84 – Anklagende Blicke
„Hey! Jetzt beweg dich.“
Irritiert blinzelte Erik. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er verstand, dass die Fotos längst gemacht waren. Unsicher sah er sich noch einmal um und folgte schließlich einigen der übrigen Schüler in Richtung der Treppe, die sie von der Bühne führte. Allein auf dem Weg dorthin stolperte Erik zwei Mal.
Für einen Moment schloss er die Augen und atmete tief durch. Nachdem er sie wieder öffnete, hatte die Masse ihn endgültig bis zur Treppe gebracht. Überall um Erik herum waren Stimmen, die er zwar hörte, deren Worte er aber nicht ausmachen konnte.
Da war Lachen, gut gelaunte Rufe. Eigentlich wollte Erik sich ihnen nur zu gern anschließen. Ein Teil von ihm konnte es aber immer noch nicht fühlen. Da war weiterhin diese eine Frage, auf die er keine Antwort hatte: War es jetzt vorbei? Und falls ja, was genau? Das Schuljahr? Die Warterei auf Berger? Definitiv diese Feier – zumindest war das aufgrund des stetig stärker werdenden Trubels vor der Bühne nicht nur anzunehmen, sondern zu hoffen.
Erik wurde von den anderen vorwärtsgetrieben. Da die Damen aus seinem Jahrgang mit ihren mehrheitlich hochhackigen Schuhen scheinbar etwas vorsichtiger auf der Treppe nach unten waren, konnte er die Bühne jedoch nur langsam verlassen – was Eriks Laune nicht unbedingt verbesserte.
Die genervten Stimmen um ihn herum zeigten, dass Erik nicht der Einzige war, der endlich hier raus wollte. Mehr, als sich von der Masse treiben zu lassen, konnte er im Moment allerdings nicht tun. Wie Erik kurz darauf trotzdem ausgerechnet direkt vor Berger landen konnte, hätte er entsprechend nicht einmal ansatzweise sagen können.
„Äh ...“, begann Erik stammelnd.
Mehr brachte sein Hirn mal wieder nicht zustande, kaum dass es mit Bergers Blick und dem zugehörigen zurückhaltenden Lächeln konfrontiert war. Nicht zu vergessen dem jetzt doch verschmitzter werdenden Grinsen, das Erik sich ganz sicher nicht nur einbildete. Es war da und ließ es in seinem Bauch fröhlich flattern.
„Sie ... sehen gut aus“, meinte Berger und deutete auf die ungeliebte Krawatte vor Eriks Brust. „Steht ... Ihnen.“
„Zur Abwechslung mal wirklich nur die“, rutschte es Erik heraus, bevor er sich bremsen konnte. Prompt verzog er das Gesicht und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid“, schob er halbherzig hinterher.
Im Grunde stimmte es nicht – und das war Berger garantiert klar. Alles, was Erik leidtat, war schließlich, dass er mit den unüberlegten Worten dem Mann zeigte, dass er wohl doch nicht so erwachsen war, wie Erik es gern wäre. Berger nickte jedoch lediglich und lächelte weiterhin.
„Sie ... sehen auch gut aus“, meinte Erik mit einem deutlich weniger verhaltenen Lächeln. Vielleicht würde das Berger ja etwas aus der Reserve locken. Selbst wenn die Schulaula nicht unbedingt der richtige Ort war, um erneut nach dieser Verabredung zu fragen, wollte Erik die Hoffnung nicht aufgeben. „In ... dem Anzug würde ich Sie glatt mit auf ein Date nehmen.“
Für einen Sekundenbruchteil schien das unschuldige Lächeln endgültig durch ein provokantes Grinsen ersetzt zu werden. Damit brachte es ebenso die Schmetterlinge in Eriks Bauch zum Tanzen wie sein Herz zum Rasen.
„Falls Sie Interesse haben. Ich ... habe für heute Abend noch keine Verabredung“, fügte Erik von plötzlichem Mut beseelt hinzu.
Achselzuckend schüttelte Berger jedoch den Kopf – und das nette Grinsen verschwand.
„Erik?“
Für einen Augenblick irritiert drehte er den Kopf nach links und bemerkte erst jetzt, dass sich seine Mutter zu ihm durchgekämpft hatte. Automatisch trat Erik einen halben Schritt von Berger zurück und lächelte sie an.
„Ma. Entschuldige. Ich ... wollte nur kurz ...“
Was eigentlich? Erik war sich selbst nicht sicher, weshalb er Berger angesprochen hatte. Ja, der Strom der Absolventen hatte ihn quasi hierher ‚gespült‘, aber letztendlich hätte er mit einem kurzen Nicken weitergehen können. Stattdessen war Erik stehen geblieben. Und nur zu gern würde er noch viel länger hierbleiben. Zumindest bis alle anderen verschwunden waren – seine Mutter inklusive. Aber natürlich war das Unsinn, denn weder würde Berger hier mit ihm warten, bis alle anderen weg waren, noch würde Erik seine Mutter alleine nach Hause schicken.
Also lächelte er und deutete mit leicht erhobener Hand auf den Mann neben ihm: „Das ist Herr Berger, Ma.“
Sie runzelte kurz die Stirn und sah mit einem Mal verwirrt aus. „Sie waren vorhin auch oben auf der Bühne, oder?“
„Richtig“, antwortete Berger und streckte ihr die Hand entgegen. Eriks Mutter hielt sich jedoch zurück. „Ich bin ...“
„War“, fuhr Erik kühl dazwischen, bevor ihm klar wurde, dass er mit der Unterbrechung die Situation nicht besser machte. „Herr Berger hat unseren Kursleiter Herrn Darian im letzten Jahr vertreten.“
Zufrieden, dass er gerade noch die Kurve bekommen hatte, lächelte Erik Berger an. Der blickte aber nicht einmal zurück – sah mit einem Mal eher reichlich verkniffen und angespannt aus, während er die Hände in die Hosentaschen schob.
„Sie sehen noch recht ... jung aus. Für einen Lehrer“, meinte Eriks Mutter zögerlich.
„Mama! Bitte, das ist ...“
Doch bevor Erik weiterreden konnte, war es diesmal Berger, der ihn unterbrach: „Das höre ich öfters. Ich ... bin erst seit September an dieser Schule.“
„Aha.“
Irgendwie war die Stimmung schlagartig in arktische Temperaturen verfallen. Dabei konnte Erik sich nicht erklären warum. Klar war Berger jetzt nicht unbedingt der Typ, dem man sofort um den Hals fallen wollte – und er wirkte zusätzlich im Augenblick reichlich zugeknöpft.
Ehrlicherweise hätte Erik nicht sagen können, wie er sich konkret eine Begegnung zwischen seiner Mutter und Berger vorgestellt hatte. Im Grund gab es diese Vorstellung bisher nicht. Wenn es sie gegeben hätte, wäre sie allerdings sehr weit von der aktuellen Realität entfernt gewesen. Es war sicherlich normal, dass die beiden sich nicht gerade in die Arme fielen, aber diese ausgesprochen angespannt wirkende Stimmung zog heftigst an Eriks Eingeweiden. Irgendwie musste er das geradebiegen. Nur fiel ihm nichts ein, was er sagen konnte.
„Herr Berger?“
Noch nie war Erik so froh gewesen, die Stimme einer Lehrerin zu hören. Geradezu erleichtert sah er zu Frau Fink, die zwischen ihn und Berger trat. Damit unterbrach sie gleichzeitig die unangenehme Stille. Stattdessen streckte sie breit lächelnd Eriks Mutter die Hand entgegen.
„Guten Tag. Gehe ich recht in der Annahme, dass dies Ihre Mutter ist, Herr Hoffmann? Hoffentlich störe ich Sie nicht, aber ich müsste Ihnen Herrn Berger jetzt leider entführen.“
Obwohl Erik lieber die beiden Damen losgeworden wäre, konnte er nicht leugnen, dass Frau Finks Erscheinen die Situation etwas zu entspannen schien. Deshalb nickte er, wenn auch eher unwillig, und antwortete: „Natürlich nicht. Ma, das ist Frau Fink, die stellvertretende Direktorin.“
„Guten Tag“, murmelte Eriks Mutter. Im Gegensatz zu Bergers wurde Frau Finks Hand ergriffen und zögerlich geschüttelt. „Wir ... sollten nach Hause gehen, Erik.“
„Dann sehen wir uns heute Abend, auf dem Abiball?“, fragte Frau Fink mit einem anhaltend freundlichen Lächeln. Die Tatsache, dass sie inzwischen die Einzige war, die noch lächelte, rumorte ausgesprochen unangenehm in Eriks Magen.
„Ja, ich schätze ... wir werden da sein“, murmelte seine Mutter. „Entschuldigen Sie uns bitte.“
Ohne auf eine weitere Antwort zu warten, ergriff Eriks Mutter seinen Arm und zog ihn in Richtung Ausgang. Irritiert sah er zu Berger zurück. Dem flüsterte Frau Fink gerade etwas zu. Die Hand, die sie dabei auf Bergers Oberarm legte, gefiel Erik noch weniger als der strenge Blick, den sie zusätzlich dazu aufsetzte. Während Erik weiter gen Ausgang gezogen wurde, sah Berger zunehmend aus, als ob der von der eigenen Mutter wegen irgendeiner Riesendummheit zusammengestaucht wurde.
‚Ist es das?‘
Die Vorstellung, dass Frau Fink Bergers Mutter sein könnte, war natürlich vollkommen albern. Bei dem Telefonat, das Erik zwischen den beiden vor einigen Tagen belauscht hatte, schienen die Zwei zwar recht vertraut miteinander, mehr aber auch nicht. Trotzdem kam Erik nicht um die Frage herum, ob es womöglich besser gewesen wäre, einfach weiterzugehen, anstatt Berger anzusprechen.
„So etwas kann den Ruf der ganzen Schule ruinieren.“
Das ungute Gefühl in Eriks Bauch wurde erneut zu einem schmerzhaften Reißen, das ihn innerlich zerfetzen wollte. Die Worte von Frau Farin hallten förmlich in Erik nach. Hörte Berger die im Moment auch gerade? Nur nicht im Kopf, sondern real, während Frau Fink sie ihm um die Ohren haute?
‚Unfair!‘
Berger war nicht mehr sein Lehrer. Der Kerl hatte Erik eben sein Zeugnis gegeben. Um sie herum waren lauter Leute, die ihren Kindern, Enkeln, Geschwistern oder sonst wie verwandten Absolventen gratulierten, weil sie jetzt endlich ihren Abschluss hatten. Außerdem hatte Berger ja nun wirklich nichts getan, das man ihm ankreiden konnte.
Schuld schlich sich trotzdem in Eriks Brust, wuchs dort heran und zog sie zusammen. Er selbst war es gewesen, der Berger in den letzten Tagen bedrängt hatte. Aber der Kerl hatte es zugelassen, hatte ihn zwar stets auf Abstand gehalten, allerdings nie wirklich abgewiesen. War es das? Hielt Frau Fink Berger das gerade vor?
„Ich muss noch einmal ...“, murmelte Erik.
Schon drehte er sich herum, um zurück zu Berger und Frau Fink zu laufen. Zwar erschien es reichlich sinnlos und albern, aber dieses Missverständnis sollte er aus dem Weg schaffen. Das belauschte Telefonat hatte schließlich danach geklungen, als ob Frau Fink ohnehin schon gewisse Dinge über Erik wusste. Außerdem hatte es den Eindruck gemacht, als würde sie auf Bergers Seite stehen.
„Wir gehen“, meinte Eriks Mutter jedoch kalt. Ihr Griff um seinen Unterarm verstärkte sich.
„Was soll das?“
„Du kommst mit!“, fuhr sie harsch dazwischen.
Überrascht zuckte Erik zusammen. Seine Mutter hatte ihn in den letzten Jahren sicherlich mehr als einmal angebrüllt, aber – auch wenn er das ungern zugab – bei diesen Gelegenheiten war es stets gerechtfertigt gewesen. Vor allem hatte Erik gewusst, weshalb sie wütend war. Der Druck in seiner Brust wurde stärker.
‚Das weißt du diesmal auch‘, wisperte es leise in seinem Kopf – eine Stimme, die sich seit dem letzten Mittwoch zunehmend seltener gemeldet hatte.
Erik schluckte und sah zu seiner Mutter. Ihre Lippen waren zusammengepresst, die Augen verengt – ihre ganze Haltung schrie nach ‚Flucht‘, während sie ihn mit sich zog. Diese beschissene Stimme hatte schon viel zu oft recht gehabt. Heute durfte das einfach nicht sein. Trotzdem zog und zerrte es an Eriks Eingeweiden, als könnten sie sich nicht entscheiden, ob sie lieber implodieren oder aus ihm rauskriechen wollten.
„Ma“, setzte Erik erneut an, aber sie schüttelte nur schweigend den Kopf.
Allmählich sauer über ihr lächerliches Verhalten, riss er sich endlich los. Da stockte seine Mutter und drehte sich zu ihm um. Anstatt Erik ins Gesicht zu sehen, wanderte ihr Blick jedoch an seiner Schulter vorbei – landete irgendwo einige Meter weiter weg. Vielleicht stand da jemand am Eingang der Aula. Womöglich hatte er diese Abneigung, anderen Leuten in die Augen zu sehen, von ihr geerbt. So oder so würde es im Moment nichts ändern. Sie sah ihn nicht an und Erik war sich ziemlich sicher, dass sie ihm auch nicht zuhören würde.
„Nicht hier“, flüsterte sie, wie um das zu bestätigen.
Zögerlich nickte Erik, folgte seiner Mutter zurück in Richtung Bushaltestelle. Etwas in ihrer Stimme macht es unmöglich sie einfach stehenzulassen. Der Blick auf die digitale Anzeigetafel zeigte, dass es gute zehn Minuten dauern würde, bis ihr Bus kam. Wahrscheinlich wären sie schneller daheim, wenn sie laufen würden. Aber Eriks Mutter blieb stehen.
Mit finsterem Blick starrte sie überall hin, nur nicht zu Erik selbst. Jede verstreichende Minute machte die Situation unerträglicher, das Reißen in seinem Inneren schmerzhafter. Trotzdem ertrug Erik beides.
Was hätte er auch sonst tun sollen? Sie hier stehen lassen? Zu Berger stürmen? Vielleicht. Ein Teil von ihm wollte genau das tun. Allerdings längst nicht mehr, um mit Frau Fink zu reden. Stattdessen drängte es Erik, sich Berger zu schnappen und irgendwo hinzubringen.
‚In Sicherheit‘, wisperte es aus den Untiefen von Eriks offensichtlich vollkommen wirren Hirns.
Wo sollte das denn sein? Die einzige Gefahr für den Mann war ja offenbar Erik selbst – und die ganzen Idioten, die Berger Dinge unterstellten, über die Erik nicht ernsthaft nachdenken wollte.
✑
Wie auch immer er diesen Kraftakt bewältigte, würde wohl auf ewig ein Rätsel bleiben. Vielleicht lag es daran, dass Erik es zur Abwechslung tatsächlich schaffte, nicht in seinem gedanklichen Chaos zu versinken. Leere, das war alles, was Eriks Hirn zustande brachte, während er mit seiner Mutter auf den Bus wartete. Auch die Fahrt nach Hause glitt an seinem Bewusstsein quasi vorbei.
Und so war das Nächste, was Erik bewusst wurde, wie die Wohnungstür hinter ihm geschlossen wurde. Mitten im Flur schloss er die Augen und wartete darauf, dass seine Mutter endlich aussprach, was sie zu sagen hatte. Dass es nichts Gutes sein würde, war Erik klar. Ohne es zu hören, würde er sich aber hier nicht wegbewegen.
Seine Mutter sagte jedoch zunächst gar nichts. Er hörte, wie sie ihre Handtasche auf das kleine Regal neben dem Eingang legte. Obwohl Erik mitten im Flur stand, schaffte sie es anschließend, an ihm vorbeizukommen, ohne dass sie sich berührten. Noch immer dieses verdammte Schweigen. Warum sagte sie nicht wenigstens endlich etwas? Stattdessen lief seine Mutter schwankend ins Wohnzimmer – hatte sich vorher nicht einmal die Schuhe ausgezogen.
‚Du hast es verbockt.‘
Erik seufzte und rieb sich über den Nacken. Da war ein unangenehmes Gefühl in seinem Hals. Als hätte sich der Druck in seiner Brust nach oben vorgearbeitet und wäre nun im Begriff, sich zu einem stetig größer werden Kloß im Hals zu formen. Eigentlich wäre Erik nur zu gern in seinem Zimmer verschwunden. Wenn seine Mutter nichts zu sagen hatte, warum sollte er dann mit ihr reden? Sobald der Gedanke aufgekommen war, wusste Erik allerdings, dass es ein weiterer Fehler wäre.
Also zog er sich die Schuhe und das Sakko aus. Letzteres hing er auf einen Bügel an der Garderobe, während er die Schuhe ordentlich neben die Tür stellte.
‚Hör auf Zeit zu schinden.‘
Es gab keinen Weg um dieses Gespräch herum, also folgte Erik seiner Mutter ins Wohnzimmer. Das Bild, das sich ihm bot, zog Erik erneut den Magen zusammen.
Sie saß auf dem Sessel – die Knie angezogen, Arme um die Beine gelegt. Wenigstens hatte sie jetzt doch die Sandalen ausgezogen. Einen Moment überlegte Erik, ob er die wegräumen sollte. Das würde ihm zumindest etwas mehr Zeit verschaffen. Fragte sich wofür? Erik hatte keine Ahnung, was er sagen konnte. Wollte. Vielleicht auch sollte. Also warf er die Mappe mit dem Zeugnis auf den Couchtisch und setzte sich schweigend auf das Sofa.
Die Situation fühlte sich schmerzhaft vertraut an. Wie lange war es her, dass Erik schon einmal hier saß und ein Gespräch mit ihr geführt hatte, das so nicht geplant gewesen war? Eigentlich doch noch gar nicht lange, ein paar Monate maximal. Trotzdem fühlte es sich an wie eine Ewigkeit.
„Hat er dich angefasst?“
Der Kloß in Eriks Hals wuchs an, drückte mit einer Kraft auf seinen Kehlkopf, dass der Schmerz sich nach unten bis zum Brustbein zog. Er wollte etwas sagen, aber um diesen gigantischen Felsen in seinem Hals bekam Erik keinen Ton heraus.
„Hat er dich zu irgendwas gezw...“
„Hör auf!“, krähte Erik jetzt doch.
Er fasste sich an den Hals. Irgendwo dort drinnen steckte der verdammte Stein, der ihm die Luft abschnürte. So war das nicht geplant. Weder die Fahrt, noch der heute Tag und schon gleich gar nicht so ein Gespräch mit seiner Mutter.
„Dieser Kerl ist dein Lehrer. Wenn er irgendetwas mit dir ...“
„Tu das nicht“, flüsterte Erik heiser.
Das Druckgefühl in seiner Brust wurde erneut stärker – der Kloß im Hals dadurch aber nicht erträglicher. Wie viel Schmerz würde der heutige Tag bringen, bevor es aufhörte? Würde es nie enden? Würden diese beschissenen Unterstellungen sie verfolgen, egal ob er noch Bergers Schüler war oder nicht? Von einer wie der Farin erwartete Erik nichts anders. Er hatte aber nie die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass seine Mutter genauso reagieren könnte.
„Bitte, Mama. Nicht du. Tu mir das nicht an.“
Scheiße, jetzt fing es sogar an, hinter Eriks Augen zu brennen. Und er hatte gedacht, dass diese Höllenwoche endlich vorbei wäre. Sah so aus, als würde sie erst richtig in Fahrt kommen.
„Erik ...“
Fuck! Das hier war nicht mehr auszuhalten. Wenn selbst seine eigene Mutter so reagierte, wie konnte Erik erwarten, dass Berger ihm trotzdem eine Chance gab?
Am liebsten wäre er fortgerannt – hätte sich verkrochen. Wo auch immer. Vielleicht ließ sich ja rausfinden, wo Berger wohnte. Wobei das die Situation wohl eher verschlimmern würde. Aber zumindest könnte Erik sich da seine garantierte Abfuhr abholen.
Danach würde er zu Alex ins Rush-Inn fahren. Der hatte zwar um die Uhrzeit noch zu, aber Erik wäre ja nicht die erste zusammengesunkene Gestalt, die sich auf den Stufen wiederfand, bevor Alex zum Aufschließen kam. Mit reichlich Alkohol wäre der Rest des Abends erträglicher – selbst auf die Gefahr hin, sich vor der Stammkundschaft lächerlich zu machen. Wäre inzwischen auch egal.
„Er hat nichts gemacht, Ma“, brachte Erik schließlich um den Kloß in seinem Hals herum heraus. „Ehrlich.“
Vorsichtig lugte er zu seiner Mutter hinüber. Ihre Lippen waren immer noch aufeinandergepresst, die Augen verengt. War sie wütend? Verängstigt? Versuchte sie zumindest, ihm zu glauben? Erik wusste es nicht.
Bei Berger hatte er in den letzten Tagen immer öfter das Gefühl gehabt, den Mann lesen zu können – zu wissen, was in diesem vorging, was der fühlte. Seine eigene Mutter kam Erik aber im Moment wie ein Buch in Chinesisch vor. Er sah die Zeichen, hatte allerdings absolut keine Vorstellung, was diese bedeuten könnten.
Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber ebenso wieder, ohne zu antworten. Das war beinahe noch schlimmer. Wenn sie etwas gesagt hätte, wäre wenigstens klar gewesen, was sie dachte. Wobei Erik im Moment nicht einmal mehr sicher war, ob er wirklich wissen wollte, was genau in ihrem Kopf vorging. Er lehnte sich nach vorn. Mit den Ellenbogen auf den Knien vergrub Erik das Gesicht in den Händen. Vielleicht war das hier ja ein blöder Traum – ein Albtraum, aus dem er hoffentlich erwachte und nach diesem wurde er erst wirklich zu seiner Zeugnisübergabe gehen. Aber wenn es einer wäre, müsste er in dem Fall nicht allmählich aufwachen?
„Ich bin ein Trottel“, murmelte Erik.
Mit gegen die Augen gepressten Handballen versuchte er, das Brennen dahinter ebenso zu ignorieren wie das Ziehen im Bauch. Warum unterstellte eigentlich jeder Berger gleich das Schlimmste? Der Mann hatte nicht einmal etwas getan. Selbst wenn die Pornopoesie tatsächlich lediglich zu Eriks Qual auf dem Unterrichtsplan gelandet war, hatte die sicherlich nicht darauf abgezielt, ihn zu verführen. Dafür hatte der Kerl zu oft versucht, Erik zum Aufgeben zu bewegen. Aber er selbst war dabei offenbar zu dumm gewesen, um zu kapieren, dass sie nie wirklich eine Chance hatten.
„Ich war ein naiver Volltrottel.“
„Was hat der Mistkerl ...?“, setzte seine Mutter schon wieder zischend an, während Erik bereits den Kopf schüttelte.
Seufzend stemmte er sich nach oben und trat zwei schwankende Schritte zur Seite, bis er neben dem Sessel seiner Mutter stand. „Ich hab doch gesagt, er hat gar nichts getan“, sagte Erik mit rauer Stimme.
Wenigstens hatte der Kloß in seinem Hals sich etwas verkleinert. Er war immer noch da, weiterhin unangenehm, aber einigermaßen erträglich. Erik drehte den Kopf nach rechts und sah zu seiner Mutter. War das Verwirrung? Sorge? Angst? Wut? Verdammt, er konnte es nicht sehen.
„Ich war es“, sagte Erik. Sie runzelte die Stirn. „Ich hab ihn gefragt, ob er mit mir ausgehen würde.“ Wieder öffnete sie lediglich den Mund, ohne etwas zu sagen.
Schweigend wandte Erik sich ab, um in sein Zimmer zu gehen. Es wäre sicherlich gut, sich noch ein paar Stunden auszuruhen. Er hatte diese blöde Karte für seine Mutter extra besorgt. Sie war so stolz auf ihn gewesen. Erik konnte sie nicht noch mehr enttäuschen, indem er den Abiball absagte. Bevor er in sein Zimmer verschwinden konnte, hatte Eriks Mutter sein Handgelenk ergriffen und hielt ihn fest.
„Wann?“, fragte sie zögerlich.
Obwohl er nicht hätte sagen können, warum er ihr das überhaupt erzählte, kamen die Worte sofort aus ihm heraus: „Vor ein paar Tagen, auf der Abschlussfahrt.“
Schon wieder ein Stirnrunzeln. Und mit ihm die Hoffnung in Erik, dass sie ihm zumindest so weit glauben würde, dass Berger deshalb von ihr keinen Ärger bekommen würde.
„Er hat gesagt, das ist nicht angemessen“, fuhr Erik fort. „Für einen Lehrer und seinen Schüler.“
Der Griff um sein Handgelenk wurde für einen Moment fester. Vielleicht war das der Grund, warum Erik fortfuhr, anstatt es dabei zu belassen und endlich in sein Zimmer zu verschwinden.
„Ich wollte es nicht akzeptieren und hab weitergemacht.“
Mit einem Mal war die Hand an seinem Arm verschwunden – war stattdessen vor dem Mund seiner Mutter. Die sah ihn nicht einmal mehr an.
„Ich hab ihn bedrängt, Ma. Nicht umgedreht. Aber er hat nicht nachgegeben. Dabei wollte ich nur diese verdammte Chance. Nur diese eine.“
„Erik ...“, setzte sie an.
Der Kloß in Eriks Hals löste sich mit jedem seiner Worte weiter auf. Das Stechen und Ziehen im Bauch wurde weniger, verwandelte sich stattdessen zu einem Brennen.
„Ich dachte, ich brauche nur zu warten, bis ich diesen blöden Wisch habe und er nicht mehr mein Lehrer ist“, erklärte Erik mit gebrochener Stimme. „Dass er mir eine Chance geben wird, wenn niemand etwas dagegen sagen kann, weil ich kein Schüler mehr bin.“
Sie schwieg, sah ihn weiterhin nicht an. Das Brodeln in Eriks Innerem wurde stärker. Warum war sie so dagegen? Sie kannte Berger doch nicht einmal. Und das Einzige, was man dem Mann vorwerfen konnte, war ja wohl, dass er Erik und den Mist aus seinen Aufsätzen die ganze Zeit toleriert und ihn nicht bei seiner Mutter verpfiffen hatte.
„Du hast gesagt, dass nichts falsch daran ist, auf Männer zu stehen, Ma. Dass du glücklich bist, wenn ich es bin.“
Mit einem Satz stand sie neben ihm und fasste erneut nach seinem Arm. Aber diesmal wich Erik zurück und zog die Hand fort, bevor sie diese ein weiteres Mal ergreifen konnte.
„Das stimmt ja auch“, rief sie mit zitternder Stimme.
„Ich bin nicht glücklich, Ma“, flüsterte Erik. „Mir geht’s beschissen. Ich hab mich ausgerechnet in meinen Lehrer verliebt. Und der wird mir heute Abend sagen, dass ich nicht einmal dieses eine, harmlose Date bekommen kann. Weil es für euch alle vollkommen egal ist, ob ich noch sein Schüler bin oder nicht.“
„Oh, Erik.“
Der verdammte Kloß wurde schon wieder größer. Hastig schüttelte er den Kopf und trat zwei Schritte nach hinten. Dabei hatte Erik sich doch letzte Nacht vorgenommen, einen Weg zu finden, wie er Berger überzeugen konnte. Und jetzt stand er hier und hatte weniger Hoffnung denn je.
Im Gegensatz zu Erik war Berger garantiert längst klar gewesen, dass dieser beschissene Wisch in den Augen aller anderen keinen Unterschied darstellen würde. Genauso wenig wie das offizielle Ende der Schulzeit.
Nur er selbst hatte es nicht wahrhaben wollen, sich an diese dämliche Hoffnung geklammert. Aber die hatte nie wirklich existiert. Es war am Ende doch nur eine beschissene Illusion gewesen. Ein Wunschtraum, der sich nicht erfüllen konnte.
„Es wird immer jemanden geben, der nur Schlechtes davon denkt“, murmelte Erik. „Die Unterstellungen und das Getuschel. Wieso sollte er sich das für einen wie mich antun?“
Der Schmerz in Eriks Inneren wurde dumpfer, der Kloß verschwand. Es fühlte sich merkwürdig an. Eine schleichende Kälte, die sich zusammen mit der Erkenntnis, dass er auf verlorenem Posten stand, in Erik ausbreitete. Langsam hob er den Kopf und sah zu seiner Mutter. Wenigstens war das Stirnrunzeln verschwunden. Dafür war da ein ganz anderer Ausdruck. Einer, auf den Erik lieber ebenso verzichtet hätte.
„Sieh mich nicht so an, Ma“, sagte er mit einem gequälten Lächeln. „Es ist nur ein bisschen ... Liebeskummer. Irgendwann ... hört es wieder auf. Richtig?“
„Ach, Erik ...“, setzte sie an. „Es ist nicht ...“
Aber zumindest im Moment hatte er genug. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, dieses Gespräch zu führen, nachdem er sich von Berger diese beschissene Abfuhr abgeholt hatte. Und womöglich war Erik in Wirklichkeit selbst ein verdammter Masochist. Denn er hatte weiterhin vor, heute Abend auf diesen Abiball zu gehen. Weil er es aus Bergers Mund hören musste, um wirklich loslassen zu können.
Ohne noch etwas zu sagen, drehte Erik sich um und stolperte in Richtung seines Zimmers. Zu Müde. Womöglich würde ihm eine Lösung für das alles einfallen, nachdem er eine Runde geschlafen hatte. Schlimmer konnte es ja ohnehin nicht mehr werden.
„Erik, warte“, rief seine Mutter ihm hinterher. „Lass uns darüber reden.“
„Nicht jetzt, Ma“, murmelte er vor sich hin und stolperte weiter. „Ich wär gern eine Weile allein.“