14 – Morgendliche Freiluft
Als er um die Hecke trat, die ihre Lichtung vom Hauptgebäude trennte, konnte Erik bereits den Rest des Kurses hören. Verwundert runzelte er die Stirn. Selbst für diese Chaotentruppe war das ausgesprochen laut. Langsam schritt er den überdachten Gang am Haupthaus entlang. Erst als Erik von dort auf den Weg trat, der zum Speisesaal führte, wurde ihm klar, wie viel Glück er hatte, dass man den Weg von da nicht wirklich einsehen konnte.
Eriks Schritte waren zögerlich, als er den kleinen Hügel hinauf ging. Irgendjemand war scheinbar auf die glorreiche Idee gekommen, dass sie bei dem schönen Wetter draußen frühstücken konnten. Also waren die großen Tische aus dem Speisesaal auf den kleinen Vorplatz vor dem Gebäude geschleppt worden. Dort hatte man sie zu einem U aufgestellt, an dem sich jetzt der Kurs lautstark schnatternd dem Frühstück widmete.
Berger und die beiden Lehrerinnen saßen an der Kopfseite. Vielmehr hatten Letztere ihren Kollegen zwischen sich förmlich eingequetscht. Ein kurzes Grinsen huschte über Eriks Lippen, als er den verkniffenen Ausdruck Bergers bemerkte. Der war von der Sitzordnung offenbar wenig begeistert.
Just in dem Moment sah Berger natürlich auf und direkt zu Erik hinüber. Verkneifen konnte er das Grinsen sich trotzdem nicht. Erst recht nicht, als Bergers Augen sich bei seinem Anblick verengten während er zu Erik zurücksah. Irgendwie fing das an, ihm zu gefallen. Denn auch wenn da reichlich Wut in den grünen Augen mitschwang, war Erik sich verflucht sicher, dass sie sich nicht gegen ihn richtete. Da war jemand nur weiterhin verdammt unglücklich mit der Gesamtsituation.
„Schadenfreude steht ihnen nicht.“
Scheiße, der Kerl konnte einem auch jeden Spaß verderben. Und musste dazu nicht einmal den hübschen Mund aufmachen.
Ehe es auffiel, dass er weiterhin blöd in der Gegend herumstand, wandte Erik sich zu einer der Seiten des U und setzte sich dort mit einem gemurmelten „Guten Morgen“, auf einen freien Platz. Die um ihn herum sitzenden Schüler sahen beiläufig auf und grüßten im gleichen Tonfall zurück.
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Während größere Teile ihres Kurses weiterhin lautstarke Gespräche führte, hielten sich Erik und die um ihn herum sitzenden Schüler eher ans Essen.
‚Liegt zumindest nicht an dir‘, sagte Erik sich, nachdem er einen genaueren Blick auf die traurigen Gestalten um ihn herum geworfen hatte.
Den Ausdruck kannte er gut aus früheren Jahren. Der hatte Erik immer dann im Spiegel angesehen, wenn er nach einer Lagerfeuernacht mit den Jungs verkatert aufgewacht war. Letztendlich war es Erik aber recht, denn auf Unterhaltung hatte er selbst ohnehin keine Lust.
Vielleicht war das ja auch der Grund, warum er nicht verhindern konnte, dass sein Blick immer wieder zu Berger an der Stirnseite des Tisches wanderte. Der hatte sich erneut dem Frühstück gewidmet. Zumindest sah er heute so aus, als würde er tatsächlich etwas essen.
‚Kann dir egal sein.‘
Hastig senkte Erik den Kopf und griff zu einem Baguette um sich ein weiteres Stück davon mit Butter zu beschmieren. Geschäftig füllte er danach seinen Magen, um mindestens bis zum Mittagessen, vielleicht auch länger, aushalten zu können, ohne dass selbiger anfing zu knurren.
Während sich um ihn herum die Reihen allmählich lichteten, blieb Erik konsequent sitzen und aß weiter. Aus dem Augenwinkel bemerkte er irgendwann, dass Berger aufstand und nach ein paar Worten zu Frau Farin den Weg hinab in Richtung ihrer Hütte verließ. Stirnrunzelnd sah Erik ihm hinterher und überlegte, ob er Berger folgen sollte.
‚Den Rucksack hatte er dabei‘, warf Eriks Verstand ein. Also blieb er sitzen und kaute gemütlich weiter.
„Ihr vier räumt bitte hier auf. Wir treffen uns in dreißig Minuten auf dem Parkplatz neben dem Bus“, fuhr Frau Farins Stimme mit einem Mal in seine Gedanken.
„Was?“ Verwundet sah Erik auf und stellte fest, dass neben ihm nur noch drei weitere Mitschülerinnen an den Tischen saßen. Und mindestens ebenso überrascht wirkten, wie er.
„Wieso müssen wir das alleine machen?“, zischte eine von ihnen wütend und deutete dabei auf das über die Tische verteilte Chaos.
„Weil Sie noch hier sitzen.“
Frau Farin lächelte und verschwand anschließend in Richtung ihres eigenen Zimmers.
„Was ein Scheiß!“, stöhnte eine der anderen und sprach damit genau das aus, was Erik dachte.
„Na los, ich muss noch meine Sachen holen“, meinte eine Weitere und begann eilig die Reste, die auf ihrem Tisch standen zusammen zu räumen.
„Oh, Mann. Diese Idioten hätten wenigstens mal ihr Geschirr wegräumen können.“
Um weder den Tiraden ausgesetzt zu sein, noch am Ende zu den ‚Idioten‘ zu zählen, fing Erik hastig an, das Geschirr auf seiner Seite des U zu stapeln. Die Mädchen taten es ihm gleich, verzichteten dabei jedoch nicht darauf, weiterhin herumzujammern. Garantiert würde keiner von ihnen vieren morgen früh länger als nötig beim Frühstück sitzen.
Nach zehn Minuten war das Geschirr auf dem Laufband in Richtung Küche verschwunden, die Lebensmittel in den frei zugänglichen Kühlschränken verstaut und auch die Reste an Backwaren wieder dort, wo sie hingehörten. Erik kam eben mit einem großen Eimer Wasser und einigen Lappen auf den Vorplatz, als er überrascht feststellte, dass seine Mitschülerinnen bereits durch den Torbogen in Richtung ihrer Hütten liefen.
„Was soll das denn jetzt?“, fluchte Erik lautstark. Schlimm genug, dass er mit den blöden Hühnern putzen musste, aber wenn er den Mist auch noch alleine erledigen sollte, war das richtig scheiße.
Wütend schnappte Erik sich trotzdem einen der Lappen und wischte hastig die Tische ab. Kaum war er damit fertig und hatte Eimer samt Wischtuch zurückgebracht, stand er jedoch vor dem nächsten Problem.
„Wie zum Teufel soll ich die Dinger denn alleine wieder rein bringen?“, seufzte Erik.
Hier draußen stehen lassen konnte er sie allerdings auch nicht. Falls es wider Erwarten doch anfangen sollte zu regnen und etwas beschädigt wurde, würde man das am Ende ihm anhängen. Und darauf hatte er so gar keine Lust.
Erneut seufzte Erik und fuhr sich durch die kurzen Haare. Okay, mal sehen, wie viel seine Muskeln noch drauf hatten, nach den Jahren ohne echtes Training. Erik trat an den ersten Tisch heran. An der Schmalseite stehend konnte er die beiden Längeren locker greifen.
Er schloss die Augen und atmete noch einmal tief durch. Beim Ausatmen ging er in die Knie und kippte den Tisch, während er ihn gleichzeitig ein Stück hochzog. Mit dem rechten Bein stieß Erik nach oben, sodass er mit dem Oberschenkel dem Möbelstück zusätzlich Schwung gab. Sein Bizeps spannte sich an. Noch ein weiteres Stück runter in die Knie, dann war er unter der Tischplatte. Als die kurz darauf auf seinem Kopf landete, ächzte Erik auf.
‚Das Scheißding ist noch schwerer, als es aussieht‘, dachte er bei sich. Nur um kurz darauf von seinem mentalen Arschloch verhöhnt zu werden, dass er schlichtweg zu schwach geworden war.
Um den Mist endlich hinter sich zu bringen, richtete Erik sich auf und stapfte langsam zurück in den Speisesaal. Wenn er jeden Tisch einzeln so dort hinein schleppen sollte, würde er garantiert zu spät zum Treffpunkt kommen.
„Dann jammert Berger wieder rum“, nuschelte Erik gereizt, als er den Tisch mit einem lauten Krachen auf den Boden runter ließ.
Hoffentlich ging bei der Aktion nicht doch noch etwas kaputt. Das Ziehen in seinen Oberarmen verhieß nichts Gutes. Vorerst lief ihm aber weiterhin die Zeit weg. Also sparte Erik sich jedes weitere Rumjammern und trat erneut aus dem Speisesaal hinaus.
„Hier ist ja immer noch nicht alles fertig“, fauchte es auch schon gereizt über den Vorplatz.
Allmählich ernsthaft angepisst hob Erik den Kopf und funkelte in Richtung eines nicht minder wütend aussehenden Berger, auf den er im Augenblick mehr als verzichten konnte.
‚Nicht nur jetzt!‘
„Wo sind die anderen?“, hakte Berger nach, bevor er versuchte, um Erik herum in den Speisesaal zu sehen.
„Die Nase pudern. Sich anpinseln. Noch mal den Bikini zurechtzupfen. Was weiß ich, was die Frauen halt so treiben, bevor sie auf die Straße gehen?“, fauchte Erik angefressen zurück. „Scheint irgendwie gerade Mode zu sein, dass man mich einfach irgendwo alleine in der Scheiße zurücklässt.“
Bergers Blick war wütend, aber er antwortete nicht. Je länger Erik seinen Lehrer anstarrte, desto mehr verrauchte die eigene Wut. Zugegeben konnte der Blödmann nicht wirklich etwas für Eriks momentanes Dilemma. Wobei Berger sich ja beim Frühstück als einer der Ersten verpisst hatte. Wohin auch immer, denn in ihre Hütte war er garantiert nicht reingekommen.
‚Der hat sich verzogen, um eine zu rauchen, weil er das vor dem Rest von den Idioten nicht machen will.‘
„Na los“, meinte Berger mit einem Mal – seine Stimme jetzt deutlich ruhiger. Erik blinzelte verwundert. „Nun fassen Sie schon mit an. Im Gegensatz zu Ihnen bekomme ich die nicht alleine hoch.“
Ein kurzes Grinsen schien an Bergers Mundwinkel zu ziehen. Das spontan einsetzende Flattern in Eriks Magen löschte die bis zu dem Zeitpunkt dort vorherrschenden Flammen der Wut schlagartig aus. Hastig trat er an den Tisch, neben dem Berger stand. Gemeinsam hatten sie fünf Minuten später die übrigen Möbel zurück in den Speisesaal geschafft.
„Danke“, murmelte Erik, als er sich seinen Rucksack schnappte und Berger den Weg hinunter in Richtung Torbogen folgte.
Plötzlich stoppte der und ließ Erik damit ebenso stocken. Als sein Lehrer sich umdrehte, war dessen Gesicht ausdruckslos. Für eine Sekunde schien Berger zu überlegen, dann war da wieder dieses freundliche Lächeln. Eines, von dem Erik sich nur zu gern einbildete, dass der Blödmann das Hanna und den anderen Puten nicht zeigte.
„Ich habe es Ihnen doch schon am Anfang des Schuljahres gesagt, Erik. Vielleicht merken Sie es sich ja irgendwann einmal.“
Erik runzelte die Stirn. „Was denn?“
„Zum Erwachsensein gehört auch dazu, um Hilfe zu fragen, wenn man sie braucht.“
Schlagartig schoss Eriks Puls in die Höhe. Tatsächlich konnte er sich nur zu gut an diese wutschnaubende Rede zu Beginn des Schuljahres erinnern. Als Berger den ganzen Kurs zusammengeschissenen hatte, dass er keine kindischen Streitereien in seinem Unterricht dulden würde.
„Ansonsten trifft auf mich das Gleiche zu, was Sie gestern gesagt haben“, fuhr Berger fort, während sich das Lächeln kurzzeitig in ein Grinsen verwandelt. „Gedankenlesen kann ich nicht.“
Erik nickte zögerlich. Er war sich weiterhin nicht wirklich sicher, was er davon halten sollte. Überhaupt schien Berger zunehmend verwirrender zu werden. Mal sah es aus, als ob er vor Wut gleich Feuer spucken würde. Oft genug sah Erik sich selbst in diesen Momenten dazu verleitet, dem Kerl eine reinzuhauen. In anderen Augenblicken lächelte Berger aber wiederum so beschissen verführerisch, dass dieses verdammte Flattern in Eriks Bauch danach verlangte, endlich herauszufinden, was es ihn kosten würde, diese Lippen zu erobern. Nur, dass die sich kurz darauf öffneten, um irgendeinen blöden Kommentar abzulassen, bei dem Erik dem Kerl doch wieder lieber eine runterhauen wollte.
„Kommen Sie schon“, forderte Berger ihn erneut auf und drehte sich um. „Und versuchen Sie heute zur Abwechslung doch, nicht in Schwierigkeiten zu geraten.“
‚Genau solche beschissenen Kommentare!‘
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Diesmal hatten sich offenbar alle an eine einigermaßen vernünftige Kleiderordnung gehalten, sodass sie ohne große Verspätung starten konnten. Amüsanterweise waren es ausgerechnet Sandro und Ines, die zu spät kamen, während der Rest es pünktlich zum Treffpunkt neben dem Bus geschafft hatten.
Den würden sie heute nicht nehmen. Stattdessen stand eine Stadtführung auf dem Programm. Warum man mit einem Haufen Abiturienten in diesem Kaff so einen Mist abziehen musste, war Erik wie so vieles nicht klar. Aber letztendlich war es ihm egal.
Prüfend ließ er seinen Blick zu Berger wandern, der einige Meter vor Erik entfernt schon wieder von Hanna und zwei weiteren Schülerinnen in Beschlag genommen wurde. Die Hände in den Hosentaschen vergraben stapfte Erik entsprechend missmutig im Pulk zwischen den anderen.
„Hey, Erik.“
Erschrocken zuckte er zusammen und sah kurz darauf nach rechts zu Sophie, die sich neben ihn geschoben hatte. Was machte die denn schon wieder hier? Unsicher sah Erik sich um, aber es schien niemand sonst auf sie zu achten.
„Hi.“
„Hi ...“
Okay, allmählich wurde ihr Gehabe echt affig. Zumal Erik keine Ahnung hatte, was er jetzt sagen sollte. Noch immer wartete er förmlich darauf, dass Sandro sich gleich lautstark grölend darüber lustig machen würde, dass ... Ja, worüber eigentlich? Auch das wusste Erik nicht. Also schwieg er und stapfte neben Sophie her, die augenscheinlich ebenso kein weiteres Wort mehr herausbrachte.
Wenigstens lenkte Erik die Frage, was Sophie von ihm wollte davon ab, Berger weiterhin auf den Hinterkopf zu starren. Und so war er überrascht, als die Gruppe plötzlich auf dem Marktplatz ankam und dort anhielt. Kaum waren sie da, sah Erik sich um, bis er Bergers schwarzen Haarschopf ausgemacht hatte. Der schien eben die Schüler durchzuzählen. Erstaunlicherweise hatten sie die fünfzehn Minuten Fußmarsch geschafft, ohne dass einer von ihnen verloren gegangen war.
‚Es wäre eine Wohltat, wenn du hier gleich verloren gehen könntest.‘
In der Tat hatte Erik so gar keine Lust auf eine langweilige und vermutlich staubtrockene Stadtführung. Nicht zu vergessen, dass die Gesellschaft sehr zu wünschen übrig ließ. Sophie stand weiterhin neben ihm und jedes Mal, wenn Erik auch nur ansatzweise in ihre Richtung schielte, senkte sie beschämt den Kopf. Okay, das musste aufhören!
„Bleiben Sie alle zusammen“, forderte Berger lautstark den Kurs auf. „Sie haben nach der Führung noch den ganzen restlichen Tag über Zeit, sich zu vergnügen.“
‚Ach ja?‘
Die Aussicht gefiel Erik und seinem mentalen Quälgeist gleichermaßen. Allerdings waren es definitiv unterschiedliche Dinge, die da als ‚Vergnügen‘ in seinem Kopf auftauchten. Erik wäre schon zufrieden gewesen, irgendjemanden zu finden, mit dem man sich einigermaßen unterhalten und vielleicht ein bisschen flirten konnte. Wobei die Chance darauf, dass Erik es schaffen würde, in diesem Fall die Initiative zu ergreifen, nicht gerade hoch war. In den letzten Wochen hatte er es aber im Rush-Inn ja wenigstens ab und an einmal geschafft den Mund aufzubekommen.
Gewisse Teile von Erik waren da allerdings anderer Meinung und bestanden darauf, dass es bitte nicht nur beim Flirten bleiben sollte. Und natürlich, dass der geeignetste Kandidat ungefähr fünf Meter weiter links von ihm stand. Die Chance, dass es dazu kam, dürfte eine dicke fette Null darstellen.
„Ines! Sandro! Das gilt auch für Sie!“
Erik grinste – und es wurde noch breiter, als die beiden sich wieder umdrehten und zur Gruppe zurück schlichen.
„Ah! Salut! Salut mes amis! Je m’appelle Pierre!“, rief es plötzlich hinter Berger.
Erik konnte sehen, wie sein Lehrer in gleichem Maße zusammenzuckte, wie er selbst. Mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtete Erik, wie Berger sich langsam umdrehte. Er musste dem Mann zugutehalten, dass er sich nicht ansehen ließ, was er von dem Anblick hielt. Ob Erik das an Bergers Stelle genauso gelungen wäre, konnte er nicht sagen. Vermutlich eher nicht.
Eriks Zähne knirschten, so fest verspannte sich sein Kiefer in diesem Augenblick. Mit zusammengekniffenen Augen zuckte sein Blick die Gestalt entlang, die breit grinsend auf sie zutrat. Das lautstarke Gequatsche, das noch vor ein paar Sekunden über den Platz gehallt war, verstummte schlagartig, als auch der Rest des Kurses in die gleiche Richtung gaffte. Einigen war förmlich die Kinnlade runtergeklappt.
Verübeln konnte Erik es ihnen nicht. Während seiner Zeit mit Dominik hatte er durchaus schillerndere Persönlichkeiten in dem einen oder anderen Klub gesehen, in den Domi ihn geschleift hatte. Und sein Ex selbst war jetzt auch nicht gerade sonderlich dezent, wenn es um sein Äußeres ging. Das verblasste allerdings geradezu gegen den Anblick, den der Typ hier darstellte.
Der Mann trug ein knallbuntes Tuch, das in einem früheren Leben womöglich tatsächlich einmal ein knielanger Rock gewesen war. Inzwischen fristete es sein Dasein allerdings offenbar als ‚was auch immer‘. Jedenfalls war es an der rechten Seite bis zum Bund aufgeschlitzt und etwa ein Drittel des Umfangs schien zu fehlen. Darunter trug der Kerl Hotpants, die selbst den freizügigen Damen von Eriks Kurs peinlich gewesen wären. Das Oberteil bestand aus einem eng anliegenden, knallorangenen Netzteil.
Zugegeben, der Kerl konnte das Ding definitiv tragen. Genauso wie den Rest der Klamotten. Manche mochten den Aufzug für affig halten. Erik hielt ihn für peinlich, aber an dem Mann da drüben sah es im Augenblick einfach nur ausgesprochen sexy aus. Für einen Sekundenbruchteil zuckte vor Eriks geistigem Auge das viel zu erregende Bild von dem gleichen Top an einem gewissen anderen Jemand vorbei.
‚Wenn der denn endlich einmal das heute in dunklerem grau gehaltene Hemd loswerden würde ...‘
Schon beschleunigte sich Eriks Herzschlag, um das unterhalb der eigenen Gürtellinie einsetzende Kribbeln zu unterstützen. Also schüttelte er den Kopf und versuchte wegzusehen. Aber der Kerl da drüben war wie ein neonfarbenes Bild zwischen Landschaftsgemälden in einer Kunstgalerie – man musste einfach hinsehen.
Mit einem unterdrückten Keuchen bemerkte Erik, dass man durch das verdammte Top die kleinen dunkelbraunen Nippel nur zu deutlich auf der bronzefarbenen Haut erkennen konnte.
‚Scheiße!‘
Der Kerl war mit den langen Haaren, die garantiert bis zur Mitte des Rückens reichten, eigentlich so gar nicht Eriks Typ. Dazu auch noch die gestelzte – vermutlich bewusst provozierende – Haltung.
‚Aber ein scheiße gut aussehendes Gesamtkunstwerk ist er trotzdem.‘
Endlich schaffte Erik es, den Blick abzuwenden. Der Rest des Kurses stand weiterhin schweigend, mit aufgerissenen Augen vor dem zufrieden grinsenden jungen Mann. Scheinbar schien er sich auch von der ausbleibenden Begrüßung, nicht einmal ansatzweise aus dem Konzept bringen zu lassen. Stattdessen sonnte er sich förmlich in der Aufmerksamkeit, die man ihm schenkte.
‚Wenigstens kam bisher kein dämlicher Kommentar.‘
„Hey, Hoffmann, ist der nicht ganz dein Typ?!“