LeAnns Coffeeshop
Jason hatte Selina überall gesucht. Er war durch die Straßen der Stadt gelaufen, hatte im SUN CENTER, am Strand und sogar in der Lifeguard-Station nach ihr Ausschau gehalten, leider ohne Erfolg. Sie war wie vom Erdboden verschwunden.
Was auch immer der Grund dafür war, dass Nick so plötzlich eine neue Stelle annehmen wollte, es musste etwas Schwerwiegendes zwischen ihm und Selina vorgefallen sein, das sie letztendlich dazu veranlasste, ihrem Verlobten den Laufpass zu geben, anstatt ihm zu folgen.
Entscheidend war die Frage, was sie nun tun würde. Hierbleiben oder zurück nach Chicago gehen?
Bei letzterem Gedanken drehte sich ihm fast der Magen um. Er wollte keinesfalls, dass sie Destiny Beach verließ! Wenn er jetzt mit ihr über alles reden könnte, dann wäre ihm um einiges leichter, denn dann würde er ihr endlich geradeheraus sagen, was er für sie empfand.
Aber dazu musste er sie erst einmal finden.
Wo zum Teufel konnte sie nur sein?
Er beschloss kurz auf einen Kaffee bei LeAnn vorbeizuschauen. Vielleicht hatte die Wirtin ja eine Idee, wo er noch nach Selina suchen könnte. Außerdem wusste LeAnn doch fast immer Rat, wenn es um tiefe Gefühle ging.
Zielstrebig betrat er das Café und ging hinüber zum Tresen.
„Jason“, strahlte LeAnn. „Schön, dass du dich auch mal wieder blicken lässt. Was kann ich für dich tun?“
„Ich brauche dringend einen starken Kaffee. Vor allem aber brauche ich deinen Rat“, erwiderte er gerade heraus.
LeAnn zog erstaunt die Augenbrauen hoch.
„In dieser Reihenfolge?“
„Nein, vielleicht zuerst den guten Rat.“
„Okay, dann lass mal hören.“
„Ich kann Selina nirgends finden. Du hast nicht zufällig eine Idee, wo ich noch suchen könnte?“
„Sie war vor etwa einer halben Stunde hier“, verriet LeAnn und wiegte bedenklich den Kopf. „Und sie sah nicht sehr glücklich aus.“
Sofort war Jason hellwach.
„Sie war hier? Weißt du, wo sie hin wollte?“
„Nein, leider nicht.“
Jason sprang von seinem Barhocker.
„Sei nicht böse, ich trinke den Kaffee ein anderes Mal. Ich muss sie finden!“
„Jason!“
Zögernd blieb er stehen und LeAnn lächelte verschwörerisch.
„Ich weiß zwar nicht, wohin sie gegangen ist, aber ich habe ihr gesagt, wohin es mich immer gezogen hat, wenn ich Kummer hatte.“
„Wohin, LeAnn? Sag schon… Bitte!“, rief Jason ungeduldig.
Die Wirtin lächelte.
„Zum Ende des Piers. Ein Blick hinaus aufs Meer und auf die Wellen wirkt bei Herzschmerz wahre Wunder.“
Zum zweiten Mal an diesem Tag küsste Jason aus Dankbarkeit eine Frau auf die Stirn.
„Danke LeAnn, du hast was gut bei mir!“
„Ich komme darauf zurück, wenn die Musikbox das nächste Mal streikt“, lachte die Wirtin, doch das hatte er schon gar nicht mehr gehört.
Long Beach
William Raves hatte sein teuer aussehendes Jackett ausgezogen und achtlos über einen der Stühle geworfen. Langsam und bedächtig begann er, die Ärmel seines blütenweißen Hemdes aufzurollen, und es schien, als würde er jede einzelne Sekunde genießen, während er Alli mit seinen eiskalten Augen fixierte.
„So kann ich mich gleich viel besser bewegen. Fälle wie diesen hier erledige ich mit Vergnügen selbst. Ein ganz besonderes Privileg für deinen Partner“, erklärte er mit einer bedeutungsvollen Kopfbewegung zu Jack hinüber.
„Fahr zur Hölle“, fauchte Alli.
„Das sagtest du bereits“, erwiderte er unbeeindruckt und musterte sie weiterhin voller Genugtuung, als könne er nicht glauben, dass er sie endlich in seiner Gewalt hatte. „Weißt du, Kleines, es tut mir fast leid, dass damals alles so aus dem Ruder gelaufen ist. Susan war ein nettes Mädchen, so lieb und anschmiegsam, und wenn alles gut gelaufen wäre, dann wärst du heute vielleicht meine Schwägerin und würdest alle Privilegien der Organisation genießen. Ich sorge nämlich gut für meine Familie.“
„Was für eine Familie?“, höhnte Alli. „Meinst du die Horde von Gorillas, die dir nur hörig sind, solange das Geld reicht? Irgendwann kommt einer, der mächtiger ist als du und besser zahlt. Und dann schießen sie dir in den Rücken, wie sie es von dir gelernt haben, verlass dich drauf!“
`Verdammt, halt endlich den Mund` dachte Jack und spürte, wie eine Welle der Angst in ihm hochkroch. Angst um sie. Warum provozierte sie ihn? War ihr Hass auf diesen Mann wirklich größer als jegliche Furcht um ihr Leben?
Erneut versuchte er erfolglos, sich von seinen Fesseln zu befreien, als er sah, wie Raves auf Alli zutrat, mit festem Griff grob ihr Kinn umfasste und sie zwang ihn anzusehen.
„Das hättest du wohl gern?“ Der Gangsterboss verzog hämisch grinsend sein Gesicht. „Glaub mir, Querita, das wird ganz sicher nicht passieren“, zischte er boshaft. „Zumindest werdet du und dein Freund hier das nicht mehr erleben. Ich dagegen werde es genießen, euch sterben zu sehen, langsam und sehr qualvoll…“
Er ließ sie abrupt los und trat zurück, um Sekunden später wieder in seinen gespielt lässigen Plauderton zu verfallen. Er schien sich seiner Sache absolut sicher zu sein.
„Leider war deine große Schwester etwas naiv, sonst hätte sie schon eher gemerkt, in welcher Branche ihr Liebster tätig ist. Hat sie dir eigentlich mal erzählt, wie sie erfahren hat, mit wem sie das Bett teilt?“
„Wie sollte sie?“, erwiderte Alli hasserfüllt. „Du hast sie umgebracht, bevor sie mir davon erzählen konnte.“
„Immerhin hat sie es geschafft, dir den Speicherchip mit den belastenden Aufzeichnungen zu geben. Hast du dir die Fotos und Videos angesehen?“
Alli dachte an die brutalen, unmenschlichen Fotos und Szenen, die sie wohl nie wieder aus ihrem Kopf bekommen würde und atmete tief durch.
„Oh ja. Und ich lasse dich dafür büßen.“
Er lachte, ohne dass dieses höhnische Lachen seine kalten Augen erreichte.
„Schätzchen, du bist ganz sicher nicht mehr in der Lage, irgendjemanden für irgendetwas büßen zu lassen, wenn ich mit dir fertig bin.“
Als sie nichts erwiderte, räusperte er sich und hieb spielerisch die eine zur Faust geballte Hand in die Handfläche der anderen Hand.
„Na also, und nachdem du dir alles, was auf dem Speicherchip war, genau angesehen hast, weißt du nun auch, was ich mit Leuten mache, die sich mir gegenüber nicht ganz loyal verhalten.“
„Natürlich. Du lässt sie kaltblütig umbringen, denn es selbst zu tun, dazu fehlt dir der Mumm.“
Er lächelte scheinbar unbeeindruckt.
„Da täuschst du dich gewaltig, meine Liebe. Ich genieße es, Leute aus dem Weg zu schaffen, die sich unkooperativ mir gegenüber verhalten und zu Verrätern werden. Ich werde es dir mit dem größten Vergnügen beweisen."
Wieder trat er einen Schritt auf Alli zu und strich mit den Fingerspitzen über ihre Wange. „Kleine rachsüchtige Schwester...“
Sie versuchte mit einer unwirschen Kopfbewegung, seine Hand abzuschütteln.
„Feiger Mörder!“
Er trat wieder zurück und schüttelte den Kopf.
„Ich wollte Susan nicht töten, im Gegenteil. Deine Schwester war die erste Frau, die mir wirklich etwas bedeutet hat.“
„Du hast es trotzdem getan“, fauchte sie verächtlich. „Also spar dir das Gewinsel, Raves. Du bist doch gar nicht fähig, jemanden zu lieben.“
Die Ohrfeige, die sie daraufhin kassierte, zeigte ihr, dass sie ihn mit ihrer Bemerkung getroffen hatte.
„Treib es nicht zu weit, Sam“, warnte er und maß sie mit unverhohlener Wut. Obwohl ihre Wange von dem Schlag wie Feuer brannte, lächelte sie nur, während Jack Raves liebend gern an die Gurgel gegangen wäre. Wieder warf er Alli einen verzweifelten Blick zu. Warum hielt sie nicht endlich den Mund? Sie forderte diesen Psychopaten mit ihren Bemerkungen geradezu heraus!
Aber genau das war ihr Plan. Sie versuchte Zeit zu gewinnen, um Raves so lange wie möglich von Jack abzulenken.
„Jeder hat seinen Schwachpunkt. Und ich kenne deinen“, sagte sie mit einem überlegenen Lächeln.
„Ach ja?“ Raves beugte sich vor, so dass sein Gesicht ihrem ganz nahe war, und seine Raubvogelaugen schienen sie förmlich zu durchbohren. „Und der wäre?“
„Du bist zu unbeherrscht. Das wird dir irgendwann das Genick brechen.“
„Wer hier wem das Genick bricht, wird sich gleich zeigen, meine Liebe“, zischte er gefährlich leise. Sie lächelte verächtlich und hielt seinem hasserfüllten Blick scheinbar mühelos stand.
Im nächsten Moment richtete sich Raves wieder auf und ein diabolisches Grinsen zog über sein Gesicht.
„Nun gut, genug geredet. Kommen wir zu den wirklich wichtigen Dingen.“
Er rieb sich die Hände und schickte sich an zu Jack hinüberzugehen.
„Raves!“, rief Alli eilig.
„Was ist?“
„Wo ist David Edwards?“
Er schien mitten in seiner Bewegung zu erstarren, bevor er sich wie in Zeitlupe erneut zu ihr umwandte. Etwas Lauerndes lag in seinem Blick, als er langsam wieder auf sie zukam.
„Was weißt du über David Edwards?“
„Ihr habt ihn entführt, im Auftrag von George Carrington. Aber ihr habt einen Fehler gemacht.“
„Wir machen keine Fehler.“ Dicht vor ihr blieb er stehen.
„Sicher?“
„Wenn du etwas weißt, dann sag es jetzt, oder ich prügle das auch noch aus deinem Freund heraus.“
„Das wirst du doch sowieso tun“, erwiderte sie und musterte ihn herausfordernd. „Aber Davids Entführung wird euch nichts nützen. Carrington bekommt nicht, was er will, und er wird sich das nicht bieten lassen. Genauso wenig wie die örtlichen Behörden. Sie wissen Bescheid und sind euch bereits dicht auf den Fersen. Wenn ich dich gefunden habe, dann finden sie dich auch. Denk mal darüber nach.“
Einen Augenblick lang schien es, als sei Raves verunsichert, dann aber lachte er höhnisch.
„Guter Versuch, Sam. Leider vergebens. Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja…“
Er drehte sich auf dem Absatz um und stand mit wenigen Schritten vor Jack.
„Andrew Parker saß genauso da, wie Sie, Mister. Nun, vielleicht nicht ganz so, nachdem sich meine Leute bereits ein wenig mit ihm beschäftigt hatten. Er konnte kaum noch reden, dennoch wollte er wissen, wo Samantha sei, und ich sagte ihm, sie sei tot. Dann bat ich ihn höflich, wie es nun mal meine Art ist, um den besagten Speicherchip.“
Seine Faust fuhr blitzschnell nach vorn und traf Jacks Jochbein. Für einen Augenblick schien es Jack, als explodiere ein Feuerwerk in seinem Kopf.
„Er wollte es mir leider nicht sagen. Also versuchte ich ihn dazu zu überreden...“
Wieder folgte ein Schlag, diesmal aufs Kinn, so dass Jack beinahe die Sinne schwanden.
„Hör auf, du elender Feigling!“, schrie Alli.
Raves lachte verächtlich.
„Was denn, Schätzchen, ich habe doch noch nicht einmal richtig angefangen!“
Er drehte sich um und holte zum nächsten Schlag aus…
Aus dem Augenwinkel heraus nahm Jack eine blitzschnelle Bewegung wahr, und dann war Alli plötzlich hinter Raves. Für einen Bruchteil der Sekunde sah er ihre aufgeriebenen Handgelenke. Sie musste sich mit ihren schmalen Händen aus den Fesseln herausgewunden haben, ohne dass er es bemerkt hatte.
Noch bevor Raves begriff, wie ihm geschah, bekam er einen gezielten Schlag mit der Handkante ins Genick. Ächzend sackte er in die Knie, riss jedoch noch im Fallen geistesgegenwärtig den Arm nach hinten, bekam Allis Bein zu fassen und brachte sie so ebenfalls zu Fall. Sie rollte sich geschickt zur Seite und versetzte ihm einen heftigen Tritt gegen die Schulter. Der Schmerz ließ den Boss aufstöhnen. Die 38iger, die die ganze Zeit in seinem Hosenbund gesteckt hatte, fiel mit einem polternden Geräusch auf den Fußboden. Hektisch versuchte er danach zu fassen, doch Alli war schneller und kickte die Waffe mit dem Fuß in Jacks Richtung.
Durch diese waghalsige Aktion war sie jedoch für einen Moment von ihrem Gegner abgelenkt, der sich erstaunlich schnell von ihrem Angriff erholt hatte. Er stürzte sich auf sie und drückte sie mit seinem Gewicht auf den Boden.
Nach einem kurzen Zweikampf gelang es ihm, sie am Hals zu packen.
Gnadenlos drückte er zu…
Am Strand
Jason hatte den beträchtlichen Weg bis zum Pier im Dauerlauf zurückgelegt. Schweratmend verharrte er vor den Stufen, die hinaufführten. Suchend sah er sich um.
Der Pier war um diese Zeit gut besucht. Viele Touristen tummelten sich auf der Brücke, die weit aufs Meer hinaus führte und von jeher eine magische Anziehungskraft für Jung und Alt zu haben schien.
Am liebsten hätte Jason den Pier abgesperrt und alle Besucher weggeschickt, denn er befürchtete, Selina in dem bunten Gewimmel zu verpassen. Langsam und tief durchatmend erklomm er die Stufen und lief über die endlos scheinenden Holzbohlen.
Es schien ihm wie eine kleine Ewigkeit, bis er endlich am Ende angelangt war.
Seine Augen wanderten aufmerksam herum, doch er sah nur fremde Gesichter.
Selina war nicht da.
Verdammt!
Er fuhr sich ratlos mit den Fingern durchs Haar, stützte sich schließlich schweratmend auf das Holzgeländer und starrte hinaus auf die Wellen.
Wo konnte sie sein?
„Jason?“
Ungläubig blickte er auf und sah sich um.
Nein, das war kein Trugbild. Sie stand da, einen Trinkbecher in der Hand und musterte ihn erstaunt. „Was tust du denn um diese Zeit hier? Hast du heute keinen Dienst?“
„Doch… das heißt… nein...“, stotterte er zusammenhanglos. „Ich… ich habe mir freigenommen, weil…“
Sie zog fragend die Augenbrauen hoch.
„Weil?“
Er atmete tief durch.
„Ich war in der Klinik und habe gehört, dass Nick vorhat, die Stadt zu verlassen“, begann er zögernd. „Und ich habe nach dir gesucht, weil ich dich fragen wollte…“
„Ja?“
Jason atmete tief durch, um sich innerlich für seine nächste, alles entscheidende Frage zu wappnen.
„Gehst du mit ihm fort?“
Selina trat an ihm vorbei ans Geländer und sah hinaus aufs Meer.
„Nein“, erwiderte sie leise. „Ich werde nicht mit ihm fortgehen.“
Jason atmete sichtlich erleichtert auf, doch da war noch immer diese Unsicherheit.
„Und was wirst du nun tun? Willst du zurück nach Chicago?“
Langsam, unendlich langsam drehte sich Selina zu ihm um.
„Ich bin durch die Gegend gelaufen und habe mir mindestens hundert Mal genau diese Frage gestellt.“ Ein kaum wahrnehmbares Lächeln flog über ihr Gesicht, dann sah sie ihn an. „Jetzt weiß ich die Antwort.“
„Und?“
„Ich gehe nicht zurück, mir gefällt es hier in Destiny Beach. Ich bleibe.“
Es war, als fiele mit einem Mal eine zentnerschwere Last von ihm ab.
„Selina!“ Spontan machte er einen Schritt auf sie zu, nahm sie bei den Schultern und wollte sie in seine Arme ziehen, doch sie wich zurück.
„Warte. So habe ich das nicht gemeint.“
„Was?“ Irritiert hielt er inne. „Was hast du nicht so gemeint?“
Einen Moment lang drehte sie verlegen den Becher zwischen ihren Fingern, dann sah sie Jason erneut entschlossen in die Augen.
„Ja, ich bleibe hier. Und nein, ich bin noch nicht dazu bereit, eine neue Beziehung einzugehen.“ Unter seinem verständnislosen Blick nickte sie, als müsse sie sich das eben Gesagte selbst noch einmal bestätigen. „Ich mag dich, Jason, aber ich muss erst zu mir selbst finden. Ich hoffe, du verstehst.“
Langsam aber gnadenlos deutlich spürbar machte sich die Enttäuschung in seinem Inneren breit, verdrängte die unbändige Freude und schien seinen Brustkorb mit eiserner Faust zusammenzupressen. Hastig trat er einen Schritt zurück.
„Ja, klar. Ich verstehe. Entschuldige bitte…“
„Du musst dich nicht entschuldigen.“
Verlegen sahen sie einander an, und es schien, als habe sich in diesen letzten Sekunden eine unsichtbare Wand aus Eis zwischen ihnen gebildet.
„Okay“, brachte Jason schließlich mühsam heraus. „Ich bin froh, dass du bleibst. Vielleicht haben wir...wir beide...“ Er sah ihren Blick und verstummte. Es tat weh, aber er wollte nichts zerreden, wo es momentan nichts zu reden gab. „Ich werde dann mal zurückgehen. Vielleicht brauchen die mich ja doch noch in der Klinik.“
Selina biss sich auf die Lippen und nickte.
„Ist gut. Wir sehen uns irgendwann später im SUN CENTER.“
„Ja, sicher. Bis dann.“
Long Beach
Jack hörte Alli röcheln.
Verzweifelt versuchte er seine Fesseln zu lockern, um ihr zu helfen, doch die Schnüre gaben keinen Millimeter nach. Er angelte mit dem Fuß nach der Waffe, holte schließlich Schwung und ließ sich mitsamt dem Stuhl, an den er gefesselt war, umfallen.
Er bekam die Waffe zu fassen, doch auf Raves zu schießen, kam nicht in Frage. Zu groß war die Gefahr, in der gegenwärtigen Situation Alli versehentlich zu treffen. Also dreht er die 38er geschickt in seinen Händen und gab einen Warnschuss ab.
Der Knall war ohrenbetäubend. Die Kugel bohrte sich in die Zimmerdecke. Kalk und Putz rieselten aus der Einschussstelle.
Raves schien das jedoch nicht zu stören. Er hatte Alli sicher unter sich begraben, seine Hände lagen um ihren Hals und drückten ihr gnadenlos die Luft ab.
In fliegender Eile schob sich Jack näher an die beiden heran und trat den Boss mit aller Kraft in die Seite. Raves stöhnte auf, ließ jedoch noch immer nicht von seinem Opfer ab.
Noch bevor Jack ein zweites Mal zutreten konnte, gab es draußen plötzlich einen kurzen aber heftigen Schusswechsel.
Die Tür flog auf, und mehrere schwer bewaffnete Männer stürmten ins Zimmer, gefolgt von John Carpenter, der seine Waffe sofort auf William Raves richtete.
„Loslassen!“, befahl er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
Raves erstarrte, nahm widerstrebend seine Hände von Allis Kehle und richtete sich langsam auf.
„Die Arme hoch, Mistkerl!“, befahl John. Während er weiter unbeirrt die Waffe auf den Syndikatsboss gerichtet hielt, trat er zu Alli.
„Alles okay, Sam?“, fragte er besorgt.
Hustend und mühsam nach Luft ringend nickte sie und richtete sich auf.
Während zwei von Johns Männern Raves` Bodyguards in Handschellen hereinführten, zog ein anderer ein Messer aus der Tasche und machte sich an Jacks Fesseln zu schaffen.
„FBI, nehme ich an“, mutmaßte dieser und rieb sich, sobald seine Hände frei waren, das Kinn, das von Raves` letztem Faustschlag wie betäubt war. „Also eines muss man euch lassen, ihr habt ein nahezu perfektes Timing, Jungs!“
John grinste.
„Tja, manchmal sind wir richtig gut.“
Mit zwei Schritten war Jack bei Alli und half ihr hoch.
„Wie geht`s dir?“, flüsterte sie mit zitternder Stimme.
Anstatt einer Antwort zog er sie unendlich erleichtert in seine Arme.
Erst jetzt bemerkten sie, dass John und seine Männer nicht allein waren. Im Türrahmen standen Daniel und Jeff, gefolgt von Dylan, der seinen Zwillingsbruder stützte.
„David!“ Jack, der Alli fest im Arm hielt, blickte fragend auf seinen Freund. „Bist du okay?“
„Halb so wild“, nickte David und deutete seinerseits auf die bereits gut sichtbaren Blessuren in Jacks Gesicht, die von Raves Schlägen stammten und sich bereits leicht zu verfärben begannen. „Und was ist mit dir?“
„Halb so wild“, wiederholte Jack die Worte seines Freundes und bedachte Alli, der das Atmen noch immer schwerfiel, mit einem unendlich erleichterten Blick. „Nichts, was nicht wieder heilt.“ Dann sah er David vielsagend an. „Du weißt sicher inzwischen, wem du das hier zu verdanken hast?“
David nickte.
„Und ob ich das weiß. Wenn ich George in die Finger bekomme, dann Gnade ihm Gott!“
„Dazu wirst du leider keine Gelegenheit mehr bekommen, fürchte ich“, erwiderte Jack, nicht ohne Bedauern in der Stimme. „Vermutlich hat ihn das FBI bereits erwartet, als er nach seinem Treffen mit Raves zurück ins Büro fuhr. Aber wir sehen ihn mit Sicherheit vor Gericht, und dann wird gnadenlos abgerechnet.“
Nach diesen Worten wanderten seine Augen erneut hinüber zu Raves. Der Gangsterboss beobachtete das Geschehen im Zimmer mit undurchdringlich finsterer Miene, während er von Johns Männern weiterhin in Schach gehalten wurde. „Lasst diesen Mistkerl bloß nicht aus den Augen!“
„Keine Sorge“, erwiderte John, der ebenfalls seine Waffe auf Raves gerichtet hatte und sich diesem nun erneut zuwandte.
„Umdrehen!“
Langsam kam William Raves dem Befehl nach und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand.
Draußen waren Polizeisirenen zu hören.
„Na endlich, wir bekommen Unterstützung“, kommentierte Dylan und machte Platz, um die hereineilenden Polizisten vorbeizulassen. John erklärte ihnen kurz und präzise die Sachlage und wies dann auf den Gefangenen.
„Nehmt ihn mit. Und seid vorsichtig, er ist gefährlich!“
Nachdem er Raves nun in sicherer Verwahrung wusste, drehte er sich zu Alli um, die inzwischen schweigend neben Jack am Fenster stand und jede Bewegung im Raum genau beobachtete.
„Das eben hätte ins Auge gehen können, Sam“, bemerkte er mit einem Anflug von Vorwurf in seiner Stimme. „Dein Anruf kam ziemlich spät. Ich hatte schon befürchtet, wir schaffen es nicht mehr rechtzeitig.“
Alli wusste genau, wie sehr er sich die ganze Zeit um ihre Sicherheit gesorgt hatte, und wie unendlich froh er war, dass ihr nun nichts mehr geschehen konnte. Sie trat auf ihn zu und schlang spontan die Arme um seinen Hals.
„Danke John“, sagte sie mit noch immer leicht rauer Stimme. „Danke, für alles! Ohne dich hätte ich diese furchtbare Zeit nicht durchgestanden.“
John schluckte und erwiderte die Umarmung.
„Ich hätte mir auch nie verzeihen können, wenn dir was zugestoßen wäre. Das war ich dir schuldig. Dir, Susan und Andrew“, erwiderte er leise.
Was dann geschah, dauerte nur Bruchteile von Sekunden...