesem Rundumblick aber auch, dass sich schon wieder eine Traube aus Schülerinnen um ihre Lehrer geschart hatte. Irgendjemand war sogar so frech gewesen und hatte zwei weitere Tische dazugestellt. Das muntere Geplauder, Lachen und Gegrinse drehte Erik den Magen um. War aber vielleicht auch der Wein. So ganz sicher war er sich nicht.
‚Letztendlich egal‘, versuchte er sich verzweifelt einzureden.
Jetzt, wo er die Katastrophe einmal gesehen hatte, schaffte Erik es natürlich nicht, einfach wegzusehen. Ehrlicherweise gab es auch nicht wirklich viele andere Sachen, die man in diesem blöden Keller ansehen konnte. Linkerhand versuchte Sandro mit Ines zu turteln. Etwas weiter daneben saß Sophie mit ein paar Freundinnen und amüsierte sich. Zumindest sah die Erik zur Abwechslung nicht schon wieder so komisch an. Das würde sich aber garantiert ändern, wenn er jetzt seinerseits anfangen würde, zu Sophie zu starren. Also drehte Erik den Kopf weiter. Womit er dummerweise eben direkt wieder bei Berger und dem Fanklub landete.
‚Verdammter Mist!‘
Die Mädchen gackerten weiter. Sie versuchten, mit Berger anzustoßen. Der das zwar mit dem gleichen höflichen Lächeln wie immer mitmachte, aber nach Eriks Dafürhalten nicht begeistert aussah. Wenn der Kerl keinen Bock drauf hatte, warum sagte er das nicht einfach?
Missmutig starrte Erik weiter, konnte sich nicht abwenden, egal wie oft er sich sagte, dass es irre war, sich diesen Anblick anzutun. Als Hanna schon wieder mit ihrem Glas deutlich zu nah neben Berger stand, wurde das Ziehen in Eriks Bauch ein weiteres Mal stärker – genau wie der Schmerz in seinem zusammengepressten Kiefer. Das war nicht fair. Die durfte dort stehen und machen, was sie wollte, während Erik nichts anderes tun konnte, als hier zu hocken und zuzusehen.
Nicht, dass er unbedingt in aller Öffentlichkeit mit Berger anstoßen wollte. Jedenfalls keine Gläser. Das glucksende Lachen, das Erik entkam, hatte hoffentlich niemand gehört. Die verbliebenen zwei an seinem Tisch schienen aber gerade andere Dinge deutlich interessanter zu finden. Vorwiegend einander.
Wieder lugte Erik zu Hanna, was dem beschissenen Gefühl in seinen Innereien neue Wucht verlieh. Wenn er als Mann irgendjemandem derartig auf die Pelle rücken würde, wäre das garantiert gleich sexuelle Belästigung. Berger ertrug es jedoch weiterhin stoisch. Mit diesem verfluchten Lächeln, das Erik den Magen noch ein Stück weiter umdrehte, weil es schlichtweg falsch war. Wenn sogar er das sehen konnte, wieso sahen es die anderen nicht? Es musste doch irgendjemand auffallen, dass Berger aussah, als wollte er am liebsten weglaufen. Oder bildete Erik sich das nur ein?
Mit einem Mal erinnerte er sich an den Tag, als Herr Darian das erste Mal die Abschlussfahrt erwähnt hatte. Damals war Erik noch so wütend auf Berger gewesen, dass er sich über diesen beschissenen Anblick heute gefreut hätte. Die Aussicht, seinen Lehrer damit zu diskreditieren, dass er sich angeblich an einem Schüler vergriffen hatte, wäre für den Erik von damals ein Hochgefühl gewesen.
Dem von heute wurde schlagartig speiübel.
Hastig sprang Erik auf und versuchte, einigermaßen gesittet durch den Raum in Richtung der Toiletten zu kommen. Glücklicherweise achtete niemand weiter auf ihn. Kaum hatte er die Toilettentür hinter sich geschlossen, ebbte der Würgereiz zum Glück bereits ab. Trotzdem nahm Erik sich ein paar Minuten, um wieder runterzukommen, bevor er zum Waschbecken trat. Etwas kaltes Wasser im Gesicht half zusätzlich, die Gedanken von eben zurückzudrängen.
„Krankes Arschloch“, zischte Erik sein eigenes Spiegelbild an, während er über das Waschbecken gelehnt sich selbst ins Gesicht starrte.
Berger hatte ihn oft genug gereizt und das eine oder andere Mal garantiert mit ihm gespielt. Aber gut ein dreiviertel Jahr später konnte Erik nicht mehr verstehen, was für ein Mensch er selbst damals gewesen war. Diese Wut, der Hass. Es erschien ihm vollkommen fremd. Als wäre das nicht er, sondern jemand anderer gewesen. Ein ziemlich kranker Mistkerl obendrein.
‚Genau wie dein Vater.‘
Eriks Magen zog sich zusammen, als er daran dachte, dass Berger sich selbst so einem Irren als Opfer dargeboten hatte. Um zu beweisen, dass da ein guter Mensch drinnen steckte. Was, wenn der Kerl sich geirrt hätte? Wenn Erik eben keinen Anstand gehabt, sondern genauso ein gewalttätiges Arschloch wäre, wie sein Vater?
Das Einzige, was Erik selbst von diesem Mistkerl unterschied, war eben doch genau der Anstand, der ihn zu so einem verklemmten Idioten machte. Einem, der Mathis den anonymen Fick verweigerte, weil er sich lieber der Selbstfolter eines beständig heiß und kalt brennenden Berger aussetzte. Dieser ‚Anstand‘ war am Ende alles, was Erik davon abhielt, sich das zu holen, was er wollte – und davor schütze ein mieses Arschloch zu werden, wie sein Vater es war.
„Fuck“, keuchte Erik und spürte erneut, wie sein Magen rebellierte.
Irgendwie musste er den Scheiß aus dem Kopf bekommen. Es machte keinen Unterschied. Erik war inzwischen selbst überzeugt, dass er sich als besserer Mensch bewiesen hatte. Genauso wie er erkannt hatte, dass Berger ebenfalls kein Arschloch war. Ein Blödmann. Wahrscheinlich. Vielleicht. Manchmal. Jemand, der Erik am langen Arm zappeln und verdursten ließ. Trotzdem bekam er den Kerl nicht aus dem Kopf.
Noch einmal drehte Erik das kalte Wasser auf und spritzte es sich ins Gesicht. Genau in dem Moment ging die Tür auf und einer seiner Mitschüler kam herein. Der stockte kurz, bevor er schließlich doch zum Pissoir rüberging. Um nicht weiter aufzufallen, richtete Erik sich auf und verschwand wieder zurück zur Verkostung.
Scheinbar war in der Zeit seiner Abwesenheit der nächste Wein serviert worden. Erik zögerte einen Moment. Als er aus Richtung des Lehrertisches aber erneut Gelächter hörte, schenkte er sich doch wieder etwas ein. Irgendwie musste Erik sich ja ablenken, von dem, was dort drüben vor sich ging.
‚Nicht darüber nachdenken.‘
Der zweite Wein war deutlich besser. Nicht ganz so trocken, dafür mit einer etwas fruchtigen Note. Da die anderen drei von seinem Tisch sich inzwischen alle verkrümelt hatten, war die Flasche bisher unangetastet. Deshalb schenkte Erik sich, nachdem die ersten vorsichtigen Schlucke auf Gegenliebe getroffen waren, direkt noch einmal nach.
Der sinnlose Versuch, Hanna und die anderen neben Berger zu ignorieren, scheiterte natürlich gnadenlos. Egal wie oft Erik sich ermahnte, es nicht zu tun, sein Blick wanderte immer wieder zu den Lehrern hinüber. Nicht einmal das beschissene falsche Lächeln schien es noch auf Bergers Lippen zu schaffen. Ganz anders als am Vorabend.
‚Vielleicht wird Berger auch einmal lockerer, wenn die Weiber ihn ausreichend abfüllen.‘
Ein zaghaftes Lächeln huschte über Eriks eigene Lippen. Der Gedanke war verführerisch und den Anblick dort drüben zumindest etwas erträglicher. Erst recht, da er selbst genau wusste, dass die Weiber ohnehin auf Granit beißen würden. Denn garantiert würde Berger keine von denen abschleppen. Egal wie besoffen er war. Nachdenklich runzelte Erik die Stirn.
‚Würde er doch nicht, oder?‘
Berger hatte sich am Vorabend von dem gegelten Franzosen schamlos anmachen lassen. Der hatte schon fast die Finger in Bergers Hose gehabt. Irgendwie hatte Erik seit diesem beschissenen letzten Unterrichtstag den Eindruck erlangt, als würde Berger ihn herausfordern – ein Spiel spielen, das keiner von ihnen gewinnen konnte. Aber das alles würde bedeuten, dass Berger auf Männer stand. Oder nicht?
Erik rieb sich die Augen. Seine Gedanken fühlten sich irgendwie langsamer an. Dort wo sonst das Chaos tobte, herrschte zwar nicht gerade Ordnung, aber es erschien, als wäre sein Kopf im Zeitlupenmodus gefangen. Einen Moment sah Erik kritisch auf den Wein. Von nicht einmal einem vollen Glas konnte das ganz sicher nicht kommen. Bei Bier ertrug er erfahrungsgemäß so einiges. Und wie es sich anfühlte, wenn er besoffen war, hatte Erik ja vor fast einem Jahr zuletzt erfahren dürfen. Das hier war definitiv anders.
‚Scheiße ...‘
Irgendwo hinter Eriks Schläfe begann ein Kopfschmerz sich zu bilden. Er griff nach einem unbenutzten Glas und goss es voll mit Wasser. Er sollte aufhören mit dem Wein. Bei dem Chaos, das ohnehin meistens in Eriks Kopf herrschte, war es vermutlich so oder so eine total bescheuerte Idee, da unkontrolliert Alkohol hinzuzufügen.
Hastig schüttete Erik das Glas Wasser in einem Zug hinunter. In dem verzweifelten Versuch, die wirren Gedanken aus dem Kopf zu drängen, schloss er die Augen und atmete einen Moment lang tief ein und aus. Als Erik diese wieder öffnete, fiel sein Blick jedoch erneut zu Berger und der stetig größer werdenden Traube um den herum.
Mindestens die Hälfte aller anwesenden Frauen saßen oder standen inzwischen dort zusammen. Planeten, die um ihre Sonne kreisten. Da hob Berger den Kopf und für eine Sekunde dachte Erik, dass der Kerl geradezu verzweifelt direkt zu ihm hinüberblickte. Aber natürlich war das nur eingebildet. Denn prompt runzelte Berger die Stirn und sah wieder weg. Sollte Erik selbst vermutlich auch machen. Wegsehen. Weggehen. Hauptsache ‚weg‘.
Denn ‚Schöntrinken‘ konnte man sich diese Scheiße hier grad echt nicht mehr. Na ja, man konnte es aber wohl zumindest versuchen.