SENTINEL
Wütend verließ Selina den noblen Vorraum der CEC - Geschäftsleitung und ließ die Tür unsanft hinter sich zuschnappen.
„Eingebildete, inkompetente Zicke“, murmelte sie ungehalten und verzog missbilligend das Gesicht, während sie mit dem Lift nach unten fuhr. Diese sogenannte persönliche Assistentin von Georg Carrington hatte ihren Boss soeben entweder glatt verleugnet, oder aber den Termin, der mit Selina für heute vereinbart worden war, einfach vergessen!
Er sei leider verhindert, hatte sie ihr hochnäsig erklärt und dabei herablassend gelächelt. Das könne schon mal vorkommen, wenn man so vielbeschäftigt sei wie Mr. Carrington.
Selina wäre ihr am liebsten in das farbenfroh geschminkte Gesicht gesprungen.
Nun stand sie wieder im Eingangsbereich und überlegte fieberhaft, was sie als nächstes tun sollte. Sie brauchte einen neuen Termin, aber um nichts in der Welt würde sie noch einmal dort hinauffahren und diese Vorzimmerdame darum bitten, sie in ihr schlaues Buch einzutragen. Vielleicht sollte sie sich vorerst einmal ihrer Wohnungssuche widmen.
Was hatte die Sekretärin bei ihrem ersten Besuch hier gesagt? Die Anzeigenannahme sei gleich unten rechts...
Entschlossen machte Selina auf dem Absatz kehrt und wollte tatkräftig ihr nächstes Ziel in Angriff nehmen, als sie heftig mit einem jungen Mann zusammenstieß, der offensichtlich die gleiche Absicht hatte wie sie.
Sie strauchelte durch den unerwarteten Aufprall, und er hielt sie spontan fest. Sie sah in zwei freundlich dreinblickende dunkle Augen, um die sich ein paar äußerst attraktive Fältchen bildeten, als er amüsiert lächelte.
„Hoppla, ich hoffe, Sie haben sich nicht wehgetan?“
„Nein“, erwiderte Selina und strich sich etwas verlegen eine Locke aus der Stirn. „Tut mir leid, ich hatte Sie nicht gesehen.“
Dabei war es gar nicht so einfach, solch einen Mann zu übersehen, groß, schlank und gut gebaut, mit sonnengebräunter Haut und schwarz glänzendem, etwas widerspenstigem Haar, das seinem äußerst attraktiven Gesicht einen verwegenen Ausdruck verlieh.
„Ist doch nichts passiert!“ Lachend streckte er ihr die Hand entgegen. „Ich bin Jack Bennett.“
„Selina Wood“, stellte sie sich ihrerseits vor. „Ich wollte eben in die Anzeigenannahme.“
„Dann haben wir das gleiche Ziel“, erwiderte Jack und öffnete ihr zuvorkommend die Tür. „Bitte, nach Ihnen, Miss Wood.“
Sie betraten den hellen freundlichen Raum und standen vor einem modernen Tresen, auf dem einige Werbeprospekte sowie die neusten Ausgaben des Seal SENTINEL lagen. Links und rechts schmückten großblättrige Grünpflanzen das Zimmer und das seitliche Panoramafenster ließ viel Licht herein. Es musste eine Wohltat sein, hier zu arbeiten, überlegte Selina mit einem Anflug von Wehmut.
Es musste überhaupt eine Wohltat sein, arbeiten zu dürfen!
Zu ihrer Überraschung saß hinter dem Tresen diesmal eine überaus nette Dame mittleren Alters. Jack schien sie gut zu kennen, denn sie begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln.
„Jack, freut mich, dich auch mal wieder zu sehen!“
„Hallo Grace, schön wie eh und je“, erwiderte er charmant und zwinkerte ihr schelmisch zu. An Selina gewandt meinte er: „Sie sieht seit mindestens zehn Jahren unverändert gut aus. Vermutlich liegt hier irgendwo das Rezept für die ewige Jugend versteckt.“
Selina lachte, und die mit Grace angesprochene Dame strich sich etwas verlegen das Haar zurück.
„Immer noch derselbe zuvorkommende Schmeichler! Was macht dein Studium?“
„Na ja, geht so. Bis zur eigenen Kanzlei dauert es noch ein Stück.“
Grace nickte.
„Du schaffst das schon.“ Sie wandte sich freundlich an Selina. „Was kann ich für Sie tun, meine Liebe?“
„Ich möchte eine Anzeige im SENTINEL aufgeben“, erwiderte Selina. „Ich bin neu in der Stadt und suche eine preiswerte Unterkunft für zwei Personen.“
„So so...mal sehen…“, überlegte Grace und zog ein dickes, abgegriffenes Buch unter dem Tresen hervor. „An was genau hatten Sie denn dabei gedacht, ein oder zwei Zimmer, eine Eigentumswohnung oder ein Haus?“
„Oh, ein Haus oder eine Eigentumswohnung können wir uns momentan noch nicht leisten. Ich denke, etwas mit zwei Zimmern, Küche und Bad sollte für den Anfang reichen.“
Die Dame nickte und begann in ihrem Buch zu blättern.
„Leider muss ich Ihnen sagen, dass es zur Zeit hier in Destiny Beach mit Kleinstwohnungen schlecht aussieht, Miss. Den meisten Leuten geht es wie Ihnen, etwas Großes ist zu teuer, und die Kleinen sind ziemlich rar. Außerdem ist um diese Zeit Saison, so dass alle verfügbaren freien Zimmer an die Urlauber vermietet sind.“ Sie blickte auf und schüttelte den Kopf. „Wir können wirklich nur eine Anzeige schreiben und hoffen, dass jemand vielleicht noch Untermieter sucht. Oder Sie warten ein paar Wochen...“
„Nein!“, rief Selina schnell, denn der Gedanke, noch wochenlang in diesem Hotel hocken zu müssen, bereitete ihr das größte Unbehagen. „Schreiben Sie bitte die Anzeige.“
„Okay.“ Grace angelte nach ihrem Stift und nahm sich ein Formular.
Jack, der bisher schweigend das Gespräch der beiden Frauen verfolgt hatte, räusperte sich vorsichtig.
„Ähm... Grace, warte einen Moment.“ Mit einem Seitenblick auf Selina meinte er:
„Es ist nämlich so, dass ich auch eine Anzeige aufgeben wollte. Im Gegensatz zu der jungen Dame hier suche ich keine Unterkunft, sondern habe eine zu vermieten.“
Interessiert hob Selina die Augenbrauen.
„Ist das wahr?“
„Jack hat ein sehr schönes großes Haus direkt an der Strandpromenade“, erklärte Grace sogleich. „Ich hatte allerdings gedacht, alle Zimmer dort wären belegt!“
„Seit einigen Wochen nicht mehr“, erwiderte Jack. „Zwei unserer Untermieter haben Destiny Beach verlassen. Ich hatte nur noch nicht die Zeit, mich um neue Mieter zu kümmern.“
„Na, wenn das kein Zufall ist!“, rief Grace und ließ den Stift sinken. „Was meinen Sie, Miss, wäre das nicht etwas für Sie?“
SUN CENTER
„Wir sind da.“
Jack schloss die Eingangstür zum SUN CENTER auf. „Bitte, kommen Sie herein und sehen Sie sich in aller Ruhe um.“
Neugierig trat Selina näher.
„Hier ist das Wohnzimmer, und dort hinten befindet sich die Küche.“ erklärte Jack. „Diese Räume benutzen wir gemeinsam, ebenso wie das große Badezimmer und die beiden Duschkabinen, die sich oben befinden. Die einzelnen Schlafzimmer sind alle in der ersten Etage. Drei davon sind vergeben, an einen Mitarbeiter der Strandwacht, einen Medizinstudenten und an eine junge Frau, die erst seit kurzem hier wohnt. Der Student hat sich die beiden freien Abstellräume über dem Garagenkomplex wohnlich umgebaut. Am besten gehen wir gleich mal nach oben, Sie können sich die freien Zimmer anschauen und dann in aller Ruhe entscheiden.“
Selina nickte erfreut. Auf den ersten Blick wirkte hier alles recht gemütlich. Sich aufmerksam umsehend folgte sie Jack die Treppe hinauf.
Sie hatte sich eine Wohngemeinschaft immer als das reinste Chaos vorgestellt, ein heilloses Durcheinander, so wie sie es in ihrer Studentenzeit erlebt hatte, als sie mit zwei Freundinnen zusammengezogen war. Eine Bude jenseits jeglicher Ordnung, ohne Gardinen an den Fenstern, einer Spüle randvoll mit schmutzigem Geschirr und mit ewig überquellenden Aschenbechern an jeder Ecke.
Jacks Haus dagegen war hell, freundlich und überraschenderweise aufgeräumt. Gut, die Möbel waren vielleicht nicht die modernsten, und für Selinas Geschmack hätten das Fahrrad und das Surfbrett auch nicht da unten hinter der Tür stehen müssen, aber irgendwie wirkte alles herrlich ungezwungen und zeugte von frischem jugendlichen Stil.
„Wir haben hier oben insgesamt sechs Zimmer“, erklärte Jack weiter, während sie den schmalen Gang entlanggingen. Im hinteren Teil führte der Gang um die Ecke, was daran lag, dass das Haus etwas verwinkelt gebaut war.
„Die Zimmer, die auf den Strand zeigen, sind leider bereits bewohnt“, betonte er und wies auf die erste Tür. „Hier ist mein Zimmer, daneben wohnen die anderen beiden Mieter.“
„Gibt es vielleicht zwei Zimmer, die zusammengehören?“, fragte Selina interessiert. „Sie müssen wissen, ich bin nicht allein in Destiny Beach. Mein Verlobter ist zwar durch seinen Job ziemlich selten zu Hause, aber es wäre schön, wenn wir uns hier einrichten könnten wie in einer kleinen eigenen Wohnung.“
Jack war zwar erstaunt, da sie die Existenz ihres Verlobten bisher mit keinem Wort erwähnt hatte, und er laut ihren etwas vagen Aussagen eher mit einer weiteren Mitbewohnerin als mit einem Paar gerechnet hatte, doch er ließ es sich nicht anmerken.
„Zwei der freien Zimmer haben eine Verbindungstür und einen seitlichen Meeresblick“, erklärte er, öffnete eine der Türen und ließ Selina eintreten.
Sie sah sich angenehm überrascht in dem Raum um. Hell, freundlich, unkompliziert mit einer großzügigen Fensterfront ausgestattet. Auch der danebenliegende Raum ließ für Selina keine Wünsche offen. In Gedanken richtete sie sich schon wohnlich ein, den einen Raum als gemeinsames Schlafzimmer und einen als gemütliches Wohnzimmer, wo sie und Nick in Ruhe relaxen konnten. Einrichtung und Umfeld weit entfernt von einem sterilen, unpersönlichen Hotelzimmer. Genau das, was sie brauchte.
Entschlossen drehte sie sich um und nickte Jack mit einem strahlenden Lächeln zu.
„Ich glaube, wir kommen ins Geschäft!“
„Und Sie sind sicher, dass Sie nicht zuerst mit Ihrem Verlobten darüber reden wollen?“, erkundigte dieser sich etwas skeptisch, doch sie schüttelte energisch den Kopf.
„Wie gesagt, die Wohnungssuche ist meine Sache, er hat keine Zeit dafür. Zudem bin ich überzeugt davon, dass es ihm hier genauso gefallen wird wie mir.“
Sie atmete tief durch, zufrieden mit ihrer Entscheidung und mit sich selbst.
Da war sie endlich wieder, die alte Selina, spontan und selbstbewusst.
Hier in diesem gemütlichen Haus mit all den jungen Leuten würde sie nicht mehr so allein sein. Und sie hatte eine Aufgabe. Schließlich hatte Jack gesagt, jeder sei abwechselnd mit dem Kochen, Einkaufen und der Erledigung anderer hauswirtschaftlicher Dinge an der Reihe.
„Setzen Sie einen entsprechenden Mietvertrag auf, Jack. Wenn Sie einverstanden sind, werden wir morgen bereits einziehen.“
„Soll ich Sie vorher vielleicht noch mit den anderen Mitbewohnern bekannt machen?“, erkundigte sich Jack vorsichtig. „Wie wäre es zum Beispiel, wenn sie beide heute Abend kurz vorbeikommen?“
Selina dachte daran, wie abgespannt Nick abends nach Hause kam, und wie ungern er dann noch ausging.
„Nicht nötig“, erwiderte sie freundlich. „Mein Verlobter und ich werden morgen sowieso alle kennenlernen. Wenn die anderen nur halb so nett sind wie Sie, dann wird es sicher keine Probleme geben.“ Sie reichte ihm lächelnd die Hand. “Wissen Sie, Jack, der Tag heute fing absolut scheußlich an. Aber dank Ihnen ist er noch richtig gut geworden!“
DESTINY INN
„Eine... Waaas?“, rief Nick ungläubig und sah Selina entsetzt an. „Das kann unmöglich dein Ernst sein! Was soll ich denn in einer Wohngemeinschaft?“
„Wohnen“, erwiderte Selina sarkastisch und ignorierte seine Reaktion. Von dem Streit gestern Abend hatte sie immer noch einen leicht bitteren Nachgeschmack behalten, denn ihre Meinungsverschiedenheit war bisher nicht offiziell bereinigt worden.
Tief verletzt durch die vermeintliche Engstirnigkeit ihres Verlobten und nicht zuletzt durch Jasons Reaktion auf ihr Geständnis kurz danach am Pier war sie nach ihrer Rückkehr vom Strand sofort zu Bett gegangen und hatte so getan, als ob sie schon fest schliefe, als Nick wenig später das Hotelzimmer betrat. Er wiederum machte keinerlei Anstalten, sie zu wecken und mit ihr zu reden, und als er vorhin nach seinem Dienst von der Klinik zurückkehrte, war die Atmosphäre nach wie vor angespannt und etwas frostig gewesen.
„Ich habe heute ernsthaft nach einer Wohnung gesucht“, erklärte Selina ohne Umschweife. „Und man sagte mir, dass in Destiny Beach um diese Zeit überhaupt nichts dergleichen zu haben sei. Dann war da zufällig gerade dieser junge Mann, Jack Bennett, der Mieter für sein Strandhaus sucht. Ich bin also mit ihm hingegangen und habe es mir angesehen.“
Nick fuhr herum.
„Du bist einem wildfremden Mann in sein Haus gefolgt? Bist du noch bei Trost, Selina?“
Sie verdrehte genervt die Augen.
„Erstens kannte ihn die Dame von der Anzeigenannahme, und außerdem ist er sehr nett. Und sein Haus gefällt mir wirklich gut. Ich habe den Mietvertrag für uns bereits unterschrieben!“
Nick starrte sie an, als zweifle er an ihrem Verstand.
„Du hast...“, stammelte er nur fassungslos und ließ sich in einen der hinter ihm stehenden Sessel fallen. „Sag mal, warst du zu lange in der Sonne?“
Sie warf ihm einen tief beleidigten Blick zu.
„Im Gegensatz zu dir kümmere ich mich wenigstens um unser gemeinsames Leben.“
Einen Augenblick schwiegen beide gekränkt, dann stand Nick auf und hob versöhnlich beide Hände.
„Okay okay, du hast also ein Zimmer für uns in einer WG angemietet“, versuchte er möglichst ruhig das drohende Unheil zusammenzufassen.
„Zwei Zimmer“, verbesserte Selina. „Sie liegen nebeneinander und haben eine Verbindungstür.“
„Aha“ brachte er wenig begeistert hervor und sah aus, als hätte er gerade versehentlich in eine Zitrone gebissen, was Selina in ihrer Begeisterung völlig ignorierte
„Ich dachte mir, dass wir den einen Raum als Schlafzimmer benutzen und den anderen nehmen wir als Wohnstube. So müssen wir auch nicht immer mit den anderen zusammen unten sitzen, wenn dir das nicht gefällt.“
„Na toll“, knurrte er gereizt. „Zwei Zimmer mit Verbindungstür. Wenigstens muss ich den Vermieter nicht um Erlaubnis fragen, wenn ich mit meiner Verlobten allein sein will.“
Selina sah ihn an und ihr Gesicht hellte sich merklich auf.
„Heißt das, du bist einverstanden, Schatz?“
Er hob resigniert die Schultern.
„Was bleibt mir anderes übrig? Du lässt mir ja keine Wahl.“
Sie umarmte ihn stürmisch.
„Ich liebe dich, Nick!“, rief sie begeistert.
„Das ist auch der einzige Grund, weshalb ich mich auf diesen Wahnsinn einlasse“, knurrte er missmutig vor sich hin, doch Selina war in ihrer Vorfreude nicht zu bremsen.
„Morgen packe ich unsere Sachen und abends, wenn du vom Dienst kommst, ziehen wir um! Und jetzt gehen wir hinunter in die Bar und leisten uns zur Feier des Tages einen richtig schönen Cocktail!“
„Den kann ich brauchen“, murmelte Nick, als sie kurz darauf außer Hörweite war. „Die Mitarbeiter in der Klinik werden sich vor Schadenfreude die Mäuler zerreißen, wenn sie hören, dass ihr Chef in einer Wohngemeinschaft campiert!“
SUN CENTER
Beunruhigt setzte sich Jack zum Abendessen zu den anderen an den Tisch.
„Hat einer von euch Alli heute schon gesehen?“
„Ich bin selbst erst vor ein paar Minuten heimgekommen“, nuschelte Tom mit halbvollem Mund. „Keine Ahnung, wo sie ist.“
„Und was ist mit dir?“, wandte sich Jack an Jason, der mürrisch und verstimmt auf seinen Teller stierte.
„Woher soll ich das wissen“, knurrte der ungewohnt unfreundlich. „Mir brummt der Schädel, lasst mich in Ruhe.“
„Dann benimm dich wie ein normaler Mensch und betrink dich nicht bei der kleinsten Kleinigkeit“, konterte Jack. „Du hast nicht nur dir selbst damit den Abend versaut.“
„Was heißt hier Kleinigkeit!“, beschwerte sich Jason. „Du hast ja keine Ahnung!“
Jack winkte gelangweilt ab.
„Allerdings. Besser, wir belassen es dabei. Ach übrigens“, fiel ihm plötzlich ein. „Fast hätte ich es vergessen: gute Neuigkeiten für unsere WG. Ab morgen bekommen wir zwei neue Mitbewohner. Die beiden sind...“
Jason schob geräuschvoll seinen Stuhl zurück und stand abrupt auf.
„Erzähl`s mir später.“ Ohne ein weiteres Wort verließ er die Küche, sich dabei seinen schmerzenden Kopf haltend.
Tom grinste.
„Der hat vielleicht einen Brummschädel! Das wird ihm eine Lehre sein, glaub mir!“
„Na ja, so ohne Grund hat er sich nun auch wieder nicht betrunken“, versuchte Jack seinen Freund zu verteidigen, doch Tom schien das wenig zu interessieren.
„Hey, erzähl mal, wer sind die beiden Neuen?“, fragte er und stopfte sich erneut den Mund voll.
„Ein Pärchen aus dem mittleren Osten. Du wirst sie morgen kennenlernen“, Jack erhob sich ebenfalls. Die Sorge um Alli trieb ihn hinaus.
„Bist du schon satt?“, fragte Tom, immer noch kauend.
„Ich denke, dir schmeckt es auch ohne meine Gesellschaft“, erwiderte Jack mit einem Blick auf den vollgepackten Teller seines Mitbewohners. „Wir sehen uns später.“
Ratlos schob Jack einige Zeit später sein Motorrad in die Garage und setzte sich auf die Mauer neben dem Haus. Draußen war es inzwischen stockdunkel, und von Alli noch immer kein Lebenszeichen. Er war kreuz und quer durch die Gegend gefahren, er war am Strand gewesen und auch oben bei den Klippen.
Wo konnte sie nur sein?
Hoffentlich war ihr nichts zugestoßen, ein Unfall oder so... Bei dem bloßen Gedanken daran krampfte sich sein Magen schmerzhaft zusammen.
Oh ja, David hatte nicht unrecht mit seiner Bemerkung, es hätte ihn schwer erwischt. Er hatte sich neu verliebt, schneller, als er gedacht hatte. Aber Alli machte es ihm nicht leicht. Bis gestern Abend hatte sie sich ihm gegenüber distanziert, ja fast schon abweisend verhalten, und dann plötzlich dieser überraschende Kuss am Pier, die verheißungsvollen Zärtlichkeiten, die sie ausgetauscht hatten. Wenn er daran zurückdachte, schlug sein Herz schneller. Beinahe hätten sie miteinander geschlafen... Und heute verschwand sie einfach!
Ob sie vielleicht bereute, was gestern zwischen ihnen beiden geschehen war?
Ihre Sachen waren alle noch da, also musste sie wiederkommen. Vorausgesetzt, ihr war nichts geschehen.
Er saß dort und grübelte, als er plötzlich die inzwischen vertrauten Motorengeräusche hörte.
Erleichtert atmete er auf.
Alli bog mit ihrer schweren Maschine um die Ecke und stoppte vor der Garage.
Sie stieg ab, öffnete das Tor, schob das Motorrad hinein und setzte den Helm ab.
Als sie Jack entdeckte, wich sie erschrocken zurück.
„Was tust du denn im Dunkeln hier draußen?“
„Ich könnte dich dasselbe fragen“, erwiderte er und ging auf sie zu, die Hände in den Hosentaschen vergraben. „Du warst den ganzen Tag weg, ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“
„Ach ja?“ Erstaunt zog sie die Augenbrauen hoch. „Warum das denn?“
„Na hör mal, du verschwindest einfach, und keiner weiß, wo du bist.“
Allis Gesicht verfinsterte sich.
„Bist du neuerdings mein Vormund?“, fragte sie leicht gereizt. „Soll ich jedes Mal vor dir Rechenschaft ablegen, wenn ich unterwegs bin?“
„Nein, das nicht. Aber schließlich sind wir hier eine Wohngemeinschaft, also so etwas wie eine kleine Familie, und du könntest zum Beispiel einen Zettel hinlegen, damit wir uns keine unnötigen Gedanken machen müssen, ob dir vielleicht auf deinen geheimnisvollen Ausflügen etwas passiert ist!“
Es schien fast so, als müsse Alli die folgenden Worte genau abwägen, bevor sie diese aussprach. Dann trat sie dicht an Jack heran und sah ihn an.
Trotz der Dunkelheit blieb ihm das warnende Funkeln in ihren Augen nicht verborgen, und ihr leiser, aber eindringlicher Tonfall erinnerte ihn an ihr gestriges Gespräch mit den Sanitätern auf dem Pier.
„Wenn ihr euch Sorgen gemacht habt, dann tut mir das leid. Aber ich habe dir schon einmal gesagt, ich lebe mein Leben so, wie es mir passt. Und dazu gehört auch, dass ich mir eine Auszeit nehmen kann, wann immer ich will. Ich werde niemandem Rechenschaft ablegen, wo ich meine Zeit verbringe. Wenn du nicht damit klarkommst, lass es mich wissen. Dann werde ich mir eine andere Bleibe suchen.“
Jack schluckte.
„Das war deutlich“, sagte er und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. „Okay, wenn du es so haben willst, bitte sehr. Ich werde mich nicht mehr darum kümmern, was du tust, egal, ob dir etwas passiert oder nicht. Es interessiert mich in Zukunft nicht mehr. Aber beklage dich niemals wieder, dass du ganz allein bist. Du willst es ja nicht anders. Gute Nacht.“
Bevor sie etwas erwidern konnte, drehte er sich wortlos um und ging ins Haus.
„Verdammt!“
Alli hätte am liebsten den Motorradhelm in die Ecke geworfen. Wütend auf Jack, aber noch wütender auf sich selbst lehnte sie sich an die kühle Mauer und strich sich mit einer ungeduldigen Bewegung das Haar zurück.
Sie hätte sich ohrfeigen können!
Jack hatte es ganz sicher nur gutgemeint. Und nun war er böse auf sie. Und das mit gutem Recht, wie sie im Nachhinein einsah.
Plötzlich tat ihr unendlich leid, was sie gesagt hatte. Er hatte enttäuscht ausgesehen und seine Worte hatten erschreckend endgültig geklungen.
Sie dachte an gestern Abend, an das beruhigende Gefühl, sich endlich wieder einmal bedingungslos in zwei starke Arme fallen zu lassen, jemandem zu vertrauen und die Wärme des anderen zu spüren. Geborgenheit hieß das Wort, das sie so sehr vermisste. Jack konnte sie ihr geben, das wusste sie, und sie empfand ebenfalls viel mehr für ihn als sie bislang bereit war, sich selbst einzugestehen.
Aber warum musste sie ihn dann so verletzen? Hatten die letzten Monate sie wirklich so verändert?
„Ich möchte dir so gern vertrauen, Jack“, murmelte sie und lehnte den Kopf an die Wand hinter sich. „Aber nach allem, was ich erlebt habe, weiß ich nicht, ob ich überhaupt jemals in der Lage sein werde, wieder einem Menschen zu vertrauen.“
Leise und unendlich traurig betrat sie das Haus, ging hinauf in ihr Zimmer, verschloss die Tür und setzte sich auf ihr Bett. Sie saß einfach da und starrte ins Leere. In ihrem Kopf formten sich Bilder, die sie quälten und die sich einfach nicht verdrängen ließen.
Immer und immer wieder wanderten ihre Gedanken in die Vergangenheit.
Als schließlich die Tränen kamen, war das wie eine Erlösung, und sie weinte sich wie ein Kind in den Schlaf.