Mila spürte, wie ihr die Augen zufielen, während sie den Worten des Lehrers lauschte, der ihnen versuchte etwas über den Kontinentaldrift zu erklären.
Das Wochenende hatte sie mit ihren Eltern bei einem Wohltätigkeitsball verbracht, doch gedanklich war sie bei Elon gewesen und generell hatte das Wochenende sie sehr geschafft. Heute Morgen war das Kratzen in ihrem Hals noch schlimmer geworden und die Kopfschmerzen, von denen sie gehofft hatte, ein ruhiger Sonntag würde sie vertreiben, kehrten zurück. Ein weiterer Grund, warum sie das Bedürfnis hatte ihren Kopf auf den Tisch zu legen und zu schlafen. Da beneidete sie gerade Elon, der eben jenes tat.
Doch sie sollte sich wohl lieber nicht so hängen lassen. Es war ohnehin schon eine Herausforderung gewesen heute in die Schule zu dürfen, nachdem ihre Mutter sie eigentlich zu Hause behalten wollte.
Schlimm genug, dass sie sie gezwungen hatte wieder regelmäßig Vitamin-Tabletten zu nehmen. Das würde wieder anstrengend werden und es sah immer so aus, als würde Mila unter zu hohem Blutdruck leiden. Welche Sechzehnjährige nahm den schon eine Handvoll bunte Pillen am Tag?
Als die Schulklingel läutete, schreckte Elon verschlafen auf und blickte sich orientierungslos um. Auch die anderen Schüler machten sich auf den Weg auf das Schulgelände, um die große Pause mit ihren Freunden im Schnee zu verbringen. Trotz der angenehm warmen Sonne, die wieder da war, lagen einige Schneereste noch gehäuft am Rande der Straßen.
Keiner wunderte sich, wieso es hier im Herbst bereits Schneefall, mit darauffolgendem Sonnenschein gab. Sie nahmen es einfach nur hin, als wäre es das normalste der Welt.
Gerade als Mila sich ihren Klassenkameraden anschließen wollte, um den Raum zu verlassen, rief ihre Lehrerin sie zurück.
„Mila, kann ich dich nochmal kurz sprechen?", meinte diese und lächelte freundlich. Mila stockte. Hatte sie etwas falsch gemacht? Oder wollte ihre Lehrerin sie womöglich nach Hause schicken, weil sie krank war?
„Ja, natürlich", sagte sie und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Da sie sich heute Morgen mit ihrer Schminke viel Mühe gegeben hatte, würde man ihr hoffentlich nicht ansehen, wie blass sie eigentlich war.
Als sie sich von ihrem Stuhl erhob, musste sie kurz innehalten, weil sich für einen Moment alles drehte. Doch sie konnte sich beherrschen und auf die Lehrerin zu laufen, ohne dass sie wirkte wie ein wandelnder Toter.
Der Raum lichtete sich langsam und ehe sich Mila versah, war sie auch schon mit der Lehrerin allein.
„Du bist wirklich sehr gut in der Schule", meinte diese als sie vor das Lehrerpult trat, um sich daran anzulehnen und Mila zu mustern.
„In meiner alten Schule hatte ich diesen Stoff schon längst, für mich ist es also nur noch einmal eine Wiederholung", erklärte sie und versuchte nicht abwertend zu klingen. Immerhin war das Niveau dieser Schule kaum mit dem ihrer alten Schule zu vergleichen. Aber trotz des Wissens, dass sie den Stoff schon gehabt hatte, hatte sie Angst, dass sie vielleicht doch etwas verpasste.
Die Frau mit dem blonden Zopf lächelte höflich und faltete die Hände vor dem hell geblümten Sommerkleid, welches sie trug. Zusammen mit der weißen Strickstrumpfhose, wirkte sie dennoch recht sommerlich gekleidet.
„Ja, das merkt man. Ich wollte dir gerne anbieten, an unserem Sonderunterricht teilzunehmen. Es ist im Grunde wie ein Schulclub, in dem wir immer wieder andere Aktivitäten anbieten... ich würde es dir nahelegen ihn dir einmal anzusehen", schlug diese vor und wirkte nicht wirklich so, als hätte Mila eine Wahl.
„Ich bekomme demnächst einen weiteren Privatlehrer und dann werde ich keine Zeit mehr dafür haben. Solange dieser Schulclub meine anderen Privatstunden nicht überschneidet, kann ich mit meiner Mutter sprechen, ob sie dem zustimmt", erklärte Mila und machte keinen Hehl daraus, dass nicht sie diejenige war, die ihre Zustimmung geben musste. „Sie hat mir auch erlaubt Nachhilfe zu geben. Aber nur, bis der neue Lehrer eingetroffen ist."
Die Frau blieb jedoch ganz ruhig und schob sich die Brille auf der kleinen Stupsnase zurecht.
„Der Sonderunterricht ist nicht optional, es kommt ganz darauf an wie du dich darin schlägst, ob du von diesem befreit wirst", erklärte die Blondine und drehte den Kopf zu ihren Papieren, um Mila ein Blatt zu überreichen. „Hier findest du alle Infos dazu. Du bist bereits eingetragen."
Mila atmete einmal tief durch. „Ich habe kein Interesse daran", entgegnete sie und reichte die Unterlagen zurück. „Meine Zeit ist mit wichtigerem verplant als diesen Schulclubs, die nicht teil des offiziellen Unterrichts sind. Ich werde mir von ihnen nicht meine Zukunft ruinieren lassen. Es reicht mir jetzt schon, dass ich dieses Schuljahr wiederholen muss, weil das Niveau dieser Schule so niedrig ist."
Bis Mila die Worte ausgesprochen hatte, hatte sie gar nicht gewusst, wie sauer sie eigentlich darüber war, dass diese Schule sie so zurückwarf. Sie konnte sich alle Mühe geben, doch sie würde so die Erwartungen ihrer Mutter nie erfüllen. Und sie konnte sich die Zeit, die sie bei einem richtigen Lehrer verbrachte nicht auch noch durch so etwas wie Schulclubs nehmen lassen. Ob diese zum Unterricht gehörten oder nicht, war ihr reichlich egal. Sie würde einfach nicht hingehen!
„Ich sagte doch bereits, dass das nicht in ihrem Entscheidungsbereich liegt. Sie werden dort hingehen müssen. Noch dazu würde ich Sie bitten auf Ihren Ton zu achten", erklärte die Lehrerin und machte keine Anstalten den Zettel wieder entgegen zu nehmen. „Sie können sich jetzt in die Pause begeben", fügte sie hinzu und wandte sich von Mila ab.
Mila seufzte. Warum verstand die Frau kein Nein? „Ich werde nicht hingehen", war die kurze Antwort und Mila zuckte die Schultern, als wäre es ihr egal. Denn das war es auch. Ihr war nur wichtig, dass ihre Mutter nicht enttäuscht war und die Lehrerin gehörte nicht zu denjenigen, die sie glücklich machen wollte. Die Wünsche ihrer Mutter gingen vor.
„Verzogenes Gör", hörte sie die Lehrerin murmeln und Mila seufzte leise. Sie wollte eigentlich nur ihre Ruhe haben und wusste überhaupt nicht, wo ihr der Kopf stand. Wie sollte sie das alles unter einen Hut bringen? Es schien in dieser Umgebung unglaublich schwer zu sein, ihre Mutter glücklich zu machen. Vielleicht sollte sie wirklich darüber nachdenken von der Schule zu gehen, wie es ihre Mutter wollte. Aber eigentlich gefiel es Mila hier.
Ihr Blick fiel auf die Zettel in ihrer Hand. Sie hatte noch nie an solchen Aktivitäten teilgenommen und eigentlich wollte sie auch gerne, doch ihre Mutter würde das nur als weiteren Grund sehen, sie von der Schule zu nehmen. Immerhin verschwendete sie damit ihre Zeit. Clarice war ja sogar gegen die Nachhilfestunden gewesen.
Nur wegen ihrem Vater, der gestern Abend abgereist war, hatte sie die Erlaubnis dazu bekommen. Auch wenn ihre Mutter noch immer unzufrieden wirkte. Doch wenn es zu ihrem Vater kam, wurde sie gnädiger. Zumindest für ihre Verhältnisse.
Bisher hatte sich Mila niemals darüber beschwert, oder auch nur daran gedacht, dass das Verhalten ihrer Mutter falsch sein könnte. Sie war immerhin ihre Mutter. Doch jetzt, fing sie an, immer öfter über Elons Worte nachzudenken.
Mila hob die Hand und massierte sich ihr Nasenbein, weil ihr Kopf begann zu schmerzen und ihre Nase zu war. Vielleicht hätte sie sich doch lieber hinlegen sollen. Aber dann hätte ihre Mutter wieder einen Arzt gerufen und sich höllische Sorgen gemacht.
Sie ließ sich auf einer Bank nieder, die noch in der Nähe der Tür stand. Es war ihr einfach zu kalt, um sich weiter hinaus zu begeben und es lag zu viel Schnee.
Appetitlos begann sie ihr Essen hervorzuholen.
Der Gedanke, dass sie heute noch Nachhilfestunden würde geben müssen half ihr nicht bei der Suche nach Motivation. Sie würde sich nach dem Unterricht ins Sekretariat begeben müssen, um ihre Liste mit den Schülern abzuholen. Vielleicht hätte sie sich doch dem Willen ihrer Mutter beugen sollen und die Nachhilfestunden weglassen. Doch nun war es zu spät sich zu beschweren.
Das war mal wieder ein Zeichen, dass es besser war, wenn sie sich nach ihrer Mutter richtete. Die Entscheidung heute überhaupt zur Schule zu gehen, war schon dumm gewesen. Das spürte sie mit jeder Minute mehr. Die anfänglich leichten Kopfschmerzen wurden immer schlimmer und das Licht, das vom Schnee sogar noch heller wurde, tat in den Augen weh.
Angewidert blickte sie auf die Ravioli, die ihr Hausmädchen ihr eingepackt hatte und schloss den Deckel wieder, um eine Thermoskanne aus ihrer Tasche zu ziehen, welche mit warmer Brühe gefüllt war und mit frischer Zitrone verfeinert wurde. Hoffentlich würde diese ihr helfen den Tag zu überstehen.
Sie trank diese fast aus, doch wirklich besser ging es ihr dadurch nicht. Vielleicht sollte sie kurz ein wenig die Augen schließen? Für ein paar Minuten konnte sie ruhen. Sie würde schon bemerken, wenn es wieder zur Stunde klingelte.