52 – Ärgerliche Begleitung
Und so kam es, dass Erik sich ein paar Minuten später in einem kleinen Restaurant zwei Seitenstraßen weiter wiederfand. Den Platz neben Berger hatte er weder bekommen, noch ernsthaft für sich beansprucht. Stattdessen saß er diesem gegenüber – in Eriks Augen die deutlich bessere Wahl. Schließlich hatte er so Gelegenheit, den Mann in Ruhe zu beobachten, ohne dass es sonderlich auffiel.
Auch Hanna hatte es glücklicherweise nicht auf einen Platz neben Berger geschafft. Nicht, dass Erik sich tatsächlich Gedanken darüber gemacht hatte, dass die Frau irgendeinen Scheiß mitten in der Öffentlichkeit abziehen würde.
Das merkwürdige Gespräch mit Sophie gestern und erst recht das zwischen Hanna und Berger, welches Erik am späteren Nachmittag belauscht hatte, lagen ihm aber immer schwerer im Magen. Misstrauisch schielte er zu Hanna hinüber. Die unterhielt sich leise mit ihrer Freundin Alina und schien den Rest der Gruppe nicht weiter zu beachten.
‚Das ist albern‘, wies Erik sich selbst mental zurecht.
Hanna lief Berger zwar offensichtlich in einer Art und Weise hinterher, die mehr als ungesund war, aber die Aufsätze, die Erik dem Kerl vorgelegt hatte, waren auch nicht gerade harmlos gewesen. Egal wie sehr Berger es runterspielte, was teilweise in Eriks Kopf in den zurückliegenden Monaten vorgegangen war, drehte ihm inzwischen mitunter den Magen um. Was Sophie gesagt hatte, war garantiert völlig übertrieben. Erik schloss die Augen und versuchte die Übelkeit, die in ihm aufstieg, zurückzudrängen.
‚Warum machst du dir dann überhaupt Gedanken darüber?‘
Langsam öffnete Erik die Augen und sah zu Berger auf der anderen Seite des Tisches. Der saß auf den ersten Blick gelassen dort, aber die schmalen Lippen und die leicht zusammengekniffenen Augen erweckten in Erik einen anderen Eindruck. Berger war angespannt, sah nicht aus, als ob er sich gerade sonderlich wohlfühlte. Die Frage war, an wessen Gesellschaft das wohl liegen mochte.
‚So viel dazu, dass es ein guter Tag werden könnte.‘
Bis endlich das Essen kam, war Erik endgültig der Appetit vergangen. Lustlos stocherte er darin herum, während er hin und wieder die Gabel bis zum Mund führte. Allein der Geiz brachte Erik dazu, aufzuessen. Auf keinen Fall wollte er für etwas Geld ausgeben, das er am Ende nicht einmal gegessen hatte – und mit knurrendem Magen hier rausgehen.
Vorsichtig lugte Erik zu Berger hinüber. Der schien zur Abwechslung keine Diät halten zu wollen. Erik musste lächeln, während er Berger weiterhin im Auge behielt. Wahrscheinlich sollte er froh sein, dass der Mann sich nicht schon wieder Pommes bestellt hatte. Wobei so ein Anblick durchaus seinen Reiz hätte. Andererseits war das Publikum hier keines, mit dem er dieses Schauspiel teilen wollte.
Bei dem Gedanken sah Erik von Berger weg und weiter nach rechts. Dort saß zunächst Mirek, daneben Sophie. Prompt war die gute Laune vorbei. Obwohl Erik trotz aller Merkwürdigkeiten die Frau für recht nett hielt, war die Wahl ihrer Begleitung heute ausgesprochen fragwürdig. Um nicht zu sagen, ziemlich beschissen. Gerade hatte er das gedacht, als sie auch schon aufblickte und ihm zulächelte. Eriks Augen verengten sich.
‚Was zum Teufel hat sie vor?‘, fragte Erik sich, verwarf den Gedanken aber so schnell, wie er gekommen war.
Vermutlich dachte sie sich gar nichts dabei und er war es, der hier schon wieder zu viel über Dinge nachdachte, die vollkommen egal waren. Trotzdem nervte es, dass Sophie ausgerechnet einen von Eriks früheren Freunden angeschleppt hatte.
Erik warf einen flüchtigen Blick in Mireks Richtung. Das ganze beschissene Jahr über hatte der Kerl keinen Ton rausbekommen. Von Tag eins des Schuljahres an, war da nur noch Schweigen gewesen. Nein, eigentlich schon vom Tag ihres letzten gemeinsamen Lagerfeuers.
Ein verficktes Geständnis im Suff und danach war Funkstille. Am Anfang hatte Erik gedacht, es wäre Mirek und den anderen Jungs einfach unangenehm. Wäre ihm vermutlich ebenso gegangen, wenn die sich über ihre Ex-Freundinnen ausgeheult hätten. War ja auch irgendwie jämmerlich.
Aber dann kam der erste Schultag und Erik war schon bei seiner Ankunft von Sandro mit einem beschissenen Spruch begrüßt worden. Mirek hatte es gehört. Er war da gewesen. Und der Arsch hatte kein Wort gesagt.
Erik senkte den Blick. Das ganze Jahr über war da bei dem Gedanken an ebendiesen früheren Kumpel das wütende Brennen in Eriks Bauch gewesen. Aber im Augenblick wollte es nicht aufkommen. Stattdessen war da etwas anderes. Ein Gefühl, das Erik sich in den letzten Monaten nie hatte eingestehen wollen.
‚Es spielt keine Rolle mehr.‘
Womöglich war es gut, dass der Mistkerl sich das ganze Schuljahr über von Erik ferngehalten hatte. Alles, was Mirek jetzt sagen könnte, wäre am Ende eh nichts als dummes Gelaber. Falsche Entschuldigungen oder dämliche Ausreden – was sonst sollte dabei herauskommen? Nein, es war definitiv besser, wenn der Mirek einfach weiterhin sein Maul hielt.
„Was habt ihr jetzt vor?“, fragte Sophie in diesem Augenblick in die Runde.
Aus dem Augenwinkel konnte Erik sehen, wie Hanna zu Berger blickte. Die Frau sollte sich bloß nicht einbilden, dass sie dem Mann heute auf die Pelle rücken könnte. Erik würde an Bergers Hacken kleben wie ein alter Kaugummi.
„Sie sollten die Gelegenheit nutzen, sich in der Stadt umzusehen“, schlug ebender vor und nippte an einem Kaffee. „Immerhin ist es Ihre Abschlussfahrt. Da brauchen Sie wirklich nicht die ganze Zeit mit Ihrem Lehrer herumzuhängen.“
„Haben Sie uns jetzt doch endlich satt?“, fragte Sophie lachend zurück.
Anstatt zu antworten, lächelte Berger jedoch nur, wie er es immer tat. Trotzdem war Erik sich sicher, dass es nicht wie das Lächeln war, das er selbst in den letzten Tagen gesehen hatte. Eine Fassade, genau wie der kühle und zurückhaltende Ausdruck.
„Kennen Sie sich in Lyon aus, Herr Berger?“, fragte Hannas Freundin Alina.
„Hm“, brummte der und wiegte den Kopf hin und her. „So würde ich das nicht nennen. Ich war schon einmal hier, aber das ist eine Weile her.“
„Da kennen Sie bestimmt trotzdem die eine oder andere interessante Ecke“, mischte sich nun auch noch Hanna ein.
Sehr zu Eriks Freude war Bergers Stimme eher kühl und zurückweisend, während er antwortete: „Ich glaube nicht, dass diese ... Ecken für Sie die richtige Unterhaltung heute darstellen würden. Zumal ich mich für eine anständige Stadtführung tatsächlich nicht gut genug in Lyon auskenne.“
„Es ist schon nach halb vier“, fügte Sophie mit einem Blick auf ihr Handy hinzu. „Wenn wir noch etwas unternehmen wollen, sollten wir uns allmählich auf den Weg machen.“
Obwohl Erik auf irgendwelche ‚Unternehmungen‘ getrost verzichten konnte, folgte er den Übrigen und zahlte. Schließlich wollte er auf keinen Fall riskieren, dass er durch sein Gedankenchaos am Ende Berger aus den Augen verlor.
Während die anderen vor ihm das Restaurant verließen, hatte Erik nur Augen für einen Mann – genauer gesagt für dessen schwarzen Haarschopf – und den daran anschließenden Nacken. Die Schultern. Die Wirbelsäule. Als Eriks Blick schließlich den hübschen, in der eng anliegenden Jeans wie immer verboten gut aussehenden Po erreichte, musste er ein leises Stöhnen unterdrücken.
„Zehn Meter sind definitiv zu viel“, murmelte Erik. Das Lachen, das dabei in ihm aufstieg, konnte er gerade noch zurückhalten.
„Was ist?“, fragte Sophie, als sie sich mit einem Mal umdrehte.
„Hm?“
Sie sah ihn verwundert an. „Du hast doch eben etwas gesagt.“
Erik rang sich ein Lächeln ab und schüttelte den Kopf. „Nichts weiter.“
Schnell stopfte er die Hände in die Hosentaschen und folgte dem hübschen Hinterteil, das da vor ihm hin- und her wackelte. Alles, worauf Erik sich heute konzentrieren wollte, war, Berger nicht aus den Augen zu verlieren. Bei dem brauchte er wenigstens nicht zu befürchten, dass er plötzlich auf die Idee kam, einen Einkaufsbummel zu unternehmen. Erik grinste. Wobei ihn nicht einmal das heute davon abhalten würde, dem Kerl weiterhin an den Fersen zu kleben.
„Kommst Du mit uns mit, Erik.“
„Wie?“
Verwundert sah er erneut zu Sophie. Die lächelte ihn jedoch nur zufrieden an und deutete anschließend auf Mirek, der ein paar Meter vor ihnen neben Berger hertrottete.
„Mirek und ich wollten uns ein bisschen hier umsehen. Wenn es gar nichts Interessantes gibt, können wir uns auch ein Café su...“
„Verzichte“, zischte Erik, noch bevor sie den Satz beenden konnte.
Für einen Moment schwieg Sophie. Schließlich seufzte sie jedoch hörbar und wischte sich die Haare aus der Stirn, während sie antwortete: „Vielleicht wäre das eine Gelegenheit, um ...“
„Nein.“
„Ist das nicht kindisch?“
Schon wieder dieses beschissene Wort! „Ist es etwa erwachsen, wenn du rumläufst und Typen anmachst, um dich besser zu fühlen, weil dein Ex fremdgefickt hat?“
Der entsetzte Ausdruck auf ihrem Gesicht hätte Erik wahrscheinlich aufhalten sollen. Nein, ganz bestimmt wäre es besser gewesen, die Klappe zu halten. Im Grunde hatte er schon viel zu viel gesagt. Worte, die Erik normalerweise niemals ausgesprochen hätte. Erst recht nicht zu einem Mädchen.
Aber dieses lächerliche Getue ging ihm auf die Nerven. Mirek war Teil einer Vergangenheit, die Erik endlich abhaken musste. Ein verdammter Sommer und ein noch viel beschisseneres Schuljahr. Sie waren keine Kinder mehr, die sich nach einem Streit die Hände reichen und sich wieder lieb haben mussten.
Eriks Augen verengten sich. „Die Sache zwischen Mirek und mir geht dich nichts an“, zischte er wütend.
Hoffentlich würde das reichen, damit Sophie endlich aufhörte. Kaputt war kaputt. Wenn etwas abgestorben war, konnte man es nicht mehr reparieren. Vor allem wollte Erik das nicht. Was er wollte war Vergessen – wie es sich anfühlte, verraten und verkauft worden zu sein. Alleine da zu stehen. Die Wut, der Hass. Nichts davon wollte Erik noch in seinem Leben haben.
„Wir zwei sind keine Freunde, Sophie und wir werden es jetzt nicht mehr werden“, fuhr Erik leise fort. „Wenn Du deine kleine heile Welt wieder in Ordnung bringen willst, dann such dir ein anderes Opfer.“
Sophies Lippen waren nurmehr ein Strich. Ein Teil von Erik erwartete, dass sie sich von ihm abwenden und damit das Gespräch beenden würde. Doch sie lief weiter, hielt dabei sogar seinen Blick. Und irgendwie machte das Erik nur noch wütender.
„Treib deine Spielchen von mir aus mit Mirek weiter“, fuhr er zischend fort. „Zumindest kannst du dir bei ihm sicher sein, dass er dir nicht fremdgeht. So ein Arsch ist er nicht. Hat sich nur schon immer gern Hals über Kopf in jeden ausladenden Vorbau verknallt, der ihm vor der Nase rumgewedelt wurde.“
Diesmal schien Sophie für eine Sekunde zurückzuweichen. Ihr Blick wanderte von Erik weg und zu Mirek und Berger, die ein paar Meter vor ihnen liefen. Sophies rechte Hand kam nach oben und zog den Kragen ihres Shirts ein Stück weiter hoch in Richtung Hals.
„Also brich ihm sein beschissenes Herz, wenn du meinst dich damit an deinem Ex rächen zu können. Ich werde dich nicht aufhalten.“
Endlich konnte Erik sich von ihrem Anblick losreißen und sah nun seinerseits nach vorn. Berger und Mirek waren lockere fünf, sechs Meter vor ihnen. Ob sie seine Worte gehört hatten? Falls ja, zeigten beide keine Reaktion.
Für einen Moment war da ein Anflug von Reue. Weniger wegen Sophie und schon gleich gar nicht wegen Mirek. Aber jetzt, wo die Worte ausgesprochen waren, kam Erik der Hass, der darin lag, zu sehr wie kindischer Trotz vor.
‚Mirek ist selbst schuld‘, versuchte er sich zu beruhigen.
Aber die Unsicherheit blieb. Damit war es nicht mehr Sophie, auf die Erik sauer war, sondern er selbst. Missmutig stopfte er die Hände in die Hosentaschen und lief weiter.
„Willst du diese Wut auf ewig mit dir rumtragen?“, fragte Sophie kaum hörbar. Nachdem er nicht antwortete, fuhr sie fort: „Zum Verzeihen gehört mehr Größe als zum Hassen.“
„Hast du deinem Jerome jetzt auch plötzlich vergeben?“
Sophie zuckte mit den Schultern. „Vermutlich noch nicht. Aber irgendwann. Ich habe nicht vor, ihn deshalb ewig zu hassen.“
Mit einem belustigten Schnauben schüttelte Erik den Kopf. „Ist sowieso nicht das Gleiche.“
„Irgendwann wird es Zeit, mit der Vergangenheit abzuschließen“, meinte sie zögerlich.
Was für ein beschissener Haufen von Postkartensprüchen. Den Kommentar sparte Erik sich diesmal allerdings. Stattdessen richtete er die Augen wieder nach vorn. War schließlich auch eine Art und Weise, wie man Sophies Worte interpretieren konnte.
Dort sah er aber erneut Berger und ausgerechnet den Mistkerl Mirek. Kaum, dass er dessen Rücken ansah, brodelte in Erik die Wut wieder hoch. Dabei hatte er das ganze beschissene Schuljahr nicht über den Blödmann nachgedacht!
‚Warum gerade jetzt?‘
Weshalb musste Sophie sich einmischen? Es ging sie nichts an. Sie sollte gefälligst die Klappe halten. Wenn sie mit Mirek rummachen wollte, war das ihr Ding. Ihn hatte das nicht zu interessieren.
Eriks Augen wanderten ein Stück nach rechts – zurück zu Berger. Ein deutlich angenehmerer Anblick. Dem folgte er nur zu gern. Beinahe schaffte es ein Lächeln auf seine Lippen. Der eine ein Symbol seiner Vergangenheit – beim anderen hoffte Erik weiterhin, dass er zu einem Teil der eigenen Zukunft werden würde.
„Wenn Mirek mir etwas zu sagen hat, kann er das selbst tun“, sagte Erik tonlos. Erneut drehte er den Kopf zu Sophie und sah diese betont gelangweilt an. „Falls nicht, kannst du dir die angeblichen Weisheiten sparen.“
Sie schnaubte und hob in einer Geste, die wohl Resignation ausdrücken sollte, die Hände. Zumindest ließ sie ihn daraufhin in Ruhe. Stattdessen beschleunigte Sophie ihre Schritte und hakte sich bei Mirek unter. Der schien von der plötzlich so vertraulichen Geste zu recht überrascht. Trotzdem wehrte er sich kein Stück, während Sophie ihn schließlich mit sich zog und sich vom Rest der Gruppe verabschiedete.
Leider schlossen Hanna und Alina sich nicht an. Als Erstere auch noch dazu ansetzte, Mireks Platz neben Berger einzunehmen, beschleunigte Erik die Schritte und schob sich passend zwischen die beiden. Jetzt, wo Sophie und Mirek endlich verschwunden waren, würde Erik nur umso härter daran arbeiten, sein Versprechen von letzter Nacht einzuhalten. Mit einem geradezu hinterhältigen Grinsen sah er nach links zu Hanna. Die starrte missmutig zurück.
‚Die Fronten sind klar‘, wurde Erik einmal mehr bewusst.
Obwohl die Frau garantiert keine Ahnung hatte, wie weit er bereit war zu gehen. Der Ärger stand ihr so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass jeder Vollidiot ihn lesen konnte. Sollte sie doch toben. War ihm egal. In Erik tobte noch immer die Wut auf Mirek. Da der nicht mehr da war, erschien Hanna als Ziel ebendieser Wut einen durchaus adäquaten Ersatz darzustellen.
„Und?“, fragte Erik. „Was habt ihr zwei so vor?“
Für eine Sekunde presste Hanna lediglich die Lippen aufeinander, während ihre Augen sich verengten.
„Da wir uns hier nicht auskennen, würden wir uns Ihnen einfach weiter anschließen, wenn das für Sie in Ordnung ist, Herr Berger“, antwortete sie mit einem zuckersüßen Lächeln, das Erik eher zusätzliche Bauchschmerzen bereitete. „Vielleicht können Sie uns ja doch die eine oder andere Sehenswürdigkeit zeigen.“
„Hm“, brummte der gelangweilt und lief weiter. „Da müsste ich erst einmal überlegen, was in der Nähe liegt.“
Eriks Grinsen gegenüber Hanna wurde breiter. „Na ja“, meinte er mit einem verhaltenen Lachen. „Man sagt doch nicht umsonst ... der Weg ist das Ziel.“