Am Strand
„Tom, schau dir das an... Was für eine Frau!“, rief Jason Stone, einer der beiden jungen Rettungsschwimmer, während er vom Lifeguard-Turm aus interessiert durch sein Fernglas einen bestimmten Punkt am Strand an fixierte. „Die ist der absolute Hammer!“
Tom, schlank und sportlich, mit wachsamen Augen und einem freundlichen jungenhaften Lachen, dass ihn sofort jedem, der mit ihm zu tun hatte, äußerst sympathisch erscheinen ließ, bedachte seinen Freund und Kollegen mit einem amüsierten Blick und schüttelte dann betont missbilligend den Kopf.
„Meine Güte, seit Sherry die Stadt verlassen hat, ist es mit dir kaum noch zum Aushalten! Da könnte vor unserer Küste die TITANIC versinken, und du hättest nur Augen für die Mädels am Strand!“
„Die hier ist etwas Besonderes“, beharrte Jason und beugte seinen kaffeebraunen, durchtrainierten Körper soweit es ging über die Brüstung des Turmes, um noch besser sehen zu können. „Lange dunkle Locken, tadellose Figur und ein Fahrgestell...“ Er pfiff anerkennend durch die Zähne. „Wie aus einem Magazin!“
„Dann ist sie vergeben“, erwiderte Tom mit Kennermiene. „Solche Frauen laufen selten frei herum. Es sei denn, die Sache hat einen Haken.“
Jason setzte das Fernglas ab und musterte seinen jüngeren Kollegen erstaunt.
Tom war gerade mal Anfang Zwanzig und tat so, als hätte er jede Menge Lebenserfahrung.
„Haken? Was für ein Haken, Mann?“
„Na ja, ich rede von diesen Silikon- Mogelpackungen, die hier überall herumlaufen, geliftet, gestrafft und frisch gepolstert.“
„Die hier nicht“, erklärte Jason entschieden. „An der ist alles echt.“
„Woher willst du das wissen?“ Tom, immer noch skeptisch, ergriff das Fernglas.
„Welche meinst du?“
„Die da drüben im grünen Bikini.“
„Wow! Okay, die sieht tatsächlich toll aus. Allerdings...“
„Allerdings was?“
Tom grinste schelmisch.
„Ich vermute, der Typ, der sie da eben küsst, dürfte derselben Meinung sein. Und er ist bereits einen entscheidenden Schritt weiter als du.“
Jason entriss ihm das Fernglas und brummelte gleich darauf unwillig etwas Unverständliches.
Tom klopfte ihm lachend auf die Schulter.
„Vergiss sie, wir haben gleich Feierabend. In ein paar Minuten kommt unsere Ablösung.“
Resigniert legte Jason das Fernglas weg und griff nach dem Kaffee, den sein Kollege ihm in einem Pappbecher reichte. Er trank einen Schluck und fuhr sich dann mit der anderen Hand durch sein kurzes schwarzes Haar. Seine dunkle Haut glänzte in der Sonne und ließ Toms recht braungebrannten Körper im Gegensatz dazu fast blass erscheinen. Seine schwarzen Augen wanderten lebhaft herum und schienen nie lange auf einem Punkt zu verweilen.
„Gehen wir heute Abend auf einen Sprung ins DESTINY NIGHT?“, fragte er und stellte den Kaffeebecher wieder ab, als plötzlich vom Strand her lautes Geschrei und erregtes Stimmengewirr zu vernehmen war.
„Was ist denn da los?“ Jason schnappte sich das Fernglas, um nachzusehen, als auch schon ein paar Leute aufgeregt und wild mit den Armen gestikulierend auf den Lifeguard - Turm zu gerannt kamen.
„Rettungsschwimmer!“, schrie einer von ihnen atemlos „Schnell, dort hinten ist ein Kind ins Wasser gefallen! Der Kleine kann nicht schwimmen!“
In Sekundenschnelle waren Jason und Tom unten.
Mit je einer Rettungsboje bewaffnet, rannten sie den Strand entlang zu besagter Stelle, wo sie eine Dame in Tränen aufgelöst und völlig außer sich erwartete.
„Mein Sohn, mein kleiner Junge!“, schrie sie panisch. „Er ist mit seinem Luftkissen raus, ich habe es nicht gleich bemerkt, und nun ist er weg! Oh Gott, bitte retten Sie ihn, er kann doch nicht schwimmen!“
„Rufen Sie einen Notarzt!“, rief Jason in die schaulustige Menge, die sich sofort gebildet hatte, dann stürzten sich die beiden Lifeguards in die Fluten.
Destiny Beach City
Langsam und sich aufmerksam umsehend fuhr Alli die Straßen der Kleinstadt ab. Sie war hungrig und müde und hoffte, irgendwo eine kleine Pension zu finden, wo sie zu Abend essen und vielleicht gleich übernachten konnte.
Prächtig und vornehm mit stilgerechter dezent auffälliger Werbung lud das DESTINY INN, das erste Hotel am Platz, seine Gäste ein.
Alli hielt an und besah sich skeptisch das helle Gebäude, dessen großzügig gebauter Eingangsbogen mit roten und weißen Gardenien und riesigen Palmen geschmückt war.
Auf dem Parkplatz standen vornehmlich dicke Limousinen und Sportwagen.
Ein paar Leute traten aus dem Hotel auf die Straße, sie waren nobel gekleidet und stiegen in einen roten Jaguar, den ihnen ein Page dienstbeflissen vorfuhr.
Alli sah an sich herunter. In ihrem Biker-Outfit würde sie wahrscheinlich nicht einmal bis in die Lobby gelangen, ohne dass man sie vorher nach ihrem Scheckheft fragte.
Sie musste lächeln. Nein, Geldsorgen hatte sie bislang keine, ihre Finanzen waren sicher angelegt, aber sie hatte gelernt, sparsam damit umzugehen, und dieses nette Etablissement hier war garantiert eine Nummer zu groß für sie.
Also weitersuchen...
Zwei Querstraßen weiter entdeckte sie ein kleines Straßencafé. „LeAnn`s Coffeeshop“ stand über dem Eingang. Dort herrschte um diese Zeit ein recht geschäftiges Treiben. Drei von den vier Tischen vor dem Laden waren bereits besetzt. Ein mit wildem Wein bewachsenes Holzgitter schirmte die Gäste wirkungsvoll von der Straße ab, und die als Schutz vor der Sonne über den Fenstern angebrachten, dunkelgrünen Markisen flatterten leicht in dem angenehm lauen Wind, der hier fast immer vom Santa Ana Bay herüberwehte.
Kurzentschlossen stellte Alli ihre Honda am Straßenrand ab. Sie befestigte ihren Helm am Sitz, kontrollierte kurz die Verschlüsse an ihrem Gepäck, das auf breiten Trägern zu beiden Seiten der Maschine festgeschnallt war, und ging dann hinüber zum Eingang.
Sie sah sich kurz in dem kleinen Lokal um und wählte einen freien Tisch am Fenster, von wo aus sie ihr Motorrad im Blick hatte.
Eine dunkelblonde, sehr schlanke Frau Mitte Vierzig eilte mit zwei vollbeladenen Tellern an ihr vorbei und nickte ihr freundlich zu.
„Einen Augenblick bitte, ich bin gleich für Sie da!“
Alli lächelte versonnen. Hier drin war es genauso gemütlich, wie es von draußen aussah. Die groben Holztische waren mit grünkarierten Tischdecken ausgestattet, und auf jedem stand eine kleine Vase mit duftendem Jasmin. An den Wänden hingen viele verschiedene Bilder, einige davon wirkten alt und schon etwas vergilbt. Sie zeigten neben diversen Portraits auch das Destiny Beach von früher, Alli erkannte es an diesem unverwechselbar aussehenden Pier, der weit ins Meer hineinführte und der ihr vorhin, als sie hier ankam, sofort aufgefallen war.
Obwohl einige Einrichtungsgegenstände fast etwas kitschig wirkten, unterstrich jedes einzelne Teil das besondere Flair, das dieses kleine Bistro ausstrahlte.
Alli fühlte sich sofort wohl hier. Sie strich mit den Fingern über die offensichtlich selbst genähte Tischdecke und lehnte sich mit einem etwas wehmütigen Gefühl zurück. Irgendwie erinnerte sie die Atmosphäre an ihr kleines Stammlokal in...
„Hallo“, riss eine angenehme Stimme sie aus ihren Gedanken.
Die freundliche Lady von vorhin stand vor ihrem Tisch und reichte ihr spontan die Hand.
„Willkommen in Destiny Beach. Ich bin LeAnn Jennings, die Besitzerin des Coffeeshops.“
Etwas zögernd ergriff Alli die ihr dargebotene Hand.
„Allison Tyler“, stellte sie sich ihrerseits vor.
„Sind sie zum ersten Mal in der Stadt? Ich habe Sie hier noch nie gesehen.“
Alli nickte lächelnd.
„Ja, ich bin auf der Durchreise. Ihr Lokal ist sehr gemütlich, Misses Jennings.“
„Bitte nennen Sie mich LeAnn“, verbesserte die Dame. „Alle meine Gäste tun das. Übrigens gibt hier nicht nur Kaffee und Kuchen. Wenn Sie auf der Durchreise sind, dann müssen Sie wohl ziemlich hungrig sein!“
„Oh ja, das bin ich“, nickte Alli lachend. „Und durstig dazu.“
„Ich glaube, dass wir da schnellstens Abhilfe schaffen können“, stimmte die Wirtin in ihr Lachen ein und zückte den Bestellblock. „Dann legen Sie mal los, Allison!“
Nach einer halben Stunde lehnte sich Alli satt und zufrieden zurück und nippte an ihrem erfrischend kühlen Mineralwasser.
„War das Essen gut?“, fragte LeAnn, die an den Tisch trat, um das Geschirr abzuräumen.
Alli nickte.
„Es war ganz ausgezeichnet“, erwiderte sie wahrheitsgetreu. „Sie sind eine fantastische Köchin! So gutes Essen hätte ich in einem Coffeeshop nun wirklich nicht erwartet.“
Die Wirtin lächelte geschmeichelt.
„Nun, ich habe in den vielen Jahren, seit ich dieses Geschäft besitze, einiges dazugelernt“, erklärte sie augenzwinkernd und musterte die junge Frau einen Augenblick lang aufmerksam. Schon vorhin, als sie hier hereinkam, war sie ihr sofort aufgefallen, denn sie war eine äußerst attraktive Erscheinung in ihrem Lederanzug und diesen ausdrucksvollen braunen Augen, die aufmerksam alles und jeden um sich herum aufmerksam fixierten. Jetzt, nachdem sie ihre Motorradjacke ausgezogen hatte, bemerkte LeAnn auch die tiefe Sonnenbräune ihrer Besucherin. Entweder hatte sie irgendwo an der Küste Urlaub gemacht, oder sie hielt sich viel im Freien auf. Aber trotz ihres recht selbstbewussten Auftretens wirkte sie doch irgendwie verloren. Die Wirtin hatte ein gutes Gespür dafür.
„Sind Sie allein unterwegs?“, fragte sie interessiert.
„Ja“, erwiderte Alli knapp.
LeAnn lächelte.
„Ich nehme an, das ist Ihre Maschine, die da draußen steht. Eine junge Frau und ein schweres Motorrad... Irgendwie finde ich das romantisch. Es sieht nach großer Freiheit aus. Machen Sie Urlaub in der Gegend?“
„Na ja, wie schon gesagt, ich bin wohl eher auf der Durchreise“, erwiderte Alli etwas zögernd. „Wissen Sie, da wo ich herkomme, war nicht alles so, wie ich es mir gewünscht hätte. Man könnte sagen, ich bin auf der Suche nach einem Platz, an dem es sich angenehm leben lässt. Vielleicht sogar ein neues Zuhause.“
Sie konnte sich selbst nicht erklären, warum sie dieser fremden Frau das erzählte. So unbefangen zu plaudern war nicht ihre Art, zumindest nicht mehr. Aber sie hatte in der letzten Zeit wenig Gelegenheit gehabt, sich mit jemandem zu unterhalten, und LeAnn war ihr vom ersten Augenblick an sympathisch. Sie wirkte mütterlich und freundlich, genauso wie Alli sich seit ihrer Kinderzeit immer die Mutter wünschte, die sie leider nie kennengelernt hatte.
„Ich wette, da sind Sie hier genau richtig“, meinte LeAnn überzeugt. „Destiny Beach ist eine sehr schöne, sagenumwobene Stadt, die „Stadt des Schicksals“. Vielleicht sollten Sie sich etwas genauer umsehen, es kann ja sein, dass Sie genau hier Ihr neues Zuhause finden!“
„Ich weiß nicht“, gestand Alli. „Eventuell bleibe ich noch ein paar Tage, vorausgesetzt, ich finde eine preiswerte Unterkunft für die Nacht.“
LeAnn wiegte bedenklich den Kopf.
„Oh, das könnte um diese Jahreszeit etwas schwierig werden. Wir haben momentan eine ganze Menge Urlauber hier.“ Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf. „Warten Sie, Allison, ich glaube, ich kann Ihnen helfen. Einen Moment...“ Sie nahm das bereits zusammengestellte Geschirr und eilte zu ihrem Tresen. Sekunden später kam sie mit Zettel und Stift zurück. „Hier ist die Adresse einer kleinen Wohngemeinschaft in der Ocean Avenue. Der Besitzer hat sein Strandhaus renoviert und vermietet einzelne Zimmer an junge Leute. Wenn Sie Glück haben, ist noch eines davon frei“, sagte sie, während sie die Anschrift eifrig auf den Zettel kritzelte und ihn Alli reichte. Sie lachte, als sie deren skeptischen Blick sah. „Keine Angst, ich kenne den jungen Mann sehr gut, er ist wirklich nett und absolut vertrauenswürdig!“
„Okay, dann bin ich ja beruhigt“, meinte Alli und steckte den Zettel ungesehen in ihre Jackentasche. „Vielen Dank, LeAnn, ich werde es mir überlegen.“
Die Wirtin nickte ihr aufmunternd zu.
„Tun Sie das.“ Sie wollte schon zum Tresen zurückgehen, als ihr noch etwas einfiel. „Falls Sie doch bleiben, dann sollten Sie vielleicht Folgendes wissen: Destiny Beach ist berühmt für seine traumhaften Sonnenuntergänge. Falls Sie nachher einen Spaziergang auf dem Pier machen, dann geben Sie gut Acht, wem Sie begegnen.“
„Wieso?“, fragte Alli erstaunt.
LeAnn lächelte geheimnisvoll.
„Diese Stadt hat eine interessante Geschichte. Wenn Sie das nächste Mal herkommen, werde ich Ihnen mehr davon erzählen, wenn Sie möchten. Nur so viel: Man sagt, wenn sich Tag und Nacht in den letzten Strahlen der Sonne begegnen, könntest du am Ende des Piers genau den Menschen treffen, der dein weiteres Schicksal bestimmt.“
SUN CENTER
In seinem Zimmer angekommen, warf Jack die Tasche mit den Studienunterlagen achtlos auf den Tisch und trat hinaus auf die kleine Veranda, von der aus er einen traumhaften Ausblick aufs Meer hatte.
Er lehnte sich an die Brüstung und ließ seinen Blick gedankenverloren zum Strand hinunter wandern. Obwohl sich der Tag allmählich dem Ende neigte, herrschte dort immer noch ein buntes Treiben. Der leichte Wind trug das Stimmengewirr von Touristen und Badegästen bis zu ihm herüber, und ein unverwechselbarer Duft von salzigem Wasser und Sonnenöl hing in der Luft.
Jack atmete tief durch.
Er liebte sein Zuhause, dieses große, verwinkelte Eckhaus direkt am Strand, das er gekauft hatte, um es für sich und Aileen zu einem echten Zuhause umzubauen.
In den letzten Monaten jedoch hatte sich viel verändert.
Aileen war ausgezogen, seine Aileen... Frau Dr. Ling, frischgebackene Ärztin am Destiny Beach Medical Center, die Frau, mit der er sich eine wundervolle gemeinsame Zukunft ausgemalt hatte.
Aileen stammte aus China, und sie war nicht nur schön und intelligent, sondern auch sehr ehrgeizig, und genau aus diesem Grund sah sie hier kein berufliches Weiterkommen für sich. Dann war ein ehemaliger Studienfreund von ihr aufgetaucht und hatte ihr einen Job in einer renommierten Klinik in San Francisco angeboten. Die Versuchung war zu groß und ihre Liebe zu Jack nicht stark genug gewesen...
Dabei hatte für sie beide alles so schön begonnen. Turbulent und romantisch zugleich.
Aber nun war es zu Ende, unwiderruflich, und es tat ihm weh, noch immer.
Vor allem, wenn er hier allein war, was nicht oft der Fall war, denn er hatte nach Aileens Auszug damit begonnen, einzelne Zimmer zu vermieten. Was sollte er allein in dem großen Haus? Die Stille erdrückte ihn.
So wie jetzt gerade.
Jason und Tom, seine beiden Mitbewohner, waren noch bei der Arbeit, und Jennifer, die Wirtschaftsstudentin, die ebenfalls eine Weile zur Untermiete hier gewohnt hatte, war vor einer Woche nach Santa Monica zu ihrem neuen Freund umgezogen.
Jack hatte schon erwogen, im DESTINY SENTINEL zu annoncieren, um neue Mieter für die beiden freien Zimmer zu finden, aber aus unerfindlichen Gründen hatte er das immer wieder aufgeschoben.
Unten knatterte ein Motorrad die Straße entlang, und Jack erinnerte sich augenblicklich an zwei faszinierende braune Augen, die ihn von der ersten Sekunde an in ihren Bann gezogen hatten. Schnell beugte er sich über die Brüstung, in der Hoffnung, eine schwarzrote Lederkombination zu erblicken, doch er wurde enttäuscht. Der Biker, der eben dort unten entlangfuhr, hatte nichts mit dem geheimnisvollen Mädchen vom Yachthafen gemeinsam.
Obwohl die Trennung von Aileen nach wie vor schmerzte, und er tief im Inneren für eine neue Liebe noch nicht bereit zu sein schien, hatte ihn diese Alli doch ziemlich beeindruckt.
Ärgerlich schüttelte er den Kopf.
„Träum weiter, du blöder Kerl, die ist längst über alle Berge“, brummelte er zu sich selbst und beschloss, einen Spaziergang am Strand zu machen, um den bevorstehenden Sonnenuntergang vom Pier aus zu genießen. Ein Luxus, den er sich schon lange nicht mehr gegönnt hatte, und der ihm vielleicht dabei helfen würde, den Kopf einigermaßen frei zu bekommen.
Auf dem Pier
Alli schlenderte langsam den Strand entlang. Ihr Motorrad hatte sie am SEAVIEWS, einem kleinen, etwas heruntergekommen wirkenden Motel, das unweit von hier hinter den Dünen lag, abgestellt. Leider war dort momentan alles restlos ausgebucht, und sie hatte immer noch keine Bleibe für die Nacht gefunden.
Sie erinnerte sich an den Zettel, den ihr die freundliche Lady aus dem Coffeeshop gegeben hatte, und atmete tief durch.
Dann musste sie also doch zu dieser fremden Adresse, um nachzufragen, ob vielleicht noch ein Zimmer zu vermieten wäre. Ganz wohl war ihr allerdings bei dem Gedanken nicht, zu wildfremden Leuten in eine Art Wohngemeinschaft zu ziehen. Aber andererseits war es ja sicher nur für ein oder zwei Nächte.
Wenigstens hatte man ihr an der Rezeption des SEAVIEWS gestattet ihr Gepäck für ein paar Stunden abzustellen, bis sie eine geeignete Unterkunft gefunden hätte. Sie angelte den Zettel von LeAnn aus der Gesäßtasche ihrer Hose. Ihre Lederkombination hatte sie auf der Hoteltoilette gegen praktische Blue Jeans und ein dunkles T- Shirt getauscht. In diesem Outfit fühlte sie sich am Strand bedeutend wohler und vor allem weniger auffällig. Dennoch spürte sie öfter als ihr lieb war bewundernde Blicke der vorübergehenden Männer, doch sie beachtete keinen von ihnen.
Stattdessen las sie zum wiederholten Mal die Adresse, die LeAnn ihr aufgeschrieben hatte.
„Jack Bennett, Ocean Avenue 1499” stand da in zierlicher Handschrift.
Jack... überlegte sie, hieß dieser junge Mann vom Jachthafen nicht auch Jack, der mit dem Motorrad? Aber Bennett?... Nein, auf keinen Fall. Er hatte einen anderen Nachnamen, einen, der eher wie ein Vorname geklungen hatte... Christopher, ja genau...Jack Christopher. Er hatte zwar einen für ihre Begriffe langweiligen Fahrstil, aber er war nett, und, das musste sie sich eingestehen, er sah verdammt gut aus! Völlig egal, sie würde ihn ja doch nie wiedersehen.
Sie steckte den Zettel zurück in die Hosentasche und blickte hinaus aufs Meer.
Die Sonne stand schon ziemlich tief, und der Himmel um sie herum begann sich langsam in warme, pastellfarbene Rottöne zu färben.
Ein Sonnenuntergang hier an der Küste war ein immer wiederkehrendes und doch jedes Mal einzigartiges Ereignis, das die Menschen mit seiner unvergleichlichen Schönheit seit Ewigkeiten in seinen magischen Bann zog.
Diese Magie schien auch Alli in diesem Augenblick zu spüren, denn sie beschloss, sich das Naturschauspiel in Ruhe anzusehen, bevor sie ihre Zimmersuche weiter fortsetzen würde.
Sie stieg die Stufen zum Pier hinauf und ging bis ganz zum Ende.
Dort setzte sie sich auf eine freie Bank und beobachtete ganz versunken, wie aus der blendend heißen Sonne, die ihre Strahlen glitzernd wie flüssiges Gold über die unruhigen Wellen ausschüttete, allmählich ein orangeroter Feuerball wurde, der seine märchenhaften Farben über den ganzen Himmel zu verteilen schien und dabei verlangsam am fernen Horizont in den unendlichen Weiten des Ozeans versank.
Fasziniert blickte Alli hinaus. Sie hatte schon viele Sonnenuntergänge erlebt, seit sie sich hier in Kalifornien aufhielt, aber keiner war je so schön gewesen.
Könnte Andrew das doch nur sehen...
„Wen haben wir denn da?“, wurde sie plötzlich von einer schneidenden Stimme aus ihren Gedanken gerissen.
Zu Tode erschrocken fuhr sie herum und starrte in zwei kalte dunkle Augen, die sie abschätzend musterten.