23 – Unerwartete Gespräche
Mit einem Seufzen drehte Erik sich um und schwang sich auf die halbhohe Mauer hinauf. So würde Pierre zumindest keine Gelegenheit mehr haben, sich an seinem Schritt zu reiben. Nicht, dass Erik tatsächlich Angst hatte, der Typ auf der Bühne würde jeden Moment rüberkommen und ihm eine reinhauen. Aber da es ihm widerstrebte, der Versuchung nachzugeben, wollte Erik Pierre keine Gelegenheit mehr geben, seinen Mann weiter zu provozieren. Auch nach über einem Jahr, wusste Erik nur zu gut, wie es sich angefühlt hatte, auf der anderen Seite zu stehen.
Ein kurzer, prüfender Blick zur Bühne zeigte, dass die Band weiterhin spielte. Wie lange noch, bis sie die von Pierre angekündigte Pause machen würden? Erik hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber mit einem Mal hatte er das Gefühl, er sollte verschwinden. Sich einzureden, dass er hier einen auf Partyhengst machen würde, war lächerlich. Zu Hause würde Erik auf so einer Veranstaltung doch auch nur in einer Ecke stehen – darauf hoffend, dass er nicht ganz so vertrottelt aussah, wie er sich dabei fühlte.
Erik sah erneut über die Reihen der Feiernden hinweg. Berger war weiterhin nirgendwo zu sehen. Das hieß allerdings lediglich, dass der Kerl nicht in der unmittelbaren Umgebung stand. Vielleicht hatte der Blödmann ja deutlich weniger Probleme damit, sich hier zu amüsieren. Oder er wartete inzwischen vor ihrer Hütte.
Der Gedanke, dass Berger dort mit einer Kippe im Mund auf der Treppe saß, ließ etwas in Eriks Bauch flattern. Der Anblick machte ihm weiterhin zu schaffen. Weniger, weil er so furchtbar gewesen wäre, sondern eher, da er dieses Bild durchaus anregend fand. Ganz zu schweigen davon, dass es Erik recht deutlich gezeigt hatte, dass er in der Tat nichts über Berger wusste.
„Sie sollten nicht der Illusion nachrennen, dass Ihr Interesse sich auf mehr als nur die Antworten auf Ihre Fragen bezieht.“
Erik senkte den Kopf und starrte auf seine Hände. Vor einem halben Jahr hätte er wahrscheinlich sogar zugestimmt. Was hatte ihn denn an diesem Blödmann von Lehrer interessiert? Die Neugier, was sich unter den langärmligen Hemden und der gut sitzenden Jeans verbarg. Hormongesteuerte Geilheit, die wissen wollte, wie es sich anfühlen würde, wenn er sich ebendiesen Körper nahm. Sonst nichts. Aber im Verlauf dieses Schuljahres hatte sich das geändert. Inzwischen fühlte sich diese Aussage nicht mehr ‚richtig‘ an.
„Hey, wieso so bedrückt?“, fragte Pierre mit einem zunehmend vertrauter werdenden Lachen und reichte ihm eine frische Flasche.
Erik zögerte, überlegte erneut, ob er nicht lieber verschwinden sollte. Aber in dem Fall müsste er Berger gegenübertreten. Also blieb er sitzen und griff nach der Flasche. „War ein blöder Tag“, murmelte Erik verhalten und nahm den ersten Schluck.
„Echt? Und ich dachte, du und das Schnuckelchen hättet euch für eine schnelle Nummer irgendwo abgesetzt.“
Hustend versuchte Erik die Flüssigkeit, die gerade dabei war, sich in seiner Lunge auszubreiten dort wieder herauszubekommen.
„Was?“
Pierre grinste und stieß eine eigene Flasche gegen Eriks. „Santé!“
„Welches ... Schnuckelchen?“, fragte Erik erneut nach, nicht sicher, ob er die Antwort wirklich hören wollte.
„Na der hübsche Schwarzhaarige, mit dem du verspätet von der Tour gekommen bist. Der ist nicht echt euer Lehrer, oder?“ Eriks Magen zog sich zusammen. War das etwa anderen genauso aufgefallen? „Ansonsten würde ich gern noch einmal die Schulbank drücken.“
„Er ... ist tatsächlich unser Lehrer.“
„Du Glückspilz!“
Nun, darüber ließ sich streiten, aber diesmal hielt Erik die Klappe und trank stattdessen weiter. Womöglich würde das helfen, um dieses unschöne Rumoren im Bauch zu unterdrücken.
„Ist der auch hier? Wahrscheinlich sollte ich lieber ihn anmachen. Ich bin sicher, der würde mich nicht so sträflich abweisen.“
Erik schnaubte. Da hätte er sogar gern zugesehen. Also weniger dabei, wie Pierre sich mit Berger tatsächlich vergnügte. Vielmehr wäre es interessant zu wissen, ob der schillernde Vogel in der Tat dem Eisblock eine Reaktion hätte entlocken können.
„Was? Den frechen Schuljungen kann ich hervorragend mimen“, gab Pierre lachend zurück und wackelte mit den Augenbrauen. „Oh, ja! Lass uns etwas unartiger werden, damit Jean heute Abend den Oberlehrer auspackt.“
„Du bist echt schräg“, platzte es lachend aus Erik heraus. Pierre zuckte lediglich grinsend die Schultern und winkte ein weiteres Mal zur Bühne. Der Blick des Sängers war finster, aber das Lächeln schien ehrlich zu sein.
‚Komisches Paar‘, dachte Erik bei sich. Andererseits machte es durchaus den Eindruck, als würden sie damit gut klarkommen. Jedenfalls wenn das in der Tat ein verträumter Blick war, den Pierre in Richtung Bühne warf.
„Ihr könnt übrigens froh sein, dass man euch in den Gassen nicht direkt überfallen und ausgeraubt hat“, meinte Pierre kurz darauf beiläufig und nippte an seinem Bier. „Wobei die eher auf die Touristen abzielen, die dumm genug sind, alleine dort rumzulaufen. Bei mehreren Leuten sind sie meistens zu feige.“
Erik versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Wieso sprichst du eigentlich so gut Deutsch?“, fragte Erik stattdessen verhalten, um von der blöden Bemerkung abzulenken. Und der Tatsache, dass er offensichtlich einer dieser ‚dummen Touristen‘ gewesen war.
Pierre sah ihn einen Moment verwundert an, lächelte allerdings, als er antwortete: „Meine Eltern haben in München gearbeitet. Bin da aufgewachsen.“ Dann fügte er irgendein hastiges Kauderwelsch hinzu, das Erik nicht einmal ansatzweise verstand. „Darüber, wie gut dein Französisch ist, brauchen wir also nicht reden.“
Erik hob die Flasche und grinste um die Öffnung herum Pierre an, während er antwortete: „Mein Französisch ist hervorragend. Es hapert nur mit der Sprache.“
Pierres lautes Lachen war erfrischend. Er schlug Erik mit der Hand gegen das Bein und schwang sich anschließend neben ihn ebenfalls auf die Mauer.
„Du kannst ja doch frech werden. Und ich dachte schon, du bist in Wirklichkeit so ein verknöcherter impotenter alter Sack, der sich nur verflucht gut hat liften lassen“, fügte er weiterhin glucksend hinzu. „Echt keine Lust, mit zu kommen? Jean hat nichts gegen zusätzliche Gesellschaft und ich bin sicher wir könnten eine Menge Spaß haben.“
Erik stockte, konnte aber fühlen, wie sich seine Wangen schon wieder erhitzten. Egal, wie oft er sich sagte, dass Pierre nicht sein Typ war, dessen Art hatte etwas. Und dieser Jean da auf der Bühne war schon deutlich eher Eriks Fall. Aber bei dem Gedanken, mit den beiden irgendwo hinzugehen, zog sich sein Magen krampfartig zusammen.
Vielleicht hatte Alex ja doch recht, wenn er sagte, dass Erik verklemmt war und manchmal uralt wirkte. Aber die Aussicht auf einen Dreier löste nicht wirklich mehr als geradezu gigantische Unsicherheit und das entsprechende Unbehagen in ihm aus. Pierres Ellenbogen drückte sich gegen Eriks Seite und leises Lachen ertönte neben seinem Ohr. Warmer Atem strich über seinen Hals und jagte Erik einen weiteren Schauer den Rücken hinunter.
„Nicht dein Ding, hm mein Süßer?“ Zwar war es ihm reichlich peinlich, trotzdem schüttelte Erik schweigend den Kopf. Feixend fuhr Pierre fort: „Mit deinem Schnuckelchen von Lehrer würde ich mich eh nicht ernsthaft anlegen.“
Warum diese Worte einmal mehr das dämliche Kribbeln im Bauch entfachte, wollte Erik eigentlich gar nicht wissen. Aber je länger er schwieg, desto heftiger wurde das blöde Gefühl und umso klarer hörte er die Antwort darauf in seinem Kopf.
‚Weil du ihm dann nicht scheißegal wärst.‘
Bei dem Gedanken kamen ihm Bergers Worte vom Vormittag in den Sinn: „Manche Sachen sind es wert, dass man sie nicht aufgibt.“
Vielleicht war er dem Blödmann tatsächlich nicht völlig egal. Zumindest genug wert, um nicht abgeschoben und aufgegeben zu werden. Bei dem Gedanken konnte Erik wieder das Kribbeln im Bauch spüren.
‚Wie viel ist er dir denn wert?‘
Erik schaffte es, das Ächzen zu unterdrücken, das ihm bei dem Gedanken entkommen wollte. Die Frage sollte egal sein, genauso wie die Antwort darauf. Dann war es eben nur Neugier. Und die würde enden, sobald sie endlich befriedigt wäre. Genau so, wie es sein sollte. Denn ein blöder Lehrer hatte Erik nichts zu bedeuten. Der Stich im Magen ließ ihn jetzt doch zusammenfahren.
„Was ist los?“, fragte Pierre neben ihm. Erik versuchte zu lächeln, schaffte aber wohl kaum, mehr als ein schiefes Grinsen auf die Lippen zu bringen. Noch immer feixend schubste Pierre diesmal gegen seine Schulter. „Muss ich Angst haben, dass er gleich hier auftaucht und mich vermöbelt?“
„Sicher nicht“, flüsterte Erik heiser.
„Hm ...“, brummte Pierre.
Dessen gegen Erik lehnender Körper fühlte sich immer mehr wie ein zentnerschweres Bleigewicht an. Als kurz darauf zusätzlich eine freche Hand recht vehement in Eriks Schritt geschoben wurde, zog er zischend die Luft ein.
„Ist dein Jean noch nicht gereizt genug?“, presste Erik zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus.
„Oh, der schon.“
Wie war denn das zu verstehen? Unsicher sah er zu Pierre, aber da der den Kopf weiterhin gegen Eriks Schulter lehnte, konnte dieser dem frechen Franzosen nicht ins Gesicht sehen.
„Wie meinst du das?“, fragte Erik heiser.
„Wie heißt dein hübscher Lehrer eigentlich?“
Das Stechen wurde stärker. Trotzdem schaffte Erik, es zu ignorieren und leise zu antworten: „Herr Berger.“
Pierre lachte. „Macht das Spiel vielleicht realistischer, aber ich meinte den Vornamen, du Dummerchen.“
Allmählich wurde das Stechen zu einem Bohren. „Keine ... Ahnung“, hauchte Erik zögerlich.
Pierre richtete sich auf und sah ihn schmollend an. „Veralbere mich nicht. Das ist gemein.“ Erik zuckte mit den Schultern. „Ach komm schon. Willst du mir erzählen, dass man das bei euch nicht einfach nachschauen kann?“
Erik seufzte und schüttelte leicht den Kopf, während er vorsorglich einen weiteren Schluck nahm. Die blöde Flasche war damit schon wieder leer. Aber zumindest schien es das schwarze Loch im Bauch ein stückweit zu füllen. Dafür begann sich allmählich eine nur zu bekannte Leichtigkeit im Kopf auszubreiten.
Grinsend zauberte Pierre erneut ein Handy hervor. Für eine Sekunde fragte Erik sich, wo der Mann das Ding überhaupt in diesem Outfit verbergen konnte. Ehe er genauer darüber nachdenken konnte, sah Pierre ihn jedoch schon herausfordernd an und fragte: „Wo kommt ihr her und wie heißt deine Schule?“
Schnell schüttelte Erik den Kopf und winkte ab. Nur einmal hatte er im vergangenen Schuljahr ansatzweise versucht, etwas über Berger online zu erfahren. Und noch immer widerstrebte es ihm, das wieder zu tun. Es fühlte sich falsch an – zu einfach. Vor allem würde es die eigentlich drängenden Fragen in Erik ohnehin nicht klären.
„Nicht“, bemerkte er entsprechend zurückhaltend gegenüber Pierre.
Der ließ sich aber nicht davon abhalten. „Ach komm schon! Jetzt mach dich mal locker, mein Süsser.“
Seufzend gab Erik nach und murmelte sowohl den Namen seiner Schule als auch die Stadt, aus der sie kamen. Mit zunehmend heftiger schlagendem Herzen beobachtete er, wie Pierre auf dem Handy einen Browser aufrief und nach der Internetseite ihrer Schule suchte.
In Eriks Kopf kreiste derweil die Frage, ob er hoffen sollte, dass der Mann etwas fand. Die Antwort blieb jedoch aus. Denn sofort kam Bergers Bemerkung vom Nachmittag schon wieder in ihm hoch. Was, wenn die Neugier befriedigt war?
„Och, wie gemein“, jammerte Pierre in diesem Augenblick und zog damit Eriks Blick erneut auf sich.
„Was ist?“
Pierre hob das Handy und verzog schmollend den Mund. „Steht nur ‚R.‘ dort.“
Ungläubig starrte Erik zunächst auf Pierre und danach auf das Display, das dieser ihm hinhielt. Tatsächlich hatte der Kerl scheinbar ihre Schulwebseite gefunden und auf der Übersicht der Kursleiter des Abschlussjahrganges auch Bergers Profil. Jedenfalls war das kleine, passbildähnliche Foto unverkennbar.
„Wow, der ist sogar älter als ich. Na gut, ist ja auch fertig studiert und alles“, murmelte Pierre. Die Enttäuschung schwang weiterhin in seiner Stimme mit.
Erik zögerte erneut, dann ergriff er jedoch Pierres Hand und drehte sie, sodass er selbst besser auf das Handy schauen konnte.
„Achtundzwanzig“, murmelte Erik leise, nachdem sein Hirn automatisch die Jahreszahl in Bergers Alter umgewandelt hatte.
Der erwartete Vorname war jedoch in der Tat nicht vermerkt. Verwundert scrollte Erik mit dem Finger kurz nach oben und unten, aber auch bei den übrigen Lehrern war der Vorname abgekürzt. Berger war damit also zumindest nicht allein.
Da weder Pierres noch Eriks Neugier hiermit befriedigt werden konnte, packte Ersterer das Handy wieder weg. „Schade“, bemerkte er erneut. Dann grinste er Erik plötzlich an und meinte: „Wir könnten raten! Wie wäre es mit ... Rudolf?“
Wie automatisch verzog er selbst das Gesicht. „Eher nicht.“
„Okay ...“ Pierre überlegte erneut und sah dann mit einem weiteren Grinsen zu ihm. „René!“
„Weiß nicht ... Ist, glaube ich, etwas zu französisch“, antwortete Erik, konnte sich aber ein eigenes Lächeln nicht verkneifen.
„Na ja, er unterrichtet es ja offenbar und spricht auch fast akzentfrei“, bemerkte Pierre mit einem Schulterzucken.
Womöglich war es der Alkohol, der noch immer für zunehmende Leichtigkeit in Eriks Hirn sorgte, aber das Spiel fing an, ihm Spaß zu machen. Trotzdem antwortete er zweifelnd: „René Berger ... Ich weiß nicht.“
„Raphael? Richard? Raimund? Schade, dass du nicht Julian heißt, sonst ...“, fuhr Pierre lachend fort. Das Glucksen wurde dabei mit jedem Namen lauter, bis auch Erik nicht mehr widerstehen konnte und lauthals in das Lachen mit einfiel.
„Est-ce que tu t’amuses?“, knurrte es mit einem Mal vor ihnen.
„Hä?“
Verwundert sah Erik auf und sich prompt einem finster dreinblickenden Franzosen gegenüber, der vor ein paar Minuten noch auf der Bühne gestanden hatte. Erst jetzt fiel Erik auf, dass entsprechend die Band nicht mehr spielte.
„Jean!“, quietschte Pierre begeistert, sprang von der Mauer und dem weiterhin wütend zu Erik funkelndem Mann förmlich an den Hals. Was auch immer er danach dem Kerl ins Ohr flüsterte, es glättete offenbar die Wogen – zumindest dessen gerunzelte Stirn.
„Haut er mir jetzt doch noch eine rein?“, fragte Erik sicherheitshalber nach, auch wenn es momentan nicht wirklich den Anschein machte.
Schnell schüttelte Pierre den Kopf und drückte Jean einen Kuss auf die Wange. Mit einem Augenzwinkern in Eriks Richtung raunte er anschließend: „Nein, aber vielleicht hab ich Glück und er versohlt mir heute Abend trotzdem noch den Hintern.“
„Hm?“
Offenbar verstand Jean genauso gut Deutsch wie Erik Französisch, denn er sah fragend zwischen ihnen beiden hin und her. Die Furchen auf der Stirn wurde aber schon wieder tiefer. Hastig winkte Erik ab und lächelte gequält.
„Es war nett, mit dir zu plaudern“, meinte Pierre mit einem weiteren Lachen.
Er löste sich von Jean und krallte sich stattdessen Eriks T-Shirt kurz unter dem Halsausschnitt. Ehe er selbst angemessen reagieren konnte, hatte Pierre ihn schon zu sich heruntergezogen und ihm einen Kuss auf die Lippen gedrückt. Erik war zu überrascht, um sich zu wehren, als eine ausgesprochen freche Zunge gegen seine eigene stieß. Das Knurren hinter dem forschen Franzosen sprach Bände. Vermutlich arbeitete Pierre weiter daran, seine erhoffte Strafe zu erhöhen. Dazu dürfte das freche Zwinkern, das er Erik schenkte, wohl ebenfalls beitragen.
„Falls du es dir noch überlegst, Jean spielt diese Woche jeden Abend hier. Und wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, wünsch ich dir einen schönen Urlaub.“ Pierre lachte glucksend, löste seinen Griff jedoch von Eriks Shirt. „Vielleicht schaffst du es ja sogar, das Geheimnis des ‚R.‘ zu lösen.“
Den Kommentar ließ Erik lieber so stehen und verabschiedete sich stattdessen von dem weiterhin zufrieden grinsenden Pierre und einem deutlich verkniffener dreinschauenden Jean. Einen Moment lang sah Erik ihnen nach, während sie in Richtung Bühne verschwanden. Erst als die beiden zwischen den anderen Leuten am Strand verschwunden waren, wurde Erik klar, dass sich sein mentaler Quälgeist diesmal gar nicht eingemischt hatte.
„Zu spät“, murmelte er leise und sah auf das eigene Handy.
Inzwischen war es zehn Uhr. Eigentlich nicht wirklich ‚spät‘, aber nach dem langen Tag fühlte Erik sich müde und geschafft. Der Alkohol von dem Zeug, das Pierre ihm besorgt hatte, dürfte sein Übriges tun. Wobei er weit davon entfernt war, sich betrunken zu fühlen. Erik lächelte. Zumindest hatte Pierre in der Tat für recht gute Unterhaltung gesorgt. Auch wenn es nicht die Art war, die Alex ihm vor der Fahrt vorgeschlagen hatte.
„Besser ist es“, nuschelte Erik, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen.
Bei dem Gedanken, dass er Pierre und Jean tatsächlich hätte begleiten können, spürte Erik schon wieder die Hitze in die Wangen steigen. Allerdings auch das einsetzende Kribbeln unterhalb der Gürtellinie. Dieser Jean hatte durchaus was gehabt.
‚Ja. Eine Körpergröße von um die 1,80 Meter und schwarze Haare‘, mischte sich jetzt doch der Quälgeist giftend ein.
Erik stöhnte und schüttelte den Kopf. Den Fehler, sich jemanden zu suchen, in dem er diesen Blödmann von Lehrer sehen konnte, hatte er schon einmal gemacht. Das hatte am Ende nur zu jeder Menge Ärger und Bauchschmerzen geführt. So einen Mist würde Erik sich sicherlich nicht noch einmal antun. Wobei Jean abgesehen von der Haarfarbe und der Körpergröße nicht wirklich was mit Berger gemein gehabt hatte. Allen voran die lockeren zehn bis zwanzig Kilo, die Jean Eriks Lehrer voraushaben dürfte.
Erneut startende Musik holte ihn aus den Gedanken an Berger zurück. Als Erik zur Bühne sah, war die Band jedoch nicht da. Offensichtlich war man dazu übergangen, die Musik per Lautsprecher einzuspielen. Die Tanzwütigen am Strand schien das nicht zu interessieren. Erik ließ einen Blick über die Massen gleiten, konnte aber im Moment weder Berger noch Sophie oder jemand anderen aus seinem Kurs erkennen.
Nicht willens um die Uhrzeit bereits in die Herberge zurückzukehren, ließ Erik die Musik eine Weile auf sich einrieseln, versuchte wenigstens, dem Rhythmus zu folgen, da er auch hier den Text nicht verstand. Obwohl er nicht das geringste Bedürfnis danach hatte, sich in die zappelnden Massen am Strand zu begeben, fing der Abend an, auf seine Weise Spaß zu machen.
Erik lächelte. Es war zwar auf keinen Fall die Art von Unterhaltung, die Alex gemeint hatte, aber er fühlte sich trotzdem deutlich besser als am Nachmittag. Er hob die Flasche, um einen weiteren Schluck zu nehmen, bevor ihm einfiel, dass die ja schon wieder leer war. Mit einem Blick zur Bar überlegte Erik, ob er sich noch eine Flasche von dem Zeug holen sollte. Was auch immer das war, es schmeckte. Womöglich machte ihn ein weiterer Drink locker genug, um jemanden zu finden, mit dem er den Spaß haben konnte, den er Pierre verweigert hatte.
‚Vielleicht solltest du eher Berger eins mitbringen.‘
Bei dem Gedanken musste Erik prustend lachen. Als ob der Kerl jemals einen Drink von ihm annehmen würde. Er seufzte und versuchte, die schon wieder aufkommende, trübe Stimmung zurückzudrängen. Trotzdem kam Erik nicht umhin, sich die Wahrheit einzugestehen: Für Berger war er weiterhin nur ein Kind, das man beaufsichtigen musste. Trotzig starrte Erik auf das Etikett der leeren Flasche.
‚Von wegen zehn Meter. Wo ist dein Aufpasser denn jetzt?‘
Verstohlen versuchte Erik ein weiteres Mal, Berger unter den Leuten um ihn herauszumachen. Trotz des fortschreitenden Abends und der aktuell pausierenden Band schien die gute Stimmung ungebrochen. Die aufgehängten Laternen konnten die immer tiefer werdende Dunkelheit jedoch stetig schlechter erleuchten. Als er keine fünf Meter von sich entfernt ein knutschendes Pärchen entdeckte, war Erik ziemlich klar, dass die Laternen wohl eher nicht dafür da waren, irgendetwas zu ‚erleuchten‘.
Jetzt, wo er das erste Paar gesehen hatte, fielen ihm immer mehr auf. Etwas weiter den Strand hinauf entdeckte er Sophie und ihrer beiden Mitschülerinnen. Die schienen inzwischen recht ungehemmt mit zwei Herren zu flirten, die bei ihnen standen.
Erik runzelte die Stirn. Er hatte sich doch fest vorgenommen gehabt, auf dieser Fahrt ‚Spaß‘ zu haben. Wenigstens etwas Ablenkung würde er hier heute Abend sicherlich finden können – wenn er sich wirklich darum bemühte. Anstatt Pierres Angebot für genau das anzunehmen, saß er aber lieber weiterhin alleine rum. Fühlte sich nach einem Bier und den beiden ‚was auch immer‘ nicht einmal wirklich angetrunken.
‚Spaß sieht anders aus.‘
Erneut begann Erik, mit dem Etikett der Flasche zu spielen. Abgesehen davon, dass er keine Ahnung hatte, wen er ansprechen sollte, wusste er sowieso nicht, was er dann sagen könnte. Dahingehend schien auch der Alkohol nicht zu helfen. Zumal die Chancen gut standen, dass Erik sich mit ein wenigen Brocken gestammeltem Französisch noch mehr zum Affen machen würde als auf Deutsch. Dummerweise hatte er nach den paar Jahren in der Unterstufe genug von der Sprache gehabt und sie abgewählt.
‚Sei froh. Am Ende hättest du Berger da auch noch als Lehrer bekommen.‘
Bei dem Gedanken musste Erik grinsen. Vor allem als ihm sein mentaler Quälgeist vor Augen führte, welche Art von Französisch er nur zu gern mit Berger als Lehrer üben wollte. Um Aussprache und Grammatik ging es dabei jedenfalls nicht. Das glucksende Lachen, das ihm entkam, war eindeutig dem Alkohol geschuldet, versuchte Erik sich einzureden.
‚Zeit zu verschwinden‘, sagte er sich selbst, nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte.
Was wollte er hier erreichen? Wenn Erik von dem Zeug, das Pierre ihm gegeben hatte, noch mehr trank, würde er am Ende tatsächlich morgen früh in dem ‚unangemessenen Zustand‘ aufwachen, den Berger ihm prophezeit hatte. Und letztendlich hatte er heute Abend sowieso kein wirkliches Verlangen mehr danach, sich auf irgendeinen anonymen Fick im Halbdunkel der Lampions einzulassen.
„Besser so“, seufzte Erik, sprang von der Mauer und griff nach dem Rucksack.
Noch einmal ließ er einen Blick über die umherstehenden Leute wandern. War ja nicht so, als ob es ihn wirklich interessieren würde, was Berger gerade trieb. Das unschöne Gefühl in Eriks Brust, gepaart mit einer wachsenden und bisher heute Abend reichlich unbefriedigenden Neugier wurde dennoch stärker. Dummerweise war Berger nirgendwo zu sehen. Jedenfalls nicht in den zehn Meter Umkreis, den der Blödmann für Erik festgelegt hatte.