65 – Ungewisse Suche
Die Idee Javor und den beiden anderen Idioten zu folgen, erschien am Anfang recht vernünftig. Erik war sich schließlich nicht grundlos sicher gewesen, dass die drei nicht auf ihn achten würden. Und letztendlich war genau das passiert.
Dummerweise setzte das Trio sich aber auch nicht vom Rest des Kurses ab, sondern trabten zusammen mit allen anderen wie dumme Schafe der verdammten Herde hinterher in Richtung Strand. Da die beiden Lehrerinnen ebenfalls in Sichtweite blieben – und das auch noch direkt hinter Erik – hatte er bisher keine Chance gehabt, sich unbemerkt davonschleichen zu können. Um offensichtlichen Ärger zu vermeiden, blieb Erik also zunächst bei den anderen.
Deshalb saß er allerdings halb elf noch immer am Strand fest und beobachtete missmutig, wie der Rest des Kurses sich wahlweise in die Wellen stürzte – oder gut gelaunt im Sand lag. Erik hatte nicht einmal eines von den verdammten Büchern eingepackt, die er ja eigentlich für genau diese Gelegenheit mitgenommen hatte. Davon, dass er weder Handtuch noch Badesachen dabei hatte, ganz zu schweigen.
War jedoch alles reichlich unerheblich, denn auf irgendwelche Texte hätte Erik sich im Augenblick ohnehin nicht konzentrieren können. Der Drang, hier abzuhauen, egal ob das Ärger geben würde oder nicht, wurde mit jeder verstreichenden Minute größer.
Erik saß hier entsprechend nicht nur untätig wie ein Volltrottel in T-Shirt und Shorts. Sondern kämpfte nebenbei auch noch mit sich selbst und der Entscheidung, ob er alle Regeln in den Wind schießen und einfach verschwinden sollte, oder darauf vertraute, dass Berger jeden Moment auftauchen musste.
Aus dem Augenwinkel sah Erik zu den beiden Lehrerinnen, die sich weiterhin nicht die geringsten Sorgen um ihren Kollegen zu machen schienen. Waren die wirklich so naiv oder ging ihnen Berger am Arsch vorbei?
Im Grunde sollte es Erik egal sein, was die beiden dachten. Er war erwachsen. Was wollten sie tun, wenn er einfach aufstand, um zu verschwinden? Aber letztendlich war es weniger der Ärger, der ihm selbst drohte, der Erik davon abhielt zu gehen. Die Farin hatte Berger bereits wegen Hanna und deren weniger schönen Annäherungen Probleme gemacht.
„Weder hat er ein Problem, noch ist er eins. Oder macht welche.“
Es dauerte einen Moment, bis Erik sich daran erinnerte, wo er den Satz gehört hatte. Berger hatte das bei dem Telefonat mit Frau Fink in der Sonntagnacht gesagt. Inzwischen war Erik sich ziemlich sicher, dass Berger dabei über ihn gesprochen hatte. Na gut, vielleicht stellte das auch nur eine Hoffnung seinerseits dar. Schließlich würde das nicht nur heißen, dass Berger in ihm nicht den Problemschüler sah, sondern auch dass er Erik vor Frau Fink in Schutz genommen hatte.
„Und dass sie von den Hausaufgaben weiß“, murmelte Erik leise vor sich hin und lenkte den Blick wieder auf das Meer zurück.
Zum ersten Mal wurde ihm klar, dass Berger ihn womöglich nicht nur durch bloßes Schweigen in Schutz genommen hatte. Trotz des ganzen Mists, den Erik ihm geschrieben hatte. Wenn Frau Fink davon wusste, hieß das ebenso, dass Berger mit ihr darüber gesprochen hatte.
Schlagartig war Erik sich nicht mehr sicher, was er davon halten sollte. Auf der einen Seite war da ein angenehmes Kribbeln bei dem Gedanken, dass Berger ihn in Schutz genommen, sogar verteidigt hatte. Auf der anderen Seite wäre es ausgesprochen peinlich, wenn Frau Fink dieses Zeug wirklich gelesen hätte.
‚Bestimmt nicht!‘, beharrte eine geradezu verzweifelt klingende Stimme in Eriks Kopf.
Scheiße! Im Grunde wollte er die Antwort auf diese Frage nicht einmal wissen. Erik war nicht von der Schule geflogen und seine Mutter musste nicht für ein Gespräch antanzen. Berger hatte ihn geschützt. Das war im Grunde alles, was zählte. Nein, nicht ganz, denn im Augenblick war der Sturkopf nicht da – dafür pfiff es schon wieder ausgesprochen unangenehm durch das schwarze Loch in seiner Brust.
Warum mussten die auch alle hier am Strand abhängen? Nicht einer von den Idioten aus seinem Kurs hatte sich bisher erbarmt in die Stadt zu gehen, damit Erik unauffällig folgen konnte.
Für einige jämmerliche Augenblicke hatte er sogar überlegt gehabt, Sophie oder Mirek darum zu bitten, mit ihm von hier zu verschwinden. Aber die saßen in unmittelbarer Nähe zu Hanna. Erik würde auf keinen Fall riskieren, dass die auch noch mitkommen wollte.
Alles nur wegen dieser lächerlichen Regel, dass sie nicht alleine herumlaufen sollten. Sie waren schließlich volljährig und keine Kinder mehr, die sich bei der erstbesten Gelegenheit verlaufen würde.
Bei dem Gedanken fiel Erik leider prompt ein, dass genau das am vergangenen Sonntag passiert war. Mit einem genervten Stöhnen ließ er den Kopf auf die angezogenen Knie sinken.
Irgendwie musste er hier endlich verschwinden. Nicht nur, um Berger zu finden, sondern auch um sich von diesen verdammten Bildern abzulenken, die schon wieder in ihm aufstiegen.
Erik hob den Kopf und sah sich um. Sie waren alle hier. Fast so, als würden sie sich gegen ihn verschwören. Er hätte, verdammt noch einmal, im Augenblick sogar in Kauf genommen, wenn er Sandro hinterherschleichen müsste. Eriks Blick wanderte weiter, blieb diesmal an Sophie und Mirek hängen.
Wieder drängte es ihn danach, zu den beiden rüber zu gehen und sie zu fragen, ob sie ihm helfen würden, von hier wegzukommen. Wenn Erik ihnen erklärte, dass er in die Stadt wollte und etwas zu erledigen hatte, würden sie ihn vielleicht begleiten. Wenigstens für ein Stück. Danach könnte er sich absetzen und nach Berger suchen. Und in dieser irrwitzigen Vorstellung würden weder Sophie noch Mirek deshalb Fragen stellen.
‚Naiver Idiot!‘, schalt Erik sich selbst. ‚Hanna wird direkt aufspringen.‘
Wobei Erik nicht sicher war, ob Sophie nach der Ansage vom Vortag überhaupt noch mit ihm reden würde. Davon, wie viel Konversation zwischen Mirek und Erik in den letzten Monaten stattgefunden hatte, brauchte er gar nicht erst anfangen.
Die Sorge um Berger brannte jedoch weiter und wurde allmählich zu viel, sodass er nach dem Rucksack griff und aufstand. Natürlich bemerkte Frau Farin ihn prompt und stand ebenfalls auf.
Erik ignorierte sie und lief in Richtung der Mauer, die den Strandabschnitt von der Promenade trennte. Wenn er die Farin nicht beachtete, würde sie hier hoffentlich keine Szene machen. Dass er auf solche Hoffnungen nicht viel geben sollte, hätte Erik er vielleicht in den letzten Tagen lernen sollen. In manchen Punkten war er allerdings reichlich lernresistent, wie es aussah.
„Sie kennen doch die Regeln, Herr Hoffmann“, rief die Farin ihm auch schon hinterher und stapfte eilig durch den Sand auf Erik zu. „Niemand geht alleine.“
„Ich hab Durst und brauch was zu trinken“, gab er lapidar zurück und setzte seinen Weg fort.
„Sie gehen nicht alleine!“
„Hey, Erik. Wie fühlt man sich als Kleinkind?“, tönte es auch schon über den Strand.
Am liebsten hätte Erik sich umgedreht und Sandro für den bescheuerten Spruch eine reingehauen. Aber das wäre kindisch. Und albern. Nicht zu vergessen, ausgesprochen dämlich. Also ignorierte Erik den Affenkönig – was nicht so schwer war, wie er vor ein paar Monaten noch behauptet hätte.
„Sie bleiben hier!“, zischte die Farin erneut und baute sich diesmal direkt vor Erik auf.
Er musste sich beherrschen, um sie nicht beiseitezuschieben oder ihr etwas an den Kopf zu werfen, das Erik später bereuen würde. Also beschränkte er sich auf ein relativ lahmes: „Sonst was?“
„Sonst ...“, setzte die Farin an, kam aber nicht weiter, denn in dem Moment kamen Pavel und Javor, zwei Jungen aus seinem Kurs lachend an ihnen vorbei.
„Hey, was zum Trinken klingt gut, wir kommen mit“, bemerkten sie und liefen weiter.
Erik grinste Frau Farin breit an. „Sehen Sie. Nicht allein. Und tschüss.“
Damit ließ er sie stehen und folgte seinen beiden Mitschülern. Dass die das garantiert nicht getan hatten, um ihm einen Gefallen zu tun, war Erik durchaus bewusst. Aber das spielte keine Rolle. Er wollte hier weg. Die beiden waren sein Ticket dafür.
Über die Schulter hinweg blickte Erik noch einmal zu Frau Farin, die ihn wütend anfunkelte, aber nichts sagte. Solange er sich an die Regeln hielt, konnte sie ihn schließlich nicht aufhalten. Und was danach kam, spielte im Moment keine Rolle.
Zu dritt liefen sie zur Promenade hinauf und wandten sich dort nach rechts. Erik trottete den anderen eher hinterher. Um sicherzugehen, dass seine Abwesenheit nicht sofort auffallen würde, folgte er den beiden bis zum Supermarkt.
„Ihr braucht nicht auf mich zu warten, ich komme später nach“, rief Erik mit einem breiten Lächeln, während die beiden direkt in Richtung der Getränkeabteilung verschwanden.
Die zwei Jungen winkten Erik nur über die Schulter hinweg zu und waren kurz darauf schon lachend verschwunden. Manchmal hatte es definitiv Vorteile, wenn einen niemand beachtete und sich keiner für einen interessierte.
Bevor einem der beiden doch noch einfiel, was die Farin vor ihrem Aufbruch gesagt hatte, machte Erik auf dem Absatz kehrt und verschwand aus dem Supermarkt. Um nicht Gefahr zu laufen, dass ihn jemand von den anderen entdeckte, hastete Erik zunächst ein Stück weiter am Strand entlang – fort von der Stelle, an der die übrigen Schüler lagen.
Sobald die nächste Seitengasse auf der linken Seite von der Promenade wegführte, bog Erik ab und verlangsamte seine Schritte. Obwohl er sich nicht gerade verausgabt hatte, hämmerte es in seiner Brust gewaltig. Aufregung breitete sich in ihm aus. Eine Mischung aus Sorge um Berger, aber auch dem Kick des Verbotenen. Denn obwohl es lächerlich klang, Erik brach hier gerade genau die zwei Regeln, die einem gewissen Lehrer offensichtlich sehr wichtig gewesen waren.
‚Wo steckt Herr Nicht-Weiter-Als-Zehn-Meter-Entfernt denn selbst?‘
Gute Frage. Eine, der Erik plante, möglichst schnell auf den Grund zu gehen. Hastig zog er sein Handy aus der Tasche und fing an, an eine Hauswand gelehnt darauf herumzuwischen. Wenigstens stand Erik hier im Schatten und die stetig heißer vom Himmel brennende Sonne ließ ihn für einen Moment in Ruhe.
Wütend, dass die Gedanken mal wieder von ihrem eigentlichen Ziel abwichen, wischte Erik sich über die verschwitzte Stirn und überlegte. Wo könnte Berger sein? Er war sich weiterhin verdammt sicher, dass der Sturkopf von Lehrer nicht einfach in die nächste Apotheke marschiert war. Zumal er in diesem Fall ja schon längst hätte zurück sein müssen. Die Vorstellung, dass es dem Dickkopf schlecht genug ging, dass er sich tatsächlich einen Arzt gesucht hatte oder womöglich sogar irgendwo auf der Straße zusammengebrochen war, schnürte Erik allerdings erst recht die Kehle zu.
‚Du hättest ihn gestern nicht allein zu Hanna gehen lassen dürfen‘, hörte Erik immer wieder die Selbstvorwürfe in seinem Kopf. Leider schaffte er es nicht, dem zu widersprechen.
Es dauerte vermutlich nicht einmal eine Minute, bis Erik festgestellt hatte, dass dieses verdammte Nest kein Krankenhaus vorweisen konnte. Die nächste Notaufnahme war mindestens fünfzehn Minuten Autofahrt entfernt. Natürlich könnte Berger ein Taxi genommen haben.
‚Der braucht doch garantiert einen Notarzt, bevor er freiwillig ins Krankenhaus fährt.‘
Beinahe umgehend erschien in Eriks Geist das Bild der Narben, die er letzte Nacht gesehen hatte. Dem Mann waren Schmerzen garantiert nicht fremd. Erik schloss die Augen und atmete tief durch, um die schon wieder in Bewegung geratenen Emotionen in ihm zurückzudrängen. Für dieses Chaos hatte er keine Zeit. Er musste endlich herausfinden, wo Berger war.
‚Wo würde der Sturkopf hingehen?‘, fragte Erik sich also erneut, ohne zu einer eindeutigen Antwort zu finden.
Da es keine echten Anhaltspunkte gab, beschloss er schließlich, zunächst in die Stadt zu gehen. Vermutlich würde Berger sich nicht am Strand herumtreiben. Und falls Erik sich irrte und der Sturkopf sich tatsächlich einen Arzt gesucht hatte, würde sich der wohl eher nicht an der Promenade finden.
Während Erik sich also auf den Weg durch die verwinkelten, engen Straßen machte, holte er erneut das Handy hervor und scrollte durch die Kartenapp.
Am Marktplatz fand sich sowohl eine Apotheke als auch ein Arzt, von der die App behauptete, dass es ein Allgemeinmediziner war. Obwohl Eriks Hoffnungen, Berger dort zu finden, eher gering waren, konnte er es nicht einfach abtun und fand sich deshalb zehn Minuten später vor der Apotheke wieder.
Da war Berger natürlich nicht drinnen, aber der direkt daneben befindliche Arzt hatte offenbar seit dem Morgen Sprechstunde. Es kostet Erik trotz seiner Sorge einiges an Überwindung, um die Praxis zu betreten. Die Dame am Empfang fragte etwas, das er nicht verstand. Der Blick durch das frei einsehbare Wartezimmer brachte auch keinen Herrn Berger zutage. Deshalb murmelte Erik ein zurückhaltendes ‚sorry‘ und schlich sich wieder nach draußen.
Natürlich war ihm bewusst, dass der Arzt vermutlich einen Patienten im Sprechzimmer hatte. So sehr er Berger finden wollte, den Gedanken, dass es dem Sturkopf mies genug ging, um überhaupt einen Arzt aufzusuchen, versuchte Erik aber weiterhin zu verdrängen.
Also sah er sich stattdessen auf dem Marktplatz um. Hier war heute deutlich mehr los als am Sonntag, was er für einen Donnerstagmittag recht erstaunlich fand. Allerdings schien Markttag zu sein, was offenkundig ein Großteil der Bewohner über sechzig für Einkäufe nutzte.
Selbst wenn Berger irgendwo in diesem Gewimmel gewesen war, würde Erik ihn so nicht entdecken können. Da er aber ohnehin keinen Plan hatte, wo er den Dickkopf von Lehrer suchen sollte, schlenderte Erik zwischen den Reihen der Marktbuden hindurch. Die meisten boten Lebensmittel an. Hunger hatte Erik zwar allmählich durchaus wieder – von Appetit konnte man vorerst jedoch nicht sprechen.
Schließlich erreichte Erik den Brunnen vor der Dorfkirche und setzte sich auf den Rand des Beckens. Es war bald Mittag und die Hitze fühlte sich zunehmend drückender an. Hoffentlich würden sie um ein weiteres Gewitter am Abend herumkommen. Wobei Erik im Moment nicht hätte sagen können, ob es ihn stören würde, sollte das Lagerfeuer buchstäblich ins Wasser fallen. Womöglich würde ihm das ja Gelegenheit für ein weiteres Gespräch mit Berger in der Zweisamkeit ihrer Hütte bringen.
Erneut holte Erik das Handy aus der Hosentasche und starrte auf den Sperrbildschirm. Wenn er wenigstens Bergers Nummer hätte. Aber dass der die in den nächsten Tagen rausrückte, war wohl tatsächlich eine vollkommen illusorische Wunschvorstellung. Mit einem Seufzen ließ Erik das Handy sinken und hob stattdessen den Kopf. Sein Blick fiel zunächst auf die vier Stufen, die zur Eingangstür der Kirche hinaufführten. Von dort wanderte er weiter, an der Front hinauf bis zur Spitze des Kirchturmes. Ein Lächeln schlich sich auf Eriks Lippen, während er darüber nachdachte, dass es irgendwie passend gewesen wäre, wenn er Berger hier vor der Kirche stehend gefunden hätte.
Leider schien der sture Kerl ihm nicht einmal diesen Gefallen tun zu wollen. Obwohl Berger nicht den Eindruck gemacht hatte, als wäre er sonderlich religiös, schien der Mann ja durchaus eine Verbindung zu Kirchen zu haben – selbst wenn es angeblich nur deren Architektur war. Während Eriks Augen ein weiteres Mal über die Fassade der kleinen Kirche wanderte, konnte er jedoch nichts entdecken, was daran sonderlich interessant sein könnte. Dass er nicht an Gott zu glauben schien, hatte Berger am Vortag bereits deutlich gemacht.
‚Du lässt dich schon wieder ablenken‘, ermahnte Erik sich und schloss für einen Moment die Augen. Mit einigen tiefen Atemzügen versuchte er, seine abwandernden Gedanken wieder einzufangen.
„Beruhigen Sie sich erst einmal“, hörte Erik mit einem Mal eine Stimme und sprang überrascht auf. „Was ist denn passiert?“
Schon wollte er sich umsehen, um Berger zu antworten, als der Sturkopf von Lehrer quasi direkt vor Eriks Augen auf der Treppe vor der Kirche erschien. Beinahe umgehend zog es Erik den Magen zusammen. Da rannte er hier rum wie ein Idiot und der Kerl trieb sich tatsächlich ausgerechnet in der verdammten Kirche herum.
‚So viel dazu, dass Gott ihn schon finden wird, wenn der was von ihm will.‘