30 – Gewagter Sprung
„Nach Ihnen“, meinte Berger und deutete zu den Sprungtürmen.
Noch einmal schnaubte Sandro, wollte sich aber offenbar keine weitere Blöße geben. Also stapfte er hinüber in Richtung der Sprunganlage. Ein paar Teenager tollten auf dem Einer und dem kleinsten Turm herum. Als die Gruppe sich näherte, sahen sie kurz interessiert zu ihnen herüber, konzentrierten sich anschließend jedoch lieber wieder auf ihr eigenes Spiel.
Als Sandro in Richtung des ersten Turmes stapfte, räusperte sich Berger wenig dezent, bevor er meinte: „Das ist der Dreier, Herr Claasen. Der Fünfer ist dort drüben.“
Es war nicht zu übersehen, dass Sandro zögerte. Allerdings gewann wohl doch der Stolz, denn er stakste weiter in die angegebene Richtung. Erik selbst schlug das Herz bis zum Hals. So sehr es ihm gefiel, Sandro mit seiner Großkotzerei auf die Fresse fliegen zu sehen, das hier wirkte irgendwie falsch.
‚Es passt nicht zu Berger‘, belehrte ihn zusätzlich eine überraschend vernünftig klingende Stimme.
Bevor Erik darüber nachdenken konnte, hörte er jedoch, wie einer der Jungen, die bereits an der Sprunganlage gespielt hatten, etwas auf Französisch fragte, worauf Berger schnell und mit einem freundlichen Lächeln ebenso unverständlich antwortete. Jedenfalls hatte Erik keine Ahnung, was dort gesprochen wurde. Das verhaltene Kichern neben ihm sagte jedoch, dass sich das womöglich ändern ließ.
„Was haben sie gesagt?“, fragte Erik flüsternd an Sophie gewandt.
Die lehnte sich zu ihm hinüber und raunte ebenso leise zurück: „Die Jungs haben gesagt, dass sie gern Platz machen, wenn Sandro vom Dreier springen will.“
Erik runzelte die Stirn. „Und was hat Berger geantwortet?“
Wieder musste Sophie kichern. „Dass Sandro ein Problem hat, Dimensionen richtig einzuschätzen und ständig ‚kleine Dinge‘ für deutlich größer hält, als sie sind.“
Das prustende Lachen konnte Erik gerade noch in ein verhaltenes Husten umwandeln. Als Sandro zusätzlich mit wütend funkelnden Augen zu ihm herüberblickte, wurde es zunehmend schwerer, sich zusammenzureißen.
„Wir warten, Herr Claasen“, provozierte Berger mit betont gelangweilter Stimme weiter und zog damit prompt Eriks Blick auf sich.
Sein Lehrer war inzwischen zum Beckenrand gegangen, beachtete Sandro überhaupt nicht mehr. Dort setzte er sich zunächst an den Rand. Berger schlenkerte kurz die Beine durch das Wasser, holte einmal tief Luft und war eine Sekunde später weg. Natürlich war Berger nicht wirklich ‚weg‘, wie Eriks Verstand prompt einwarf, aber der Blödmann saß auch nicht mehr am Rand.
Trotzdem stolperte Erik hastig ein paar Schritte vor, um nachzusehen, ob Berger in Ordnung war, da durchbrach ebendieser schon wieder die Wasseroberfläche. Erschrocken zuckte Erik zurück, konnte den Blick aber nicht von dem nassen und deutlich zu bekleideten Körper nehmen, der sich mit einer geradezu filmreifen fließenden Bewegung aus dem Becken drückte.
‚Scheiße, der Anblick reicht für einen ganzen Kinoabend‘, zuckte es Erik prompt durch den Kopf, während er krampfhaft versuchte, den Blick oberhalb der Gürtellinie zu halten.
Nur um gnadenlos zu versagen und sich dafür ein verfluchtes Wimmern verkneifen zu müssen. Vermutlich hätte es drei Runden mit Mathis gebraucht, damit Eriks Schritt hier jetzt keine Regung zeigen würde. Dummerweise hatte er ja nicht einmal eine davon hinter sich gebracht. Und er konnte nicht wegrennen, denn schließlich hatte Sandro ursprünglich Erik herausgefordert.
„Wenn ich das Hanna erzähle, wird sie sich selbst in den Hintern beißen, dass sie vorhin mit den anderen lieber zum Essen gegangen ist“, quietsche Sophie mit einem verstörenden Seufzen neben ihm.
Erik konnte dennoch beides sehr gut nachvollziehen. Der Anblick war etwas, das seine Fantasie auf unbestimmte Zeit beflügeln würde. Definitiv für den Rest dieser Fahrt – und sollte die nicht zu ein paar Fortschritten führen, vermutlich auch eine Weile länger. In jedem Fall rückte es Berger in ein ganz neues Licht. Eines, bei dem Erik nicht sicher war, ob er darin baden wollte oder es ihn bis zur Unkenntlichkeit verbrennen würde.
Da bei einer Antwort zu befürchten stand, dass da eher ein weiteres Wimmern herauskam, hielt Erik lieber die Klappe. In diesem Augenblick fing Berger auch noch an, sich zu strecken und zu dehnen, was den verfluchten Po absolut perfekt in den Blickpunkt setzte.
‚Er provoziert. Der verdammte Hintern schreit nach Aufmerksamkeit!‘, flüsterte der notgeile Quälgeist in Eriks Kopf.
Zeitgleich schickte dasselbe mentale Arschloch ein paar Bilder, in denen es plastisch darstellte, welche Form von ‚Aufmerksamkeit‘ damit gemeint war. Nicht, dass Erik die visuelle Unterstützung tatsächlich gebraucht hätte. Ihm war nur zu bewusst, was er mit diesem Hinterteil gern anstellen würde, wenn dieser beschissene Anstand sich endlich einmal vom Acker machen würde.
Dummerweise machte es im Augenblick keinen Unterschied. Selbst wenn Berger diese Folter in der Tat nur für ihn veranstaltete, konnte Erik wohl kaum vortreten und seinem Lehrer an genau das Hinterteil fassen, was ihm hier so provokant entgegengestreckt wurde. Wobei die Vorstellung das mentale Pornokino ein Stück weiter laufen ließ und nach mehr Fortsetzungen verlangte.
Während es in Eriks Brust nur so hämmerte, hatte es Sandro bis auf den Fünfer hoch geschafft. Da stand er nun reichlich unsicher und sah ins Wasser runter. Die Vorstellung, aus dieser Höhe runterzuspringen, ließ Erik das Blut in den Adern gefrieren. Erst recht, wenn er in Betracht zog, dass so ein Sprung unweigerlich einige Meter unter Wasser enden würde.
Zumindest in dem Punkt musste Erik dem Affenkönig wohl Respekt zollen – ob er wollte oder nicht. Im Augenblick sah es allerdings noch nicht so aus, als hätte Sandro tatsächlich vor, zu springen. Nervös schielte Erik zu Berger. Der dehnte und streckte sich weiter, schien sich förmlich aufzuwärmen für den Sprung.
‚Etwas übertrieben‘, dachte er bei sich, sagte jedoch nichts.
Berger im Übrigen auch nicht. Im Gegenteil. Er schwieg hartnäckig, sah ebenso nicht zu Sandro hinauf. Vielmehr schien er ihn vollkommen zu ignorieren. Irritiert runzelte Erik die Stirn, denn nach den bisherigen Provokationen hätte er damit gerechnet, dass Berger Sandro jetzt auch vorwärtstreiben würde.
Inzwischen mussten sicherlich fünf, vielleicht sogar zehn Minuten vergangen sein. Sowohl die fremden Jungen wie auch Eriks Mitschüler wurden zunehmend nervöser. Die ersten französischen Rufe in Richtung Sprungturm waren bereits laut geworden. Erik verzichtete darauf, zu fragen, was die Jungen sagten. Vermutlich das Gleiche, was er an ihrer Stelle gesagt hätte. Dass Sandro entweder endlich springen oder wieder runterkommen sollte.
Schließlich schien Berger mit seiner Aufwärmrunde fertig zu sein und trat einen Schritt zurück, damit er besser zu Sandro hinaufschauen konnte. „Wenn Sie wollen, fange ich an“, rief er gelassen hoch.
Sandros Augen zuckten noch einmal zum Pool. Eine zwei Sekunden später nickte er und schrie mit hörbar zitternder Stimme: „Wenn Sie darauf bestehen. Klar doch.“
Ohne ein weiteres Wort lief Berger daraufhin zum Sprungturm und sprang förmlich die Stufen hinauf. Keine Spur von der Zurückhaltung, die Sandros zögerliche Schritte zuvor gezeigt hatten. Wenn Berger hier alle an der Nase herumführte, war er verflucht gut darin.
‚Der blufft garantiert nicht‘, belehrte Erik sich selbst.
Schon wieder beschleunigte sich sein Herzschlag, während Berger die letzten Stufen bis zur Plattform hinaufging. Prompt machte Erik ein paar Schritte rückwärts, nur um anschließend nach rechts zur Seite des Pools zu gehen. Von hier konnte er Berger und Sandro auf dem Turm stehen sehen.
Die beiden schienen sich zu unterhalten, waren aber zu weit weg, um sie verstehen zu können. Sandro nickte jedoch und trat zurück, bis er wieder bei der Treppe stand. Ein weiterer kurzer Moment des Zögerns, danach kletterte der Affenkönig vom Turm herunter.
„Was ist los?“, fragte Luca sofort, kaum dass Sandro zu ihnen trat.
Der vermied nur zu offensichtlich den Blick zu Erik und wandte sich stattdessen grummelnd an seine Kumpels: „Berger hat gemeint, es darf immer nur einer auf dem Turm sein und ich könne nach seinem Sprung entscheiden, ob es sich lohnt, noch einmal raufzugehen.“
„Ganz schön von sich überzeugt“, meinte Oliver mit einer Spur Bewunderung in der Stimme.
Dem konnte Erik lediglich innerlich zustimmen. Zumal er weiterhin nicht verstand, warum Berger sich überhaupt mit Sandro angelegt hatte. Der leisen Stimme in seinem Kopf, die behauptete, dass der Mann nur dort oben stand, damit Erik das nicht tun musste, wollte er allerdings ausgesprochen gern glauben.
In diesem Moment ging Berger zum Rand der Plattform vor. Zunächst sah er nach unten. Doch kurz darauf drehte er sich überraschenderweise herum. Schon konnte Erik das Schnauben von rechts hören, wo Sandro, Luca und Oliver standen. Anstatt wieder zurückzugehen, schob sich Berger jedoch so weit über den Rand, dass er nur noch mit der vorderen Hälfte des Fußes auf der steinernen Absprungfläche stand.
Die französischen Teenager riefen irgendwas und stürmten mit einem Mal nach vorn zum Rand des Dreiers und sahen hoch. Einer der Jungs deutete zu Berger, sie klangen merkwürdig aufgeregt.
„Was sagen sie?“, fragte Erik flüsternd Sophie.
„Ich ... bin nicht sicher“, gab sie zu. „Aber ich glaube, das ist nicht Herr Bergers erster Sprung vom Fünfer.“
Bevor Erik etwas sagen konnte, ging ihr Lehrer in die Hocke und stieß sich dann nach hinten ab. Er flog in einem Salto, einer Schraube oder was auch immer durch die Luft und schließlich auf das Wasser zu. Erik stockte der Atem, während Berger kurz darauf eintauchte. Es sah aus, als würde er die Wasseroberfläche zerschneiden. Kaum ein Spritzer sprang nach oben.
Die Franzosen jubelten, während Erik – und seinen Mitschülern – zunächst kein Laut entkommen wollte.
„Scheiße, noch einer“, hauchte Oliver schließlich und sprach damit das aus, was sie vermutlich alle dachten.
Eriks Puls war derweil auf hundertachtzig. Warum zum Teufel war Berger bisher nicht wieder aufgetaucht? Verstört starrte er auf den Pool, aber der blöde Kerl war nirgendwo zu sehen. Hastig stolperte er zum Becken vor und kniete sich neben den Rand. Eriks Blick zuckte über das Wasser, bis er Bergers Körper deutlich mehr als einen Meter tief treiben und langsam nach oben steigen sah. Bergers Augen waren geschlossen.
‚Ist er verletzt?!‘, fragte Erik sich prompt und war sogar kurzzeitig versucht, Bergers Klamotten neben den Pool zu schmeißen, um dort rein zu springen.
Bevor er dazu kam, öffneten sich jedoch Bergers Augen und mit zwei kurzen Schwimmstößen durchbrach er die Oberfläche. Erleichtert ließ Erik sich nach hinten fallen und atmete durch. Verflucht noch einmal! Der Kerl hatte ihm beinahe einen Herzinfarkt verpasst.
„Respekt, Herr Berger!“, rief in dem Moment Luca hinter Erik. Oliver stimmte ebenso begeistert zu, bevor sie entschieden, dass man das unbedingt den anderen erzählen musste.
„Verdammt! Und ich hatte kein Handy dabei“, fluchte Sophie lachend und folgte den beiden. „Wehe einer von euch erzählt das Hanna. Das will ich machen!“
„Das war wirklich ... Also ich denke nicht, dass ich ...“, stammelte Sandro verhalten. Vorsorglich verzog er sich daraufhin genauso wie der Rest, bevor er noch mehr Schwachsinn von sich geben konnte.
Berger lächelte zufrieden. Kurz darauf schwamm er auf Erik zu. Der saß weiterhin völlig verdattert am Beckenrand und starrte seinen Lehrer an. Kaum hatte ebenjener den Rand erreicht, drückte Berger sich aus dem Wasser. Eine elegante Drehung und schon saß er quasi links vor Erik.
„Sie sind total irre!“, krächzte dieser schließlich das heraus, was sein ganzes Denken zu beschäftigen schien.
„Schon mal probiert? Macht Spaß“, gab Berger zurück – zusammen mit einem auf einmal gar nicht mehr so fröhlichen Blick zu Erik. Der war eher verhalten. Diese merkwürdige Mischung aus Zurückhaltung und Scheu, die eigentlich gar nicht zu einem Mann wie Berger passte.
Die französischen Teenager kamen zu ihnen, redeten in irgendwelchem Kauderwelsch, den Erik wie immer nicht verstand. Der Blödmann von Lehrer lächelte die Rotzgören allerdings gewohnt freundlich an. Wenigstens wies er sie anschließend aber wohl doch ab. Mit einem enttäuschten Murren wandten die Jungen sich ab und liefen diskutierend in Richtung der Sprungtürme zurück.
„Danke“, presste Erik irgendwann heraus.
Berger zog ein Bein zum Schneidersitz heran und drehte sich halb zu ihm herum. Für einen Moment starrte er Erik lediglich an, dann zuckte er mit den Schultern und meinte: „Ich hab Herrn Claasens ... Attitüden das ganze Schuljahr lang ertragen. Sagen wir ... es war mir ein ... Bedürfnis.“
Diese Kälte, die Erik förmlich entgegenschlug, war nicht gerade angenehm. Trotzdem rang er sich ein Grinsen ab, als er mit hochgezogenen Augenbrauen nachfragte: „Ist das sehr erwachsen, Herr Berger?“ Erst als die Frage raus war, wurde Erik klar, dass die vielleicht nicht so sonderlich angemessen war.
Aber Berger starrte ihn für einen Moment nur an, verzog schließlich das Gesicht zum Ansatz eines Lächelns und sah zurück auf das Wasser im Pool. „Vielleicht muss man ja nicht immer ... ganz erwachsen sein“, entgegnete er daraufhin murmelnd.
„Ach ja?“
Anstatt zu antworten, sah Berger zu Erik zurück und hielt ihm die linke Hand hin.
Sofort fiel sein Blick auf das merkwürdige Armband, das Berger heute wieder trug. Ein Anblick, der das bis dato noch einigermaßen angenehme Kribbeln in seinem Bauch allmählich in ein Ziehen verwandelte. Verwundert starrte Erik einen Moment auf die ihm entgegengestreckte Hand, bis ihm klar wurde, dass Berger seine Klamotten wiederhaben wollte. Glücklicherweise hatten der Sprung, die Sorge um den Kerl, als der nicht auftauchte und das anhaltende Entsetzen darüber, dass all das überhaupt passiert war, dazu geführt, dass er nichts mehr zu verstecken brauchte.
Hastig reichte Erik Hose und Hemd an seinem Lehrer. „Warum haben Sie das wirklich gemacht?“, fragte er dabei zögerlich.
Sandro hatte ihn doch oft genug im vergangenen Schuljahr schikaniert und provoziert. Solange es nicht direkt in seinem Unterricht passierte, hatte Berger nie eingegriffen. Im Gegenteil. Er hatte immer betont, dass sie alt genug wären, um ihre Probleme selbst zu lösen. Also was war diesmal anders gewesen?
„Ich kann schlecht zulassen, dass Sie mir hier absaufen oder eine Panikattacke bekommen“, gab Berger verhalten zurück, während er die Hose sorgsam zusammenlegte.
Das klang vernünftig, aber irgendwie gefiel Erik die Begründung nicht sonderlich. Das Grummeln im Bauch wollte gern eine andere hören. Deshalb hakte er noch einmal nach: „Sie hätten uns einfach wegschicken können. Oder diesen Unsinn verbieten, bevor sich jemand verletzt.“
Berger sah auf und schwieg ein weiteres Mal. Langsam schüttelte er den Kopf und erneut glaubte Erik, den Ansatz eines eher gequälten Lächelns zu sehen. „Brauchte wohl eh etwas Abkühlung“, murmelte sein Lehrer verhalten.
„Ist der Irrsinn bei Ihnen eigentlich amtlich? Weiß die Schulleitung davon?“ Die prompt nach oben gezogenen Augenbrauen machten Erik sofort klar, dass da mal wieder etwas aus dem Mund gepurzelt war, was im Kopf hätte bleiben sollen. „Scheiße! Entschuldigung“, nuschelte Erik entsprechend gequält.
„Das Wasser hilft mir, runterzufahren“, meinte Berger plötzlich mit weiterhin ernsterem Ton.
Erik runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?“
„Sie haben Angst davor, unter Wasser zu sein und die Orientierung und damit die Kontrolle zu verlieren, oder?“, fragte Berger statt einer Antwort zurück.
„Ja“, gab Erik zögerlich zu.
Der eher schmerzhaft verzogene Mund seines Lehrers hielt das Kribbeln weiterhin in Schach und verstärkte dafür das verfluchte Stechen.
„Bei mir ist es eher umgekehrt“, meinte Berger daraufhin verhalten. „Unter Wasser ist nichts, was mich einengen und in eine vorgegebene Richtung zwingen kann. Da unten ist wenigstens für einen Sekundenbruchteil ... Freiheit.“
Misstrauisch beäugte Erik das Wasser. Der Gedanke, dass er dort drinnen treiben würde, nicht wissend, wo oben oder unten war, ließ die ersten kalten Spuren der Panik in ihm aufsteigen. Schnell sah er stattdessen zu Berger, der mit undeutbarem Ausdruck zurücksah.
„Woher können Sie das?“, fragte Erik, einfach um das Gespräch vielleicht nicht sofort zu beenden. Und womöglich auch, weil er keine Ahnung hatte, wie er ein gewisses anderes Thema hätte ansprechen sollen. „Also, das, mit dem vom Turm springen. Sah ... nicht aus, als ob Sie das zum ersten Mal machen.“
Berger zuckte mit den Schultern und sah ein weiteres Mal auf das Schwimmbecken. „Ich kannte jemanden, der Kunstspringen im Verein betrieben hat. Er ... hat mir so einige Dinge beigebracht.“ Mit einem zögerlichen Lächeln drehte sich Berger ein weiteres Mal zu ihm. „Außerdem macht es mehr Spaß, wenn es cool aussieht.“
Da musste auch Erik grinsen. Trotzdem kam er nicht umhin, sich zu fragen, ob es dieser Timo war, über den Berger hier sprach. Und wenn ja, in welchem Verhältnis die beiden inzwischen standen. Bei dem Gedanken verging ihm das Grinsen. Bisher hatte Erik nie darüber nachgedacht, ob Berger womöglich eine Beziehung hatte. Frau und Kinder würde Erik im Augenblick eher ausschließen – jedenfalls nicht, wenn der Kerl keine Gewohnheit daraus machte, diese mit irgendwelchen schleimigen Mistkerlen auf französischen Promenaden zu hintergehen.
‚Es klang nicht so, als ob dieser Timo noch ein Thema wäre‘, warf der Quälgeist überraschend vernünftig ein. ‚Aber so, als ob er mal eins war.‘
Zögerlich hob Erik den Kopf und bemerkte, dass Berger sich inzwischen das Hemd über das noch immer klamme Badeshirt zog und aufstand. Die zusammengelegte Hose hielt er dabei in der Hand.
Auch wenn Erik es ungern zugab, für die Aktion hatte der blöde Lehrer durchaus seinen Respekt verdient. Ganz abgesehen davon, dass die Bilder eines nassen Bergers – selbst mit den Badeklamotten – Eriks Fantasie für eine Weile beflügeln würde.
Da Berger nicht mehr am Beckenrand saß, starrte Erik inzwischen allerdings auf dessen Beine. An denen perlten die Wassertropfen über feine, schwarze Härchen an den Waden. Ein Stück hinauf, etwa auf der Hälfte der Oberschenkel würde die Badehose beginnen. Und von dort ein einige Zentimeter weiter ...
Schon wieder war da dieses verfluchte Kribbeln. Diesmal nicht an der Wirbelsäule und ganz sicher nicht nur im Bauch. Nein, das war erneut da, wo es offenbar im Augenblick niemand würde vertreiben können. Diese Fantasien über Berger waren ja nun wirklich nichts Neues, aber einmal mehr fragte eine verflucht unangenehme Stimme in Erik, was es brauchen würde, um von dem Blödmann nicht weiterhin als Kind betrachtet zu werden. Denn was Erik mit Berger treiben wollte, waren ganz sicher keine Kinderspielchen.
„Da wir beide ja offenbar die Möglichkeit hatten ... runterzukommen, sollten wir zurück zu den anderen gehen.“
Eriks Blick zuckte jetzt doch an Bergers Körper hinauf und landete unverwandt auf diesem deutlich zu attraktiven Gesicht, das ihn wie so oft kalt und emotionslos anstarrte.
„Es ist nichts passiert“, platzte es aus Erik heraus, ohne dass er sich stoppen konnte.
„Wie bitte?“
„Ich hab nicht ...“, setzte er erneut an, nur um prompt zu stocken. Aber diesmal gab er der Scham nicht nach und rappelte sich hastig auf. „Ich hab in der Umkleide nicht mit dem Typ rumgemacht.“
Mit einem Mal trat Berger einen halben Schritt zurück, bevor er verhalten antwortete: „Sie können ... machen, was Sie ...“, setzte der blöde Kerl an, nur um prompt das Gesicht zu verziehen und abzubrechen. „Ihre Privatangelegenheiten sind ... privat und gehen mich nichts an“, fügte Berger irgendwann murmelnd hinzu und wandte sich ab.
Erik trat einen Schritt zur Seite und versperrte Berger damit erneut den Weg. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er meinte: „Ich will aber, dass Sie es wissen.“
Berger stockte und sah ihn einen Moment forschend an. Noch immer schlug dieses verdammte Herz in Eriks Brust wie wild, verlangte nach einer Reaktion. Während es gleichzeitig ebenso darauf hoffte, dass es die Richtige sein würde.
„Wohin soll das führen, Erik?“, fragte Berger aber nur flüsternd zurück. „Ich bin immer noch Ihr Lehrer. Und viel zu ... alt.“
Für einen Moment hatte er den Eindruck, Berger hatte etwas anderes sagen wollen. Aber der tat es nicht und vertrieb damit die so angenehm kribbelnden Seifenblasen aus Eriks Bauch. Wieso zum Teufel nahm der Kerl ihn nicht ernst? Der Augenblick verstrich und Berger trat schweigend um Erik herum.
Dessen Augen hing an dem vom Hemd verhangenen Hintern, als er dem Blödmann nachstarrte, wie der in Richtung ihrer Gruppe verschwand. In Eriks Brust schlug das Herz weiterhin viel zu heftig. Auch wenn Berger ihn weiterhin nicht an sich heran ließ – da war diese leise Stimme, die darauf bestand, dass da etwas gewesen war.
‚Ein Haarriss im Panzer ...‘