77 – Verhinderte Konfrontation
„Es ist acht Uhr. In der Küche gibt es inzwischen bestimmt Kaffee.“
Überrascht öffnete Erik die Augen und drehte den Kopf zur Seite. Es dauerte ein bis zwei Sekunden, bevor die Worte es von seinen Ohren zu einer Synapse geschafft hatten, die bereit war, sie zu verarbeiten. Trotzdem antwortete er nicht sofort, starrte weiterhin zu Berger hinauf.
„Halten Sie mich jetzt doch wach?“, fragte Erik zurück.
Er versuchte, dabei zu grinsen, aber scheinbar waren inzwischen selbst Eriks Gesichtsmuskeln zu müde, um sich adäquat bewegen zu können. So wurde es wohl nicht mehr als ein verhaltenes Zucken um die Mundwinkel herum.
„Wenn es um einen Kaffee am Morgen geht, lässt sich darüber reden“, antwortete Berger mit einem zurückhaltenden Lächeln. „Bei allem anderen ...“
„Ich weiß“, unterbrach Erik mit einem Seufzen, bevor Berger es aussprechen konnte.
Kaffee klang vernünftig. Aber dafür hätte Erik aufstehen und sich bewegen müssen. Im Augenblick war hier zu sitzen und den Geräuschen des Morgens zu lauschen deutlich angenehmer. Erst recht, wenn er dabei Gesellschaft bekam.
Anstatt aufzustehen, lehnte Erik sich also erneut im Stuhl zurück. Der kippte ein Stück nach hinten, bis er gegen die Wand der Hütte stieß. Als er das rechte Bein ausstreckte, konnte Erik damit das Geländer erreichen.
„Passen Sie auf, dass Sie nicht umkippen, wenn Sie einschlafen“, ermahnte Berger ihn.
„Ich dachte, Sie halten mich wach“, gab er murmelnd zurück.
Ganz sicher würde Erik nicht zugeben, dass Berger natürlich vollkommen recht damit hatte, dass es dämlich war, hier mit dem Stuhl zu kippeln, obwohl Erik kurz davor war einzuschlafen. Aber letztendlich sollte genau das ihn ja davon abhalten endgültig wegzudämmern.
„Wie gesagt ... wenn wir von Kaffee zum Aufwachen reden ...“
Erik lachte leise auf. „Kaffee klingt gut“, gab er murmelnd zu.
Bei dem Gedanken an Frühstück fiel ihm allerdings etwas ganz anderes ein. Eine dunkle Erinnerung an etwas, das nie passiert war. Erik öffnete die Augen, um zu Berger zu sehen.
Der stand am Geländerpfosten neben der Treppe und blickte seinerseits direkt zurück. Glatt rasiert wie immer, die Haare ordentlich gekämmt, das übliche lange Hemd, Jeans. Berger sah ebenso geschniegelt aus wie an jedem verdammten Tag im letzten Schuljahr. Der korrekte Lehrer, hinter dem sich die wesentlich interessanteren Typen verborgen hielten.
Grinsend hob Erik die Hand und kratzte sich über die Stoppeln am Kinn. Eigentlich wollte er die Frage nicht stellen. Nein, korrekterweise sollte er diese Frage ganz sicher nicht aussprechen. Trotzdem konnte Erik sich nicht bremsen und die Worte waren heraus, bevor sein Verstand wach genug war, um ihn aufzuhalten.
„Haben Sie eigentlich einen Tisch in der Küche?“
Da war ein ausgesprochen heftiges Flattern in Eriks Bauch, als Berger sich räuspernd abwandte und zunächst zur Seite sah, bevor die grünen Augen ein weiteres Mal zu Erik zurückkehrten. Eine Antwort kam jedoch nicht sofort. Stattdessen schob Berger die Hände in die Hosentaschen. Für einen Moment hatte Erik den Eindruck, als würde der Sturkopf sich jetzt nur zu gern eine Zigarette anzünden. Wenn dem so war, tat Berger es aber nicht.
„Nein“, kam irgendwann die verspätete Antwort.
Erik konnte nicht verhindern, dass trotz allem das eine oder andere Bild aus seinem letzten Aufsatz durch seinen trägen Geist wanderte. Langsam sah er an Bergers Körper hinab, zwang sich allerdings, am Hosenbund innezuhalten. Eriks Blick verschwamm, während die Bilder im Kopf immer klarer wurden.
„Schade ...“, sagte Erik leise. „Aber sind ja noch fünf Jahre Zeit.“
Es war lächerlich im Moment überhaupt in so großen Zeiträumen denken zu wollen – erst recht, da Berger Erik ja bisher nicht einmal eine Antwort gegeben hatte. Aber irgendwie war die Aussicht zu verlockend. Weniger der Sex in der Küche. Wobei Erik der Erfahrung ganz sicher eine Chance geben würde. Diesmal verhieß das Kribbeln im Bauch trotzdem deutlich mehr als Sex oder einen weiteren Versuch in Sachen ernsthafte Beziehung.
Woher Eriks Verstand die Sicherheit nahm, dass – sollte Berger endlich zustimmen – das zwischen ihnen mehr als ein weiterer zum Scheitern verurteilter Versuch einer Beziehung sein würde, wusste er nicht. Trotzdem wusste Erik ganz genau, dass dieser Mann nicht einfach nur ein Mittel zum Zweck sein würde.
Wenn Berger erst einmal nachgab, würden sie auch diese fünf Jahre überleben – und noch viel mehr. Dessen war Erik sich absolut sicher.
Ein nicht gerade dezentes Räuspern Bergers riss ihn aus den abschweifenden Gedanken zurück in die Realität.
„Was ist?“, fragte Erik irritiert.
„Ihr Chaos setzt schon wieder ein“, antwortete Berger ruhig, lächelte sogar.
Erneut schien Eriks Blick zu verschwimmen, während er Berger anstarrte. Ein Kaffee, um der Müdigkeit entgegenzuwirken, erschien zunehmend vernünftiger. Denn da war in der Tat mal wieder ausgesprochen viel Chaos in seinem Kopf.
„Ich bin nicht verwirrt“, gab Erik trotzdem mit einem eigenen Lächeln zurück. „Bin nur ein bisschen müde. Aber ich weiß inzwischen besser denn je, was ich will.“
„Und das wäre?“
Erik zuckte mit den Schultern. Er ließ den Stuhl wieder nach vorn kippen und stand mit einem leisen Seufzen auf. Hinter Berger konnte er die Hecke sehen, die den Platz mit den neuen Hütten vom Haupthaus trennte. Zwei der Handwerker traten gerade um sie herum.
‚Als wäre das dein Stichwort.‘
Und vielleicht war es das ja. Denn auf Bergers Frage gab es im Grunde nur eine Antwort, die Erik im Augenblick geben konnte: „Darf ich Ihnen nicht sagen.“
„Warum?“
Erneut zuckte Erik mit den Schultern. Als er sich direkt vor Berger aufbaute, konnte der dank des Verandapfostens nicht ausweichen. Wieder verstärkte sich das Flattern in Eriks Bauch. Mit jedem Flügelschlag dieser jämmerlichen Schmetterlinge erhöhte sich auch seine Herzfrequenz. Sein Blick verschwamm und der Boden fühlte sich mit einem Mal viel zu wackelig an. Andernfalls wäre Erik doch bestimmt nicht nach vorn geschwankt. Nah genug, dass er beinahe schwach wurde.
Gerade noch rechtzeitig hob Erik die Hand und stützte sich für eine Sekunde an Bergers Schulter ab. Der rührte sich nicht. Bewegte sich auch kein Stück, nachdem Eriks Finger einen Moment zu lange über den glatten Stoff des Hemdes nach unten glitten.
Erik wollte mehr. So viel mehr.
„Hab’s versprochen“, hauchte er, darum bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie stark die Versuchung dank der Müdigkeit tatsächlich war.
Um ebendieser nicht doch noch zu erliegen, trat Erik beiseite, um Berger herum und ging langsam die Treppe herunter. Die beiden Arbeiter liefen zielstrebig auf eine der anderen Hütten zu, beachteten sie nicht einmal. Auch ihre zwei Kollegen, die jetzt ebenfalls aus Richtung Haupthaus kamen, sahen nicht zu ihnen hinüber. Hinter sich konnte Erik hören, wie Berger die Tür zur Hütte abschloss und anschließend zu ihm trat.
„Was haben die in den letzten Tagen eigentlich immer gesagt?“, fragte Erik, nachdem Berger neben ihm stand.
„Wer?“
Erik deutete flüchtig in Richtung der Handwerker. „Die da drüben. Zum Beispiel als Sie am Montag beim ersten Weckdienst ausgerastet sind.“
Berger räusperte sich und zuckte die Schultern. „Nicht so wichtig.“
Lachend drehte Erik den Kopf und stellte fest, dass der Sturkopf tatsächlich irgendwie peinlich berührt zu sein schien. „Also jetzt will ich es erst recht wissen“, meinte Erik mit einem weiteren Lachen.
„Dann hätten Sie in Französisch besser aufpassen müssen. Kann doch noch nicht so lange her sein und ein paar Brocken sollten ja wohl hängengeblieben sein.“
„Aus zwei Jahren? Also von der Sprache nicht viel“, gab Erik mit einem weiteren Grinsen zurück. Nachdem Berger genervt die Augen verdrehte, konnte er das zugehörige Lachen nicht mehr zurückhalten. „Ja, ja. Ich weiß“, meinte Erik. „Ist allmählich echt ausgelutscht.“
„Danke“, murmelte Berger, sah ihn dabei aber nicht an.
„Wobei ich kein Problem damit hätte, an etwas ganz anderem ...“
„Herr Hoffmann!“, unterbrach Berger ihn energisch.
„Tschuldigung“, meinte Erik grinsend.
Wirklich leid tat ihm hier inzwischen aber gar nichts. Im Gegenteil. Selbst wenn es nur die Müdigkeit sein sollte, die Eriks Verstand davon abhielt rechtzeitig einzuschreiten, bevor er solchen Unsinn von sich gab, so fühlte es sich gut an. Geradezu befreiend.
Seite an Seite liefen sie weiter in Richtung Hecke. Erst während sie gemeinsam den Weg am Haupthaus entlangliefen, fiel Erik auf, dass er nicht einmal darüber nachgedacht hatte, ob sie jemand zusammen sehen könnte. Nun, da er es bemerkt hatte, störte es allerdings auch nicht.
‚Die Fahrt ist bald vorbei‘, fiel Erik wieder ein. ‚Viele Gelegenheiten wirst du nicht mehr bekommen.‘
„Wobei ...“, murmelte er und blickte zu Berger. „Nein, tut mir überhaupt nicht leid. Und falls Sie nach einem Kaffee noch etwas Entspannung brauchen können ...“
„Erik. Bitte.“
„Doch Interesse?“
Berger stöhnte und schüttelte den Kopf. Das Grinsen konnte der Sturkopf aber trotzdem nicht ganz verstecken. Und genau das ließ in Eriks Bauch schon wieder die Seifenblasen platzen und die Schmetterlinge Loopings fliegen. Weiterhin ein ausgesprochen merkwürdiges Gefühl. Gefiel ihm aber stetig mehr.
„Herr Berger!“, rief mit einem Mal jemand.
Genervt verdrehte Erik die Augen, sagte aber nichts. Wahrscheinlich würde das ohnehin alles nur noch schlimmer machen. Zumindest würde es bestimmt nicht helfen. Seine Abwesenheit jedoch schon. Also lief Erik einfach weiter, während Berger brav stehen blieb und sich umdrehte.
„Was ist?“
„Kann ich kurz mit Ihnen reden?“
Am liebsten hätte Erik für Berger geantwortet, dass der gerade schon in einem Gespräch gewesen war. Aber das wäre weiterhin unangemessen. Und frech. Nicht zu vergessen, dass es ein, zwei Sätze später zusätzlich ‚kindisch‘ werden würde. Genau dann, wenn Erik Frau Farin ins Gesicht schmettern würde, dass es sie einen Scheißdreck anging, in wessen Bett er schlief. Oder was hier am Ende ja doch nicht ‚ausgelutscht‘ werden würde.
‚Hör damit auf, es wird nicht besser!‘, ermahnte Erik sich selbst.
Inzwischen hatte er den Speisesaal erreicht und trat ein. Ein kurzer Blick über die Schulter bestätigte, was Erik befürchtet hatte. Berger stand auf halber Höhe des kleinen Hügels, zusammen mit Frau Farin. Die redete flüsternd auf ihn ein. Zu leise, um es von Eriks Standort aus verstehen zu können – leider. Aber der finstere Ausdruck auf dem Gesicht der Frau sprach nicht dafür, dass es eine Liebeserklärung war.
‚Das fehlte noch!‘
Erik stöhnte verhalten und wandte sich ab. Kaffee. Er braucht ganz dringend etwas, was ihn aufweckte, denn die Müdigkeit trieb seine Gedanken offenkundig in immer weitere Untiefen. Anders war zumindest nicht zu erklären, dass Erik kurzzeitig erneut darüber nachdachte, den Hügel wieder runterzugehen und Berger einfach von Frau Farin wegzuzerren. Irgendetwas Bedeutungsvolles würde die dem Sturkopf sowieso nicht erzählen.
✑
Das Frühstück war scheiße. Okay, nicht per se, so viel musste Erik zugeben. Änderte aber nichts daran, dass er sich auch nach drei Tassen Kaffee weder wach noch sonst irgendwie besser fühlte. Wenn überhaupt, ging es Erik sogar mieser. Wenigstens war das Frühstück vorbereitet gewesen, sodass er nicht nur den ersehnten Kaffee, sondern auch gleich noch etwas zu essen bekommen hatte.
Trotzdem saß Erik eine halbe Stunde später weiterhin mit finsterem Gesicht im Speisesaal und starrte zum Nachbartisch. Dort saß Berger – was an sich ja ein durchaus angenehmer Anblick war. Natürlich wäre es Erik lieber gewesen, wenn der Kerl da drüben sich zu ihm gesetzt hätte. Aber es war von der Sekunde an, in der Berger in den Speisesaal trat, klar, dass das nicht passieren würde. Schon allein, weil Frau Farin ihm förmlich an den Hacken klebte – ihr Blick noch finsterer als zuvor.
Und seitdem hockte Erik hier wie bestellt und nicht abgeholt, während Berger am Nachbartisch inzwischen von beiden Lehrerinnen flankiert wurde. Wobei Frau Hirvi erst vor ein paar Minuten aufgetaucht war und derweil selig ihren Kaffee schlürfte.
‚Die merkt auch gar nichts‘, murrte es in Eriks Kopf.
Andererseits machte genau diese Ignoranz Frau Hirvi deutlich sympathischer als ihre Kollegin. Die quatschte nämlich weiterhin alle paar Minuten auf Berger ein. Dass der Sturkopf sich nicht längst verzogen und die Frau einfach hatte sitzen lassen, war schon verwunderlich genug. Womöglich wollte Berger auch nur nicht noch weiter provozieren. Das hätte Erik inzwischen gern übernommen.
Abgesehen davon, dass ihn nach der schlaflosen Nacht ohnehin fast alles zu nerven schien, konnte Erik nicht zurück in sein Zimmer, um sich wenigstens noch ein paar Minuten auszuruhen. Auch wenn er sich hüten würde, dies im Bett zu tun – aus Angst, doch einzuschlafen. Dafür hätte Erik allerdings den Schlüssel zur Hütte gebraucht – der sich in Bergers Hosentasche befand.
„Alles Scheiße“, murmelte Erik erneut, während er mit zunehmend finstererem Blick zum Nachbartisch blickte.
Berger sah nicht gerade glücklich und zufrieden aus, aber etwas anderes war bei der Gesellschaft nicht zu erwarten. Jedenfalls war sich Erik ziemlich sicher, dass er sich an Bergers Stelle im Moment lieber das Messer in die Hand rammen würde, um sich endlich verkrümeln zu können.
‚Wenn du gehst, hat Berger ebenso einen Grund von hier zu verschwinden‘, kam prompt der Vorschlag aus den Untiefen von Eriks Hirn.
Zunächst schob er ihn beiseite, aber die Idee ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Einige weitere Minuten später holte Erik das Handy aus der Hosentasche und prüfte erneut die Uhrzeit. Inzwischen ging es auf neun Uhr zu. Nur noch etwa eine Stunde und sie würden die Heimreise antreten. Nachdem er in die Runde der bisher versammelten Schüler geblickt hatte, zweifelte Erik jedoch stark daran, dass sie einigermaßen pünktlich aufbrechen würden. Es waren, wenn überhaupt, maximal die Hälfte der Schüler anwesend.
Unruhig trommelte Erik mit den Fingern auf die Tischplatte. Er wollte hier weg. Jetzt. Der Gedanke, Berger mit Frau Farin allein zu lassen, gefiel ihm aber nicht. Obwohl das totaler Blödsinn war, denn die beiden wären im Speisesaal ja definitiv nicht ‚allein‘. Sonderlich hilfreich war Erik im Moment hier auch nicht gerade. Erneut blickte er zum Nachbartisch hinüber.
Frau Hirvi war inzwischen mit ihrem Frühstück fertig. Berger hatte wie immer nichts gegessen, drehte lediglich gelangweilt die Kaffeetasse zwischen den Fingern, während er so tat, als würde er Frau Farin zuhören. Zumindest hoffte Erik, dass Berger nur so tat. Das Letzte, was er brauchen konnte, war, dass der Sturkopf sich von der Farin überreden ließ, dass es eine blöde Idee war, Eriks Annäherungsversuche endlich zuzulassen.
‚Du Idiot musstest ihm ja die Entscheidung überlassen.‘
Erik schnaubte leise und stellte sein benutztes Geschirr zusammen. Vielleicht war es doch besser, wenn er sich diesen Anblick nicht länger antat. Die Aussicht, die nächsten Stunden neben Berger hocken zu müssen und nicht mit diesem reden zu können, war mies genug. Da brauchte er sich die Laune durch Frau Farin nicht schon vorher verderben zu lassen.
Wenige Sekunden später war Erik unterwegs in Richtung Geschirrrückgabe. Und ja, vielleicht hoffte ein Teil von ihm tatsächlich, dass Berger es ihm gleichtun würde. Während Erik Teller und Tasse abstellte, war da aber keiner neben ihm. Etwas enttäuscht wandte er sich ab und lief in Richtung Ausgang.
„Hören Sie mir bitte kurz zu!“, schallte in dem Moment eine nur zu vertraute Stimme durch den Speisesaal.
Prompt endeten sowohl das Geklapper von Besteck als auch jedes soeben noch geführte Gespräch im Raum. Erik stockte ebenfalls und sah über die Schulter hinweg zurück in Richtung Lehrertisch. Berger war aufgestanden und blickte direkt zu ihm hinüber.
„Denken Sie daran, dass wir pünktlich zehn Uhr losfahren wollen“, fuhr Berger fort.
Ein zaghaftes Lächeln zupfte an Eriks Mundwinkeln. Als ob er das vergessen würde. Natürlich würde sich während der Rückfahrt selbst keine wirkliche Gelegenheit ergeben, mit Berger zu reden. Aber immerhin konnte der ihm aus dem Bus auch nicht einfach davonlaufen. Und die eine oder andere Pause würden sie garantiert ebenfalls machen. Das konnte nicht einmal Frau Farin verhindern.
„Vertrödeln Sie nicht zu viel Zeit beim Frühstück. Und sorgen Sie bitte dafür, dass Ihre bisher noch nicht anwesenden Mitschüler endlich in die Gänge kommen.“
Okay, das war jetzt hoffentlich nicht an ihn gerichtet, denn ganz sicher hatte Erik nicht vor, sich um irgendeinen der Idioten zu kümmern. Die Schnarchnasen waren genauso erwachsen wie er, die konnten sich gefälligst um ihre eigenen Sachen kümmern. Und dazu gehörte, dass sie es schafften vor zehn am Bus zu sein. So schwer konnte das schließlich nicht sein.
Schon wieder sah Berger zu ihm. Erik konnte nicht anders, als zu lächeln. Als er aus dem Augenwinkel jedoch sah, dass Frau Farin ebenfalls zu ihm blickte, verschwand das sanfte Flattern im Bauch allerdings schlagartig.
Hastig drehte Erik sich um und verzog sich aus dem Speisesaal. In die Hütte würde er zwar nicht kommen, aber so konnte er wenigstens auch nicht der Versuchung in Form eines Bettes erliegen. Ohne auf den Weg zu achten, lief er eilig den kleinen Hügel hinunter. Nur noch etwa eine Stunde, die würde er ja wohl hoffentlich durchhalten. Dann wären sie unterwegs nach Hause und dieses Drama hatte endlich sein Ende.
‚Erst wenn Berger dem Date zustimmt.‘
Erik stöhnte während er weiter lief. Bevor er nach links in Richtung seiner Hütte abbiegen konnte, rempelte er jedoch plötzlich gegen jemanden und stolperte. Leise fluchend schaffte Erik es, sich abzufangen, ohne auf die Fresse zu fliegen. Sein Gegenüber hatte dabei jedoch weniger Glück gehabt und landete auf seinem Hinterteil.
„Was soll der Scheiß, Hoffmann?“, brüllte Sandro auch prompt.
„Schau doch selbst, wo du hin latschst“, zischte Erik angepisst zurück, bevor er sich bremsen konnte.
„Suchst du Ärger, oder was?!“
„Jungs, bitte. Könnt ihr es nicht endlich gut sein lassen?“, mischte sich eine zweite Stimme ein.
Mit zusammengepressten Lippen und im Bauch weiterhin brennender Wut starrte Erik zu Sandro und Ines. Letztere half dem Affenkönig eben wieder auf die Beine. Anstatt sich von seiner Freundin helfen zu lassen, zerrte Sandro den eigenen Arm aus ihrem Griff und baute sich mit wütendem Blick vor Erik auf.
„Die ganze Fahrt über hast du dich verdrückt, Hoffmann. Willst du dir jetzt doch noch eine Tracht Prügel abholen?“
Erik grinste und zuckte mit den Schultern. „Was ist los, Sandro? Hast du letzte Nacht keinen hochbekommen und musst dich vor Ines aufspielen?“
Die Faust kam so schnell, dass Erik es beinahe nicht geschafft hätte, sich wegzuducken. Glücklicherweise waren seine Reflexe auch unausgeschlafen trotzdem besser als die eines sichtlich verkaterten Sandros. Deshalb schaffte Erik es, gerade noch auszuweichen. Hastig machte er einen Schritt zur Seite.
„Oder brauchst du eine blutende Nase, damit sie dich für den Rest des Tages versorgen kann? Macht sich aber bestimmt scheiße auf den Fotos morgen.“
Diesmal kam Sandro gar nicht zum Schlag, denn schon hatte Ines sich vor ihn gestellt. Sie presste beide Hände gegen Sandros Brust, um diesen aufzuhalten.
„Jetzt hört doch endlich mal auf mit dem Mist, ihr beide!“, rief sie genervt. „Mein Gott, ihr benehmt euch schon das ganze Jahr wie Vollidioten. Dieser verbale Schwanzvergleich ist lächerlich!“
Wieder musste Erik grinsen. Auch wenn er wusste, dass es total dämlich war, dem arschigen Quälgeist in seinem Kopf nachzugeben, hatte Erik die Worte ausgesprochen, bevor er sich selbst stoppen konnte: „Den echten würde er ja hochkant verlieren.“
„Ich mach dich fertig, Hoffmann!“, brüllte Sandro, während er erneut versuchte, an Ines vorbeizukommen. Die schien sich aber als erstaunlich hartnäckig zu erweisen, stand noch immer zwischen ihnen.
Gerade wollte Erik dazu ansetzen, Sandro erneut herauszufordern, als ihm klar wurde, was er hier trieb. Er war schon wieder dabei, sich wie ein dämliches Kind aufzuführen. Schulhofprügeleien waren nicht gerade ‚erwachsen‘. Auch nicht, wenn sie statt auf dem Schulhof in einer Herberge in Südfrankreich stattfanden.
Erik schluckte. Hastig trat ein weiteres Stück zurück. Zwei tiefe Atemzüge, dann merkte er, wie sich sein aufgeregter Herzschlag beruhigte. Die Wut war noch immer da, aber sie richtete sich wieder gegen die Person, auf die er eigentlich sauer war – Frau Farin. Sandro war ihm nur wortwörtlich vor die Füße gefallen. Es wäre falsch, diese Wut an ihm auszulassen.
„Wir haben offenbar beide nicht aufgepasst, wo wir hingegangen sind“, sagte Erik mit ruhiger Stimme. „Belassen wir es dabei.“
„Was?“ Überrascht runzelte Sandro die Stirn, schien mit dem Tempowechsel in ihrem Gespräch aber nicht einverstanden. „Bist du jetzt eine feige Memme oder was?“
„Warum hör...“, setzte Ines an, nur um diesmal von Erik unterbrochen zu werden.
„Ich hab keinen Bock mehr auf dein kindisches Machogehabe, Sandro. Wenn Du dich prügeln willst, such dir einen anderen Vollidioten.“
Erik sah zu Ines. Für einen Augenblick war er versucht der zu sagen, dass sie was Besseres finden konnte. Aber letztendlich ging ihn die Beziehung der beiden nichts an. Außerdem wäre es töricht, Öl ins Feuer zu kippen, wenn er gerade dabei war, den Streit mit Sandro abzuwürgen, bevor der eskalieren würde.
Stattdessen deutete Erik mit dem Daumen in Richtung Speisesaal. „Ihr solltet zusehen, dass ihr zum Essen kommt. Herr Berger klang nicht danach, als ob er Unpünktlichkeit bei der Abfahrt tolerieren würde.“
Ohne auf eine Antwort zu warten, trat Erik beiseite, ließ die beiden hinter sich stehen. Als er vor dem Durchgang des Hauptgebäudes ankam, wandte er sich nach links und lief in Richtung seiner Hütte. Die Wut schien mit jedem Schritt weiter zu verblassen. Sowohl die auf Arschloch Sandro als auch auf Frau Farin.
‚Du bist zu müde für den Scheiß‘, sagte Erik sich und rieb sich über die schon wieder schmerzende Schläfe.
Vielleicht würde er im Bus endlich Gelegenheit haben, sich etwas auszuruhen. Mehr, als die voraussichtlichen zehn Stunden Fahrt dort gelangweilt abzusitzen, konnte Erik vermutlich ohnehin nicht tun. Vorerst blieb ihm diese Möglichkeit aber nicht, denn zunächst einmal musste er seine Sachen holen.