78 – Unangenehmes Déjà-vu
Als Erik einige Minuten später auf der Veranda saß, hätte er ehrlicherweise nicht sagen können, ob er sich wünschte, dass Berger jeden Moment auftauchte oder nicht. Auf der einen Seite hatte der Mann die konstant nervige Frau Farin sicherlich nicht verdient. Auf der anderen fühlte sich Erik in seinem schlaftrunkenen Zustand im Augenblick nicht wirklich in der Lage eine weitere Stunde mit der Versuchung namens ‚Berger‘ umzugehen.
Der beinahe eskalierte Streit mit Sandro hatte an Eriks ohnehin zum Zerreißen gespannten Nerven zusätzliche Spuren hinterlassen. Zusammen mit der vorherrschenden Erschöpfung zerrte das alles immer deutlicher an Eriks Geduld – und seinen Magenwänden. Dort drinnen rumorte es nämlich schon wieder gewaltig. Der konstante, wenn auch nicht sonderlich heftige Kopfschmerz tat sein Übriges, um die Laune auf den absoluten Nullpunkt sinken zu lassen.
‚Wut bringt dich nicht weiter‘, sagte Erik sich. Mit den durch den Schlafmangel strapazierten Nerven erschien es allerdings unmöglich, die notwendige Ruhe zu finden.
Mit geschlossenen Augen atmete Erik einmal tief durch. Seufzend sank er auf dem Stuhl zusammen. Immer mehr wünschte er sich, dass sie endlich losfahren würden. Die Sitze im Bus waren zwar nur unwesentlich bequemer, aber jede Minute, die sie fahrend auf der Autobahn verbrachten, war eine, die ihn seinem eigenen Bett näherbrachte. Und zur Abwechslung war es Erik vollkommen egal, dass er das auch heute mit niemandem teilen würde.
„Erstaunlich.“
Ein Lächeln schob sich trotz der Müdigkeit auf Eriks Lippen. Dabei fühlte er sich einfach nur erschlagen und so überhaupt nicht nach Lachen. Der durchaus beeindruckt klingende Ton ließ trotzdem etwas zaghaft in Eriks Bauch flattern.
„Dass Sandro mir nicht nachgestürzt ist, um sich endgültig als der Affe zu outen, der er nun einmal ist?“
Da Berger nicht antwortete, öffnete Erik doch irgendwann die Augen und sah sich einem verschmitzten, aber verdammt ehrlich wirkenden Lächeln gegenüber. Schon wieder begannen sich Seifenblasen in Eriks Bauch zu formen. Nur um kurz darauf in schneller Folge zu platzen – und damit dieses nette Kribbeln auszulösen, das Erik in den letzten Tagen so sehr zu schätzen gelernt hatte.
„Eher, weil Sie sich trotz Ihres offensichtlich angeschlagenen Zustandes nicht haben provozieren lassen.“
Erik schnaubte und schloss die Augen wieder, während er murmelnd antwortete: „Jetzt sollte ich beleidigt sein, oder?“
Wiederum sagte Berger nichts, schien sich aber auch nicht von der Stelle zu bewegen. Zumindest hörte Erik keine Schritte oder gar den Schlüssel, mit dem Berger die Hütte aufschließen musste. Da kam ihm ein anderer Gedanke und so öffnete Erik erneut die Augen und sah mit einem verschmitzten Grinsen zu Berger hinüber.
„Das war doch recht erwachsen von mir, oder?“
Das schnaubende Lachen klang eher verächtlich als amüsiert, trotzdem gefiel Erik das dazugehörige Grinsen auf Bergers Lippen ausgesprochen gut.
„Wenn Sie es extra betonen müssen, verfliegt der Effekt“, meinte Berger während er mit den Schultern zuckte.
Prompt fühlte Erik sich wieder mieser. Nicht die Wut von eben, der Frust – sondern eine geradezu bleiern schwer erscheinende Leere. So sehr er einen verbalen Schlagabtausch mit Berger schätzte, im Moment war Erik dafür zu müde. Verschlafen, wie er war, konnte man dem Mann nicht beikommen.
Zögerlich sah Erik zu Berger hinüber. Der stand noch immer an der Treppe zur Veranda und blickte seinerseits zu Erik zurück. Wenn da ein Lächeln auf Bergers Lippen war, dann so mikroskopisch klein, dass es nicht wahrzunehmen war. Vermutlich hatte Berger genauso die Nase voll von dieser Fahrt wie Erik selbst.
‚Hoffentlich nicht von dir.‘
Der Gedanke ließ ihn betreten den Kopf senken. Verübeln könnte Erik es Berger ehrlicherweise inzwischen nicht mehr. Von einer Schülerin gestalkt, von einem Schüler sexuell belästigt und die Kollegin setzte noch eins drauf, indem sie drohte, irgendwelchen dämlichen Scheiß zu erzählen. Selbst für das wütende Brennen, das sich in solchen Momenten in Eriks Bauch schlich, war er im Augenblick zu müde.
Stattdessen legte sich der Gedanke wie eine Bleidecke über ihn. Drückte Erik samt dessen Stimmung zu Boden. Da half es nicht einmal, sich einzureden, dass Berger sich vielleicht entgegenkommender zeigen würde, wenn die Farin nicht so einen Aufriss veranstalten würde.
Erik wandte den Blick ab. Wem wollte er etwas vormachen? Selbst wenn Frau Farin keinen Mucks von sich gegeben hätte, würde Berger sich während der Fahrt niemals auf einen Schüler einlassen. Das hatte der doch letzte Nacht selbst gesagt.
‚Er ist nicht mal mehr wirklich dein Lehrer.‘
Nicht einmal dieser Gedanke konnte die düstere Vorahnung, dass Berger sich längst gegen ihn entschieden hatte, abmildern. Warum sollte der Mann das Risiko in Kauf nehmen, dass ihm die Farin oder irgendjemand sonst deshalb ans Bein pissen würde? Selbst wenn Erik irgendwann nur Bergers ‚ehemaliger‘ Schüler war: Der Beigeschmack wäre fader, aber immer noch da.
„Ich hab die scheiß Prüfungen bestanden“, krächzte Erik mit einer Stimme, die den Widerwillen in ihm aufsteigen ließ. „Ich bin kein Schüler mehr.“ Er klang wie ein lächerlicher Vollidiot. Verweichlicht, schwach. Aber im Moment schien sogar Eriks Stimme die Kraft zu fehlen.
Kein Ton war aus Richtung der Treppe zu hören. Je länger das Schweigen anhielt, desto heftiger pochte Eriks Herz. Bis er den Druck in der Brust nicht mehr aushielt und wieder zu Berger sah. Der stand noch immer an der gleichen Stelle – die Hände in den Hosentaschen, der Blick ausdruckslos. Zumindest fehlte das Funkeln, die sexy Herausforderung, das Blitzen, von dem der Quälgeist immer behauptet hatte, es würde ‚nimm mich‘, schreien. Wenn Berger das doch mal wirklich tun würde.
„Könnte ich in Ihren Augen überhaupt jemals erwachsen genug sein für diesen Kuss?“
Endlich bewegte Berger sich, trat auf Erik zu und stellte sich direkt neben ihn: „Ich küsse prinzipiell nicht jeden Mann, der fragt. Das ist keine Frage des Alters.“
Ob die Worte ihn womöglich beruhigen sollten, verstand Erik nicht. Zumindest klangen sie nicht danach, als hätte er demnächst auf irgendetwas eine Chance – von diesem dämlichen Kuss ganz abgesehen. Tatsächlich wirkte Berger aber deutlich angespannter, jetzt wo er neben Erik stand.
Prompt fragte er sich schon wieder, was Frau Farin vor dem Frühstück zu Berger gesagt hatte. Hatte sie gemerkt, dass sie beide erst am frühen Morgen, und zwar gemeinsam, zurückgekommen waren? Sonderlich wahrscheinlich erschien es nicht. Vermutlich hatte sie wie die anderen noch geschlafen. Andererseits war die Farin genauso pünktlich wie Erik und Berger beim Frühstück gewesen.
„Ich wollte nicht, dass Sie wegen mir Schwierigkeiten bekommen“, murmelte Erik, nur um sofort einen heftigen Schmerz in seiner Brust zu spüren.
Er schloss die Augen und senkte für einen Moment den Blick. Nicht einmal ein Schlucken schaffte es, den ätzenden Geschmack aus seinem Mund zu bekommen. Die Lüge war zu leicht über seine Lippen gekommen. Es war nun einmal nicht zu leugnen, dass es sehr wohl eine Zeit gegeben hatte, in der Erik nur zu gern Berger ins offene Messer hätte laufen lassen. In der er es selbst aufgeklappt und passend platziert hätte, wenn sich denn eine Möglichkeit dafür gefunden hätte. Da spielte es auch keine Rolle mehr, wie sehr Erik sich inzwischen für diese Gedanken selbst verabscheute.
Da keine Antwort kam, sah er unsicher wieder auf. Fast hatte Erik erwartet, dass da jetzt endlich ein Lächeln auf Bergers Lippen erscheinen würde. Kurz bevor er ihm irgendeinen zweideutigen Mist an den Kopf knallte, der Eriks Hormone zum Freudentanz verleitete, während es ihm gleichzeitig die Eier abquetschte, weil es ja doch nicht wahr werden würde.
Diese verfluchte Ungewissheit war in Verbindung mit der Watte in Eriks Kopf und dem Brennen in seiner Brust eine extrem schlechte Kombination. Jedenfalls wenn es darum ging, einigermaßen vernünftige Entscheidungen zu treffen. Oder wenigstens keinen Blödsinn zu reden, der ihn bei Berger erst recht in Ungnade fallen ließ.
„Frau Farin ...“, setzte Erik erneut an, nur um prompt unterbrochen zu werden.
„Nicht Ihr Problem.“
Das Lächeln, das Erik endlich entgegenstrahlte, machte das beschissene Gefühl in seinem Inneren leider kein Stück besser. Wenn überhaupt, dann wurde es schlimmer. Falsch. Aufgesetzt. Verlogen. Das war weder der echte Herr Berger, noch irgendetwas von dem, was in diesem Dickkopf für Gedanken herumspuken mochten. Dabei hatte Erik dem Kerl doch schon einmal gesagt, dass er aufhören konnte, sich zu verstellen.
Der Kopfschmerz wurde erneut stärker, genauso wie das Brennen in Eriks Brust.
„Meine Schuld?“, fragte er zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch.
Einen Moment schien Berger zu überlegen, dann zuckte er mit den Schultern und meinte: „Eine Frage des Standpunktes.“
Erik verzog den Mund. Die Antwort war so ausweichend, wie sie nur sein konnte. Aber was hatte er erwartet? Frau Farin machte leider nur zu deutlich, warum Bergers Zurückhaltung aus dessen Sicht die einzig richtige Entscheidung sein konnte.
Abgesehen davon, dass es die Farin einen Dreck anging, war es trotzdem schon fast ironisch – auf eine total verquere Art und Weise. Was auch immer die Farin glaubte, dass zwischen Berger und Erik vorging, es konnte garantiert nicht weiter von der Realität entfernt sein. Denn praktisch ging hier nicht wirklich etwas vor. Jedenfalls nicht genug. Und schon gleich gar nicht in einer Richtung, in der Erik es gern gesehen hätte. Davon waren sie eher kilometerweit entfernt.
Er schloss die Augen. ‚Zu Müde‘, ermahnte Erik sich selbst und versuchte, das ihm entgleitende Chaos im Kopf zu bremsen. Mit einem kurzen Stöhnen rieb er sich über die Stirn.
„Kopfschmerzen?“, fragte Berger leise, woraufhin Erik lediglich nickte. „Schlimm?“
Diesmal schüttelte er langsam den Kopf. „Nein, nur zu wenig geschlafen.“
Eigentlich ja gar nicht. Aber das wollte Erik nicht aussprechen. Dabei war das schon wieder absolut lächerlich, denn Berger war mit Sicherheit bewusst, dass sie nicht einfach am Strand nebeneinandergelegen hatten. Der Kerl wusste garantiert, dass Erik ihn wie ein Volltrottel die ganze Nacht angestarrt hatte.
Dieses zur Abwechslung absolut entspannte Gesicht, leicht geöffnete Lippen. Nicht zu vergessen das Hemd, das Berger natürlich passenderweise offengelassen hatte. Ein Wunder, dass dieses verfluchte Arschloch, das oft genug in Eriks Kopf wohnte, ihn nicht dazu überredet hatte, in dieser Nacht Hand anzulegen. Wenn schon nicht an Berger, dann wenigstens an sich selbst.
Wütend, dass er erneut so einen Mist dachte, sprang Erik auf. Zeit, sich von hier zu verabschieden. Seine Sachen waren zwar weitestgehend gepackt, das Handtuch hing aber weiterhin über dem Geländer. Zum Bus mussten Tasche und Rucksack ja auch noch gebracht werden.
Erik deutete auf die verschlossene Tür und knurrte: „Machen Sie jetzt auf oder wollen Sie doch nicht nach Hause?“
Er hätte schwören können, dass Bergers Mundwinkel sich verzogen. Weiterhin kein echtes Lächeln, nicht einmal ein Grinsen, eher etwas, das bedauernd aussah. Aber Erik drängte den Gedanken zurück, denn der machte im Augenblick zu viel Hoffnung.
„Wenn Sie allerdings noch bleiben wollen ... ich leiste Ihnen Gesellschaft.“
Sogar für Erik selbst klang seine Stimme überraschend ruhig. Beinahe gelassen. Definitiv nicht so, wie er sich im Augenblick fühlte. Denn im Grunde genommen verlangte es Eriks Körper nur nach zwei Dingen. Und beide hatten irgendwie etwas mit Schlafen zu tun. Nur dass er es im positivsten Fall nicht alleine tun würde.
Vorsichtig riskierte er einen weiteren Blick zu Berger – in der Hoffnung, dem vielleicht doch erneut eine Reaktion entlockt zu haben. Nur um festzustellen, dass sie tatsächlich da war. Aber leider nicht in der Form, auf die der naive und womöglich doch kindische Teil seiner selbst hoffte. Da war ein weiterhin eher bedauernd wirkendes Zucken um die Mundwinkel. Nicht zu vergessen die eigentlich grünen Augen, die Erik nicht mehr ansahen. Weil es zur Abwechslung Berger war, der seinem Blick auswich und nicht umgekehrt.
Dabei war der Kerl das ganze Schuljahr über so überlegen rübergekommen. Wo war diese Selbstsicherheit jetzt? Der Farin hatte Berger gestern noch Kontra gegeben. Warum heute nicht mehr? Sollte sie doch reden. Der Sturkopf hatte sich an alle Regeln gehalten und Erik bisher zwar nicht abgewiesen, aber trotzdem quasi auf Armeslänge verhungern lassen. Der Gedanke, dass die Farin Berger mit irgendwelchen falschen Gerüchten Ärger machen konnte, drehte Erik jedoch ein weiteres Mal den Magen um.
„Dann schließen Sie endlich auf. Wäre schließlich blöd, den Abiball auszulassen.“
Das belustigte Schnauben, das ihm entgegenschlug, fand Eriks Inneres deutlich angenehmer, lenkte ihn für einen Augenblick von der Wut ab. Zumindest lockerte es das kalte Band etwas, das sich um seinen Magen gelegt hatte.
„Ja ...“, murmelte Berger, während er jetzt doch endlich zur Tür ging. „Der Abiball.“
Wirklich begeistert hörte sich der Mann nicht an, aber irgendwie konnte Erik das nachvollziehen. Er riss sich jetzt auch nicht unbedingt darum, dorthin zu gehen. Allerdings hatte jeder, den Erik gefragt hatte, gesagt, dass es ein einmaliges Erlebnis wäre. Obwohl er sich weiterhin nicht sicher war, ob er sich dort nicht total lächerlich machen würde. Immerhin hatte Erik kein Date vorzuweisen, das er mitbringen konnte.
Alleine würde Erik dort trotzdem nicht aufschlagen. Die Karte für seine Mutter hatte er ja gerade noch rechtzeitig besorgen können, nachdem er erfahren hatte, dass es scheinbar doch üblich war, die Eltern zum Abiball mitzubringen. So wie seine Mutter sich gefreut hatte, als er sie bat, sich den Samstagabend nach der Zeugnisübergabe freizuhalten, war es definitiv die richtige Entscheidung gewesen.
Änderte aber nichts an der Tatsache, dass Erik einer von den Verlierern sein würde, die anstatt mit einer anständigen Verabredung nur mit Mami am Arm auf dem Abiball auftauchten.
„Kommen Sie eigentlich in Begleitung?“, fragte Erik, bevor ihm klar wurde, was er da sagte.
Berger stoppte erneut, diesmal mit der Hand an der Türklinke – aufgeschlossen war bereits. Er drehte den Kopf zu Erik. War das Unsicherheit in Bergers Gesicht? Vielleicht. Womöglich sollte es auch eher ein ‚das geht Sie einen Scheißdreck an‘-Blick sein. Wer konnte das schon so genau sagen?
Mit einem Mal war da ein ganz anderer Gedanke, einer der Erik überhaupt nicht gefiel. Was, wenn Berger gar nicht zum Abiball kommen würde? Die Mädchen vom Kartenverkauf hatten gemeint, dass die Kursleiter ebenfalls dort sein würden. Und rückblickend betrachtet, war Erik sich sehr sicher, dass er nur deshalb die verdammte Karte für sich überhaupt gekauft hatte. Okay, und weil er seine Mutter nicht enttäuschen wollte, nachdem die darauf bestanden hatte, ihm den blöden Anzug für die Veranstaltung zu kaufen.
So sehr Erik sich bemühte, seine Stimme fest und selbstsicher klingen zu lassen, in seinen eigenen Ohren klang sie eher zittrig, als er noch einmal nachfragte: „Sie ... kommen doch morgen Abend, oder?“
Berger schwieg zunächst, starrte Erik lediglich an – bevor er sich dann doch dieses verfluchte falsche Lächeln abrang. Eins von denen, die Berger sonst eher für den weiblichen Teil des Kurses auf Vorrat zu halten schien.
„Ja“, kam schließlich doch die Antwort.
Prompt krampfte sich Eriks Innerstes zusammen. Welche Frage wurde damit beantwortet? Irgendwie hatte er nie darüber nachgedacht, ob die Lehrer in Begleitung kommen würden. Und erst recht nicht, ob Berger Single war. Bei dem Gedanken, dass dem nicht so war, begann etwas in Erik zu brodeln. Der Sturkopf hatte ihn die ganze Woche nicht ernsthaft abgewiesen. Wenn da jemand wäre, dann würden sie doch jetzt nicht hier so stehen. Oder?
„Die ... Kursleiter sind alle da“, fuhr Berger fort. „Ich als Herrn Darians Vertretung also auch.“
Was hieß das für die andere Frage?
„In Begleitung?“, hakte Erik knurrend noch einmal nach.
Der Kerl sollte sich bloß nicht einfallen lassen, mit Alibidate dort aufzukreuzen. Irgendeine Tussi, damit auch ja keiner merkte, dass Berger auf Männer stand. Erik schloss die Augen, versuchte, das Bild zu verdrängen, das sich prompt in seinem Kopf bildete.
Berger mit einer hübschen jungen Frau am Arm. Weitere Wut feuerte durch Eriks ohnehin schon überladenen Neuronen. Das hier war alles nur noch scheiße. Die Warterei, das Nichtstun, die Unfähigkeit, diesen Teil seiner Zukunft endlich selbst in die Hand zu nehmen.
Irgendwo, tief in sich drinnen, war Erik sicher, dass Berger so einen Scheiß nicht machte. Dass er es für unter seiner Würde halten musste, sich irgendeine Alibiverabredung zuzulegen. Aber die Wut brodelte weiter.
Erst recht, weil Berger Erik jetzt nicht mehr verlogen anlächelte, sondern eher frech angrinste. Der machte sich doch schon wieder ein Spiel daraus, ihn zu ärgern! So anregend das an manchen Tagen gewesen sein mochte, heute fühlte sich Erik dafür zu müde – und zu genervt. Trotzdem konnte er nicht anders, als dieses fiese Blitzen in den grünen Augen schon wieder so verflucht anziehend zu finden.
Berger trat durch die Tür, lief schweigend und ohne sich umzudrehen, in Richtung seines Zimmers. Er hatte dieses fast erreicht, als Eriks Faust krachend gegen den Türstock der Eingangstür flog. Offensichtlich überrascht fuhr Berger um und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Für einen Moment war Erik sich nicht sicher, was er hiermit erreichen wollte. Aber die Wut wenigstens ein Stück weit herauszulassen schien zu helfen.
Erik brauchte diese verdammte Antwort. Wenn der Mistkerl ein Date, eine Beziehung oder irgendetwas anderes hatte, was er morgen Abend mitbringen würde, dann wäre das alles hier nur ein verschissenes Spiel gewesen. Eine Verarsche für den dummen, kleinen Schüler, der zu dämlich war irgendetwas zu merken.
„Sie kommen allein“, fuhr Erik Berger knurrend an. „Sagen Sie es!“
Dessen Überraschung wich zurück, machte einem weiteren Grinsen Platz, das Erik herauszufordern schien. Was zum Henker erwartete Berger von ihm? Worauf zielte diese Herausforderung ab? Wenn nicht darauf, endlich irgendetwas aus seinen Aufsätzen Realität werden zu lassen? Was war es dann?
Vermutlich nicht das, was tatsächlich passierte. Denn im nächsten Moment schnellte Erik vor. Die drei Schritte bis zu Berger waren gefühlt zwischen zwei Herzschlägen überbrückt. Und ehe er es sich versah, presste Erik sich gegen diesen miesen Sturkopf – und den gegen die Wand.
Ein vertrautes Gefühl. Die bebende Brust unter Eriks eigener. Warmer Atem, der über seinen Hals strich. Diese grünen Augen mit den braunen Sprenkeln, die mit einem Mal alle gemeinsam zu funkeln schienen. Als wäre das hier irgendein schnulziger Roman, in dem sie sich gleich küssten und die ewige Liebe gestehen würden.
„Sicher nicht so“, zischte Erik.
Was in seinem Kopf im Augenblick vorging, waren nun einmal keine geschönten Liebesschwüre, kein vorsichtiges Herantasten. Es war Verlangen. Danach endlich seine Lippen auf Bergers zu legen.
Er würde weder stumm noch mit Worten darum bitten müssen, dass der den Mund aufmachte. Das würde von ganz alleine kommen. Und Eriks Zunge würde ihren Weg hineinfinden. Während gleichzeitig seine Hände endlich über die erhitzte Haut glitten, die er letzte Nacht nur angestarrt hatte. Finger, die die zackige Linie auf Bergers Brust nachzeichneten, über den Bauch hinweg. Kurz darauf würde er herausfinden, wie empfindlich diese kleinen, rosa Nippel waren, die sich die ganze verschissene Nacht nach oben gestreckt hatten.
‚Nur der Anfang‘, grollte es in Eriks Kopf.
Denn neben diesem beinahe zu stark erscheinendem Drang war da der Wunsch, es danach weiterzuführen. Nicht nur eine Nacht, oder zwei oder drei. Tage, Wochen, Monate. Eher eine verdammte Ewigkeit, in der Erik sich nicht mehr verstecken musste – in der es okay war, zu wollen, zu verlangen, zu geben und schlichtweg zu sein.
Berger wollte doch das Gleiche. Das musst einfach so sein.
„Sie haben kein Date“, flüsterte Erik, während er sich weiter vorbeugte.
Dieser ominöse Kuss – er stand ihm zu. Mit der Nacht am Strand hatte er ihn sich verdient, verdammt noch einmal. Erik wollte wenigstens das haben. Schon allein dafür, dass er ihn sich bisher nicht geholt hatte, stand der blöde Kuss ihm zu. Oder nicht?
„Sobald ich das Abizeugnis in den Händen halte, sind Sie nicht mehr mein Lehrer.“
Berger starrte ihn weiterhin mit diesem undeutbaren Blick an, das verdammte Funkeln in den Augen, das etwas in Erik zum Grollen brachte. So laut, dass er selbst nicht mehr sicher war, ob er sich das Geräusch nur einbildete oder es sich tatsächlich aus seiner Kehle gelöst hatte.
Die Hand, die auf Eriks Brust gelegt wurde, war viel zu warm, brannte sich förmlich durch den Stoff hindurch in seine Haut. Genau über dem heftig pochenden Herzschlag. Morgens, am Strand, hatte Erik dieser Hand noch nachgegeben, sich zurückdrängen lassen, aber diesmal hielt er dem Druck stand. Daraufhin zogen sich Bergers Augenbrauen ein Stück weit zusammen. Trotzdem veränderte sich dessen Blick kaum. Da war noch immer die Herausforderung, dieser stumme Schrei danach, den beschissenen Anstand endlich beiseitezulegen.
Aber in diesem Fall würde Erik sein Versprechen brechen.
Als er sich nach vorn beugte, stahl er sich nicht den erhofften Kuss, senkte den Kopf stattdessen mit einem leisen Seufzen auf Bergers Schulter. Wenn er dem blöden Sturkopf nicht mehr ins Gesicht sah, würde dieser überwältigende Drang vielleicht abebben.
Trotzdem ließ Erik sich nicht wegdrücken, presste sich eher noch weiter gegen Berger. Seine Hände wanderten vom unteren Rücken tiefer. Dieser verfluchte, nette Po, den Erik das ganze Schuljahr beobachtet hatte, war zu verführerisch. Und hatte nur zu offensichtlich genau die richtige Größe, um in Eriks Hände zu passen.
Das Geräusch, das ihm entkam, war schwer zu beschreiben. Eine Mischung aus Knurren und Grollen, geboren aus dem Verlangen, endlich das zu nehmen, was Berger ihm doch sowieso geben wollte. Selbst wenn er es nicht sagte und Erik immer auf Abstand hielt. Falls der Sturkopf das hier wirklich ablehnte, wäre es ein Leichtes, sich zu befreien. Im Moment passte allerdings kein Blatt mehr zwischen sie und Berger machte verflucht noch mal nicht den Eindruck, als würde ihn das ankotzen.
„Sie hatten doch gesagt, dass Sie mich für den Rest der Fahrt nicht weiter bedrängen würden.“
Eriks Griff um Berger wurde fester, presste den drahtigen Körper näher an sich, obwohl das eben noch unmöglich erschienen war. Der Druck gegen Eriks Brust wurde allerdings stärker – versuchte jetzt doch, ihn zurückzudrängen. Aber er gab nicht nach.
„Unter der Bedingung, dass Sie ernsthaft darüber nachdenken, mir eine Chance zu geben“, gab Erik knurrend zurück. Der Versuchung, seine Lippen wenigstens an Bergers Halsbeuge zu legen, konnte er nicht mehr widerstehen.
„Ich w...“
Eriks Griff wurde fester, zog Berger weiter zu sich heran. „Wenn Sie jetzt sagen, dass Sie mir ‚das‘ nicht antun wollen, verliere ich die Beherrschung“, unterbrach Erik den verdammten Sturkopf von Lehrer zischend.
Ob Berger diesen beschissenen Satz jemals wirklich gesagt hatte, wusste er nicht. Aber irgendwie schien er in Eriks Hirn zusammen mit dieser Szene hier im Flur verbunden zu sein.
Berger schwieg, der Druck gegen Eriks Brust ließ nach, obwohl er weiterhin nicht vollkommen verschwand. Stattdessen glitten die zwischen ihnen eingeschlossenen Finger über das Brustbein hinab bis zum Rippenbogen. An diesem weiter zur Seite, bis sie schließlich auf Eriks Hüften landeten.
Mit einem Laut, der irgendwo zwischen verächtlichem Schnauben und freudlosem Lachen angesiedelt sein dürfte, war es nach einer gefühlten Ewigkeit dennoch Erik, der sich von Berger wegstieß. Müde, in jeder nur erdenklichen Hinsicht, stolperte er einen Schritt nach hinten, um Platz zu machen. Der verdammte Sturkopf rührte sich natürlich nicht von der Stelle, stand weiterhin an der Wand neben der Badezimmertür. Das Bild wirkte zu vertraut. So sehr, dass Erik es nicht mehr schaffte, sich einzureden, das beschissene Arschloch in seinem Kopf hätte sich diese Fantasie vom Montagabend nur ausgedacht.
‚Wenn er nicht dein Lehrer wäre ...‘
Erik öffnete den Mund, schloss ihn aber prompt wieder. Was wäre denn in diesem Fall? Er war sich selbst nicht sicher. In einer verträumten Idealvorstellung wäre Berger längst mit ihm ausgegangen. Aber die Realität war doch viel eher, dass sie sich in diesem Fall womöglich nie begegnet wären. Sie würden getrennte Leben führen, die keinerlei Berührungspunkte hatten. Erik runzelte die Stirn.
‚Hat Berger da nicht erst kürzlich etwas gesagt? Was war das gewesen?‘
Bevor Eriks müdes Hirn so weit war, den Gedanken von eben weiterzuspinnen, hatte Berger sich bereits von der Wand gelöst und öffnete die Tür zu seinem Zimmer.
„Sie sollten Ihre Sachen packen. Wir wollen pünktlich los“, murmelte Berger mit merkwürdig belegter Stimme, während er die Tür öffnete und ins Zimmer trat. „Es wird eine lange Fahrt.“
Ehe Erik etwas erwidern konnte, war die Tür geschlossen. Er hob die Hand und legte sie auf seine eigene Brust. Eben hatte da drinnen sein Herz nur so gehämmert. Irgendwie hätte Erik erwartet, dass es immer noch so wäre. Aber der Rhythmus des regelmäßigen Pochens war ausgesprochen ruhig und langsam. Er biss sich auf die Lippe und drehte sich zu seinem eigenen Zimmer um.
„Verdammt ...“