48 – Bewusste Provokation
Die Ablenkung durch das Bier half nicht. Der Druck in Eriks Inneren war zu groß und der eigene Widerstand zu gering. Er stellte die Flasche neben sich ab und ehe Berger reagieren konnte, saß Erik mit einem Mal auf dessen Schoß. Ein Platz, den Erik bisher noch nie bei einem Mann eingenommen hatte.
Als Erik den Kopf vorbeugte, wanderte Bergers nach hinten – bis er gegen den Pfosten stieß. Er hielt inne, versuchte irgendetwas in diesen verfluchten grünen Augen zu lesen. Aber Erik konnte es nicht. Vor allem er konnte sich nicht einmal einreden, dass es zu dunkel war, denn der verdammte Mond strahlte, nachdem die Wolken vom Nachmittag weitergezogen waren, so beschissen kitschig und hell zu ihnen herunter.
„Sagen Sie ‚Nein‘“, forderte Erik Berger auf.
„Nein“, gab der prompt und mit einem fetten Grinsen im Gesicht zurück.
Stöhnend senkte Erik den Blick und ließ seine Stirn gegen Bergers fallen. Was für ein mieser, sturer ‚Blödmann‘. Doofkopf. Esel. Aber womöglich war Erik selbst der Idiot. Immerhin hatte er Berger bisher nur diesen Schund geschrieben. Sexfantasien, sonst nichts. Vielleicht nahm der ihn deshalb nicht ernst.
„Ich will Sie kennenlernen“, flüsterte Erik.
Er drehte den Kopf etwas zu Seite, hielt den Kontakt an der Stirn jedoch. Als Erik Bergers linke Hand ergriff, wehrte der sich nicht. Langsam hob er diese hoch und presste sie gegen die eigene Brust.
„Richtig kennenlernen. Den echten ... ‚Herrn Berger‘. Nicht nur den in der Schule.“
„Warum?“
Bisher war Erik die Hand nicht entzogen worden. Die Tatsache brachte das Herz darunter ein Stück weiter aus dem Takt, bevor es einen schnelleren Rhythmus wieder aufnehmen konnte.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Erik schließlich wahrheitsgemäß.
Denn ganz sicher war er sich weiterhin nicht, warum das alles dermaßen in ihm tobte. Weshalb es ihn überhaupt interessierte. Berger war auch nur ein Mann. Ein Kerl, wie vermutlich zig andere.
Und trotzdem anders. Auf eine unbestimmbare Art und Weise.
Womöglich war es also tatsächlich Neugier, die ihn antrieb. Erik konnte nicht mal ausschließen, dass die enden würde, sobald sie befriedigt war – sobald er selbst befriedigt war.
Die warme Hand auf Eriks Brust schien das verfluchte Loch da drinnen zwar nicht zu schließen, allerdings ein Stück weit abzudichten. Er schloss die Augen. Die harte Stirn, die gegen seine eigene drückte, hätte vielleicht unangenehm sein sollen. Aber es war der einzige direkte Kontakt, den er bisher hatte herstellen können. Die Angst, dass er enden würde, sobald Erik den Blick hob, ließ ihn weiter zögern.
„Ich will keinen Illusionen nachlaufen, so wie Werther. Aber was Sie darüber gesagt haben, was er sucht ... klingt zu gut“, flüsterte Erik irgendwann. „Und ich glaube immer mehr, dass ich das bei Ihnen finden kann.“
Einen Moment lang schwieg Berger. Den Daumen, der einmal über seine Brust rieb, bildete Erik sich hoffentlich nicht nur ein. So oder so beschleunigte dieser seinen Herzschlag ein weiteres Mal.
„Ein ... Ort, wo Sie sein dürfen, wer Sie wirklich sind?“ Erik schwieg, wollte diesmal keine Antwort geben. Schon wieder rieb der Daumen über seine Brust. „Dafür müssten Sie erst einmal akzeptieren, wer Sie sind.“
Der Widerwillen, sich überhaupt zu bewegen, war groß, trotzdem hob Erik den Kopf ein Stück an. Bergers Blick hingegen war gesenkt, dürfte irgendwo in der Region liegen, in der sich ihre Hände befanden.
Das anhaltende Schweigen war merkwürdigerweise nicht so bedrückend, wie Erik es sich vorgestellt hätte. Im Gegenteil schien es seinen Puls sogar zu beruhigen. Es kostete trotzdem einiges an Überwindung, die Hand auf seiner Brust loszulassen und stattdessen Bergers Kopf zu umfassen. Wenigstens wehrte der sich nicht, während Erik ihn dazu zwang, nach oben zu sehen.
„Wer bin ich denn?“
Mit etwas zu viel Druck, als dass Erik es ablehnend werten konnte, fuhr die Hand auf seiner Brust zur Seite und dort hinab in Richtung Hüfte. Erst nachdem sie da angelangt war, fiel sie schließlich kraftlos zu Boden. Bergers rechter Mundwinkel zuckte und verleitete damit diesmal Erik, mit dem Daumen darüberzustreichen.
„Im Moment sind Sie immer noch mein Schüler.“
Einbildung. Garantiert. Trotzdem klammerte Erik sich an den Eindruck, dass da eine Spur Bedauern in Bergers Stimme mitschwang. Immerhin würde das seinen Auftritt hier vielleicht weniger jämmerlich erscheinen lassen.
Erik fuhr mit dem Daumen über Bergers Unterlippe. Der Drang, sich vorzubeugen, fraß sich förmlich durch seine Eingeweide. Aber wenn er sich jetzt diesen Kuss holte, wäre er genauso wie Hanna. Obwohl Erik sich ziemlich sicher war, dass Berger bei ihm nichts dagegen hätte. Immerhin saß er hier weiterhin bei dem Kerl auf dem Schoß, ohne dass der ihm zumindest drohen würde, die Eier abzureißen.
‚Reicht trotzdem nicht, um überzeugend genug zu sein.‘
Eriks Hände wanderten am Hals hinab, bis sie auf Bergers Schultern lagen. Nur zu gern hätte er sie tiefer bewegt. Den Saum des Shirts ergriffen und es Berger über den Kopf gezogen.
Würde der sich wehren? Vielleicht. Wahrscheinlich. Und wenn nicht? Erik saß noch immer hier. Da war keine Ablehnung in Bergers Blick. Außerdem konnte der Kerl sich wehren. Tat er aber nicht. Machte er nie. Nicht bei Erik.
In seinem Bauch begann ein leichtes Brennen, das sich als Pulsieren auf den Weg südwärts machte. Nicht so drängend, wie früher im Unterricht, eher ein dezentes Kribbeln. Mit dem Finger fuhr Erik den Ausschnitt des T-Shirts entlang.
Nur zu gern wollte er diesen verdammten Fetzen Stoff Berger vom Leib zerren. Als ob damit auch der beschissene Schutzpanzer endlich fallen könnte, den der Kerl versuchte aufrechtzuerhalten. Eriks ließ seine Hand tiefer gleiten, das Brustbein entlang, bis er auf Bauchhöhe stoppte.
„Ich werde nicht aufgeben, solange Sie mich nicht davonjagen“, murmelte Erik verhalten, den Blick stur auf die eigenen Finger gerichtet, die noch immer federleicht auf Bergers Bauch lagen.
„Ich bin nicht der Mann aus Ihren Aufsätzen, Erik.“
Ein Lächeln zog kurzzeitig an dessen Lippen, aber es verschwand so schnell, wie es gekommen war. Dass Berger weder der Kerl war, der sich einfach so im Klassenzimmer vögeln ließ, noch der unschuldige, nette Lehrer, den alle anderen sahen, war Erik klar.
„Wer sind Sie dann?“
Aus dem Augenwinkel konnte Erik ein gequältes Lächeln sehen. Das verdammte schwarze Loch riss ein Stück weiter auf. Trotzdem – für eine Sekunde glaubte Erik, irgendetwas durch die sorgsam gepflegte Fassade hindurchschimmern zu sehen. Etwas Verletztes, das so gar nicht zu Berger passte.
„Ihr Lehrer?“
Erik schnaubte und erhob sich wieder. Mit einem extra theatralischen Seufzen schnappte er sich die eigene Bierflasche vom Boden und setzte sich danach auf den Platz neben der Tür, den Erik zuvor schon gehabt hatte.
Dass er seinen halbsteifen Schwanz erst einmal zurechtrücken musste, damit das Sitzen einigermaßen bequem war, versuchte Erik nicht zu verstecken. Warum auch? Berger dürfte klar sein, dass er scharf auf ihn war. Und falls nicht, wurde es Zeit, dass der sture Esel es endlich kapierte.
Das verdammte Bier schmeckte dafür, dass Erik es maximal ein paar Minuten vernachlässigt hatte, erstaunlich schal. Aber vielleicht würde das im Augenblick sogar ein frisch gezapftes. Kalt war es vorher schon nicht mehr gewesen. Trotzdem zwang Erik es sich rein, einfach um nicht gehen zu müssen.
„Wieso sind Sie so verbissen?“, fragte Berger mit einem Mal. „Sie wissen nichts über mich.“
„Weil Sie mir nichts sagen“, schoss Erik prompt zurück.
„Ich bin zehn Jahre älter als Sie ...“, setzte Berger erneut an.
Darüber konnte er selbst jedoch nur schnaubend lachen. „Neun.“ Immerhin bekam er dafür ein Lächeln.
„Kein sonderlich großer Unterschied“, murmelte Berger trotzdem und zog die Beine zum Schneidersitz an.
Die Bierflasche blieb weiterhin unangerührt neben ihm stehen. Stattdessen spielte der Kerl inzwischen mit dem Verband an der rechten Hand herum. Erst jetzt fiel Erik auf, dass der noch einmal gewechselt worden war. Der Gedanke, dass Hanna dabei möglicherweise im Spiel gewesen war, bereitete ihm erneute Übelkeit.
„Ich dachte, Sie haben keine Angst vor mir.“
Das war wohl Herausforderung genug, denn prompt sah Berger wieder zu Erik hinüber. Bildete er sich dieses Glitzern in den grünen Augen tatsächlich nur ein? Oder war es ein Ausdruck seiner eigenen Hoffnung darauf, dass er durchaus eine Chance hatte.
„Sie haben keine Ahnung, was Angst wirklich ist, Herr Hoffmann.“
Die Worte klangen leicht dahingesagt. Erik meinte sogar ein dezentes Lachen darin zu hören. Trotzdem zogen sie ihm die Eingeweide zusammen. Berger hatte nicht ganz unrecht. Die einzige Art von Angst, die er kannte, war die Panik, die ihn seit ein paar Jahren vor tiefem Wasser erfasste. Und er wusste nur zu genau, woher die kam. Alle anderen Situationen in Eriks Leben, in denen er leichthin gesagt hätte, dass er Angst gehabt hatte, waren rückblickend nie wirklich gefährlich gewesen.
„Mag sein“, antwortete Erik. „Ich möchte trotzdem nicht, dass Sie vor mir Angst haben. Ich werde nichts tun, was Sie nicht wollen.“
Bergers Lächeln wurde für einen Moment wieder zu dem herausfordernden Grinsen: „Dafür müssten Sie wissen, was ich will.“
„Solange Sie es mir nicht sagen oder zeigen, werde ich es wohl auf eigene Faust herausfinden müssen.“ Erik hob den Blick und funkelte Berger mit einem breiten Grinsen an. „Zehn Meter. Richtig? Soll Hanna doch das Kotzen kriegen, ist mir egal. Ich werde Sie weder ihr noch jemand anderem überlassen.“
Berger war der Erste, der den Blick abwandte, zurück auf seine Hände, die weiterhin im Schoß lagen. „Sie sollten damit aufhören, Erik“, meinte er verhalten. „Wer mit Feuer spielt, verbrennt sich leicht.“
Die Antwort war dämlich, drängte sich aber sofort auf: „So heiß sind Sie nun auch wieder nicht.“
Das darauf folgende Lachen war beruhigend und schien die gedrückte Stimmung zu heben. Allerdings hatte Erik keine Ahnung, was er jetzt noch sagen sollte. Ins Bett gehen, stand außer Frage, dafür war er zu wach. Berger schien jedoch durchaus einen müden Eindruck zu machen. Für heute wollte Erik aber ein bisschen länger egoistisch sein. Immerhin hatte Berger ihn weder vom Schoß gestoßen, noch zum Teufel gejagt. Bei dem Gedanken machte sich ein weiteres hoffnungsvolles Flattern in seinem Bauch bemerkbar.
„Was für einer Art Mann geben Sie eine Chance?“, fragte Erik nach einigen Minuten des Schweigens.
Einen Moment schien Berger zu überlegen, bevor er lächelnd antwortete: „Einem Gedankenleser.“
Mit einem Stöhnen ließ Erik den Kopf hängen und nuschelte: „Sie sind blöd.“
Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, dass Berger schon wieder am Verband seiner rechten Hand spielte. Das wirkte nervös, fast so, als würden er krampfhaft nach einer Beschäftigung suchen. Und vielleicht war das ja sogar der Fall. Aber es passt nicht zu Berger – weder zu dem toughen Lehrer noch zu dem angedeuteten Badboy. Zögerlich schob sich Eriks Hand in die Cargotasche an seinem Oberschenkel. Einen Moment zögerte er, doch schließlich zog er sie wieder heraus und warf Berger eine Packung Zigaretten in den Schoss.
Der griff überrascht danach und sah zu Erik: „Ich dachte, Sie rauchen nicht.“
Er zuckte mit den Schultern und konnte das eigene Grinsen nicht verstecken. „Sie sehen aus, als hätten Sie’s nötig. Und da ich sie ja nicht brauche ...“
Einen Moment zögerte Berger bevor er die Folie von der Packung riss. Er sagte nicht Danke. Fragte auch nicht, warum Erik als Nichtraucher überhaupt Zigaretten eingesteckt hatte – noch dazu die gleiche Marke, die Berger in den letzten Tagen geraucht hatte. Stattdessen zog der eine aus der Packung, steckte sie zwischen die Lippen und griff zum Feuerzeug.
Im gleichen Moment beugte Erik sich vor, um die zweite Bierflasche zu holen. Berger würde sie ja eh nicht trinken. Auffordernd hielt er diesem die Flasche unter die Nase, kaum dass die Zigarette glimmte.
„Aufmachen.“
Das dezente Grinsen um die Kippe herum ließ wieder den weniger glatt geschliffenen Herrn Berger durchschimmern. Ein Bild, das Eriks Schwanz kurzzeitig freudig zucken ließ, bevor er den Drang unterdrückte, die verfluchte Kippe zwischen den Lippen rauszuziehen und die eigenen darauf zu legen. Schweigend folgte Berger der Aufforderung und ebenso wortlos setzte Erik sich anschließend wieder auf den Platz neben der Tür. Mit für jeden anderen angemessen großem und trotzdem für ihn vermutlich unangemessen geringem Abstand zu Berger.
Der stellte die Beine auf und legte die Arme darauf, während er immer wieder die Zigarette zum Mund führte, um daran zu ziehen. Die grünen Augen schienen dabei keinen Millimeter von Erik zu weichen. Wirklich lesen konnte er sie wie immer nicht. Aber solange er diesen Blick auf sich spürte, blieb die Hoffnung bestehen. Das Kribbeln hielt sich, wurde stärker und damit auch die Schwierigkeit, sich zu beherrschen.
Irgendwann drückte Berger den Stummel neben dem Pfosten aus und stopfte ihn anschließend in Eriks bereits leere Bierflasche. Mit dem Kopf auf die Hand gestützt sah Berger lächelnd zu ihm hinüber.
„Was ist?“, fragte Erik, etwas verunsichert von dem merkwürdigen Blick.
Bergers Lächeln wurde breiter, aber er antwortete zunächst nicht. Stattdessen stand er auf und klopfte sich den Dreck vom Hintern. Schon wollte Erik nachfragen, als Berger neben ihn trat und die Tür zur Hütte öffnete. Auf der Schwelle zögert er jedoch. Noch einmal drehte er sich herum und sah zu ihm hinunter.
„Gute Nacht, Erik.“
Irgendetwas sagte ihm, dass das nicht die Worte waren, die dieser Sturkopf in Wirklichkeit sagen wollte. Aber was genau das gewesen wäre, würde Erik heute wohl nicht mehr erfahren.
„Gute Nacht, Herr Berger“, gab er deshalb im gleichen Tonfall zurück.
Nachdem die Zimmertür ins Schloss gefallen war, schien mit einem Schlag ein wahnsinniger Druck von Eriks Brust zu verschwinden. Was auch immer das hier eben zwischen ihnen gewesen war. Eine Abfuhr war es nicht. Berger hatte ihn schon wieder nicht weggestoßen.
Erik grinste und nahm einen weiteren Schluck aus der Bierflasche. „Noch drei Tage.“