SUN CENTER
Als Alli erwachte, war es bereits heller Vormittag. Ungläubig starrte sie auf die große Wanduhr und konnte sich nicht erinnern, jemals in den letzten Wochen so lange geschlafen zu haben.
Eigentlich war das gar nicht so verwunderlich, hatte sie doch bis weit nach Mitternacht wachgelegen, aus Angst davor, wieder von einem dieser furchtbaren Albträume heimgesucht zu werden. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass dies nicht der einzige Grund für ihre Unruhe gewesen war.
Sie hatte nicht einschlafen können, weil Tom ihr zuvor von dieser Firma erzählte, in der Jack als Chef der Sicherheitsabteilung arbeitete. Die CEC Corporation, die größte und bekannteste Immobilienfirma an der Südwestküste Kaliforniens.
„Die Firma gehörte bisher drei gleichberechtigten Teilhabern, George Carrington, Jonathan Cabott und David Edwards“, hatte ihr Tom auf ihre Frage hin erklärt. „Allerdings ist Cabott vor zwei Wochen mit seinem Wagen tödlich verunglückt, und böse Zungen behaupten, das sei kein Zufall gewesen. Irgendwer könnte nachgeholfen haben, und es würde hier niemanden wundern, wenn dieser Jemand den Namen Carrington trägt! Er hat bei sämtlichen krummen Geschäften seine Finger im Spiel. Leider ist er ziemlich clever, so dass man ihm nie etwas nachweisen kann.“
„Und wieso ist Jack noch so spät abends unterwegs?“, hatte Alli beunruhigt gefragt.
„Soweit ich weiß, vermutet er momentan irgendwelche dunklen Machenschaften in der Firma, die sich vor allem gegen seinen Freund David Edwards richten könnten. Das versucht er zu verhindern.“
„Das ist sicher nicht ungefährlich für Jack.“
„Der passt schon auf sich auf“, hatte Tom erwidert und lachend abgewinkt. „Mach dir keine Sorgen, der lässt sich nicht erwischen.“
Trotzdem hatte Alli anschließend stundenlang wachgelegen und jedem Geräusch gelauscht, das von der nächtlichen Straße durch das geöffnete Fenster hinauf in ihr Zimmer drang.
Jack war also für die Sicherheit in dieser Firma zuständig. Ein äußerst verantwortungsvoller Posten, bei dem er sicherlich Zugang zu allen möglichen geheimen Dingen hatte, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Ob Informationen des FBI oder der CIA auch dazugehörten? Wohl eher nicht, redete sich Alli ein, soweit reichte seine Kompetenz ganz sicher nicht. Er war nur einfach der Boss eines Security-Unternehmens, das für eine einflussreiche Firma arbeitete, nicht mehr und nicht weniger. Außerdem hielt sie ihn für zu loyal, als dass er heimlich hinter ihr her schnüffeln würde.
Alli atmete tief durch und schalt sich im Geiste einmal mehr einen unverbesserlichen Angsthasen. Wozu nach Gefahr suchen, wo keine war!
Trotzdem wurde sie diese innere Unruhe nicht los, die sie so oft quälte. Erst als sie endlich hörte, wie Jack mit seinem Motorrad in die Hauseinfahrt einbog, schloss sie erleichtert die Augen und war kurz darauf mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht eingeschlafen.
Nun sprang sie gutgelaunt aus dem Bett, duschte und zog sich an, bevor sie in dem Glauben, um diese Zeit allein im Haus zu sein, beschwingt ein Lied vor sich hin trällernd hinunter in die Küche lief und sich einen Orangensaft eingoss.
Während sie trank, überlegte sie, was sie tun sollte.
Zum Strand?
Langweilig...
In die Stadt?
Keine Lust...
Aber eigentlich könnte man ja mal etwas im Haushalt tun, überlegte sie und verspürte plötzlich einen unersättlichen Tatendrang.
Hausputz, genau wie früher, so tun, als sei das hier ihr zu Hause.
Sie suchte sich Wischlappen und Eimer, stellte einen Hocker vor das Küchenfenster, stieg hinauf und begann die Scheiben abzuwaschen.
Sie achtete nicht auf die halbgeöffnete Küchentür hinter sich, wieso auch, wenn sowieso niemand im Haus war!
Doch das war ein Irrtum.
Wenige Augenblicke später wurde die Tür mit Schwung aufgerissen...
Mit einem erschrockenen Aufschrei verlor Alli das Gleichgewicht auf dem wackligen Hocker, der sofort zur Seite kippte. Ihr Fuß tappte ins Leere. Sie versuchte sich noch festzuhalten und riss dabei fast den Eimer vom Fensterbrett, bevor sie selbst hinten über stürzte.
Doch zu ihrer Überraschung fiel sie gar nicht tief, sondern landete sicher in zwei starken Armen, die sie auffingen und festhielten. In Erwartung eines ziemlich unsanften Aufpralls hatte sie die Augen zugekniffen, und als sie diese jetzt erstaunt öffnete, blickte sie genau in Jacks Gesicht.
„Hoppla“, meinte er lachend. „Wusstest du eigentlich, dass – statistisch gesehen - die meisten Unfälle im Haushalt passieren?“
„Sehr witzig“, knurrte Alli, vermochte jedoch ihren Blick nicht von seinen dunklen Augen zu lösen, die ihr in diesem Moment viel zu nahe waren.
Sekundenlang verharrten sie beide so, und Jack widerstand nur mit allergrößter Mühe der Versuchung, den Augenblick zu nutzen und ihre verführerischen, leicht geöffneten Lippen zu küssen. Doch dann dachte er daran, dass er sich fest vorgenommen hatte, sie nicht zu bedrängen, und er setzte sie sanft ab. Äußerst widerwillig löste er seine Arme, die er bis dahin um ihre schlanke Taille geschlungen hatte.
„Ich hoffe, du hast dir nicht wehgetan?“, fragte er besorgt.
Alli schüttelte den Kopf und trat benommen einen Schritt zurück, bevor sie sich wieder gefasst hatte.
„Nein“, erwiderte sie hastig. „Mir fehlt nichts.“
„Schön.“
Auch Jack hatte seine Selbstsicherheit wiedergewonnen und ging hinüber zum Küchentisch, wo er sich eine Tasse Kaffee eingoss.
„Hast du gut geschlafen?“, fragte er lässig.
Alli schob den Hocker mit dem Fuß außer Reichweite der Tür und fuhr fort, die Fensterscheiben zu polieren.
„Ja, ich habe ausgezeichnet geschlafen“, erwiderte sie lächelnd. „Und da es schon ziemlich spät ist, dachte ich, es sei außer mir niemand mehr im Haus.“
„Tja, das dachte ich auch. So kann man sich irren“, grinste Jack und fügte erklärend hinzu: „Ich bin gestern Abend erst spät nach Hause gekommen.“
„Ja, ich weiß...“, entfuhr es ihr. Verlegen biss sie sich auf die Zunge und er blickte interessiert auf.
„Hast du etwa auf mich gewartet?“
„Natürlich nicht!“ Ärgerlich schloss sie das Fenster und stieg vorsichtig von dem Hocker. „Ich konnte nicht schlafen und hörte irgendwann dein Motorrad.“
Um nichts in der Welt würde sie zugeben, dass er der Hauptgrund für ihre Schlaflosigkeit gewesen war.
„Ah... ja.“
Sichtlich amüsiert beobachtete Jack, wie sie ihre vom Fensterputzen feuchten Hände an der Kehrseite ihrer kurzen Jeans trockenwischte und ihm dabei einen verstohlenen Blick zuwarf.
„Würdest du heute Abend mit mir tanzen gehen?“, fragte er unvermittelt.
„Was?“ Alli starrte ihn erstaunt an.
„Heute spielt eine bekannte Liveband in der Tanzbar meines Freundes David Edwards. Das DESTINY NIGHT ist der zurzeit angesagteste Schuppen hier in der Stadt. Ich würde mich wirklich freuen, wenn du mich begleiten würdest. Es sei denn...“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, „Du tanzt nicht gerne.“
Alli schluckte.
Jacks Angebot kam völlig überraschend und sie überlegte einen Augenblick lang, wann sie zum letzten Mal zum Tanz gegangen war. Das musste Lichtjahre her sein.
„Oh doch, ich tanze sogar sehr gerne! Vielen Dank für die Einladung“, sagte sie spontan und blinzelte neugierig. „Ist Edwards nicht einer der Teilhaber dieser Firma, für die du arbeitest?“ Als sie seinen erstaunten Blick sah, fügte sie schnell hinzu: „Tom hat mir davon erzählt.“
Er nickte.
„Stimmt. Ich werde dich heute Abend mit allen wichtigen Leuten bekannt machen.“
Alli verzog das Gesicht.
„Haben wir dann noch genügend Zeit zum Tanzen?“, fragte sie skeptisch.
„Ich werde mit dir tanzen, sooft du magst“, versprach Jack und zwinkerte ihr zu. „Den ganzen Abend lang!“
Lifeguard-Turm
„Na du hast ja vielleicht eine miese Laune!“ beschwerte sich Tom bei Jason, während die beiden gemeinsam ihren Dienst auf dem Lifeguards-Turm versahen und soeben den angefallenen Schreibkram erledigten. „Was ist denn los?“
„Ach nichts“, knurrte Jason und warf genervt seinen Stift auf den Schreibtisch. „Ich war nur in dem festen Glauben, ich hätte heute Abend dienstfrei und wollte ins DESTINY NIGHT zur Liveband - Party, aber irgendwie scheint dieser arrogante Spinner von einem neuen Chefarzt ein geradezu perverses Vergnügen darin zu sehen, mir sämtliche Freizeitaktivitäten zu vermiesen!“
„Du meinst Dr. Stevenson, deinen neuen Boss?“, fragte Tom neugierig.
„Genau den“, schnaufte Jason, „Der Kerl ist erst ganze drei Tage hier, aber mir scheint es schon wie eine Ewigkeit! Ich komme einfach nicht mit ihm klar. Ständig nörgelt er an mir herum und weiß alles besser. Du hättest ihn gestern bei dieser Notoperation erleben sollen, erst lässt er mich anbeepen und versaut mir ein wichtiges Date, und dann tut er so, als würde ich ihm die ganze Zeit über nur im Wege stehen!“ Er winkte resigniert ab. „Na, wie dem auch sei, jedenfalls hätte ich heute nach meiner Strandschicht frei gehabt, aber er stellt sich hin und ändert einfach den Dienstplan!“
„Eine absolute Frechheit!“, grinste Tom amüsiert. „Und ich wette, damit vermasselt er dir das nächste Date!“
Er kannte seinen Freund eigentlich als recht umgänglichen und äußerst geduldigen Menschen. Dieser neue Doc musste ihm anscheinend ganz gewaltig gegen den Strich gehen.
Als hätte er Toms Gedanken gelesen, verzog Jason das Gesicht und äffte Nick Stevenson verächtlich nach:
„Ein gewissenhafter Mediziner muss stets einsatzbereit sein, Tag und Nacht! Das Privatleben kommt bei uns immer erst an zweiter Stelle!“ Er verdrehte die Augen. „Entweder hat der Kerl selbst überhaupt kein Privatleben, oder seine Frau ist derart hässlich und unausstehlich, dass er lieber freiwillig seine gesamte Freizeit in der Klinik verbringt!“
Tom knuffte ihn freundschaftlich in die Seite.
„Take it easy, Alter! Du kannst ja nach deinem Dienst immer noch im NIGHT vorbeischauen. Die Party dauert sicher bis in die Nacht hinein, und dann ist auch noch genügend Zeit für dein geheimnisvolles Rendezvous. Wer ist sie eigentlich? Das Model mit den langen Beinen?“
Anstatt zu antworten, sprang Jason auf und trat durch die offene Tür hinaus auf die Aussichtsplattform.
Um diese Zeit herrschte am Strand bereits ein reges Treiben und Trisha, die ebenfalls Frühschicht hatte, beobachtete ihren Dienstabschnitt aufmerksam durchs Fernglas.
Als sie Jason neben sich bemerkte, lachte sie.
„Und wenn du noch hundertmal herauskommst und dir die Augen aus dem Kopf stierst, sie ist nicht da!“
Jason lehnte sich an die Brüstung.
Wo zum Teufel war Selina?
Warum war sie gestern Abend am Pier einfach Hals über Kopf davongelaufen?
Sie empfand etwas für ihn, dessen war er sich ziemlich sicher, sonst hätte sie seinen Kuss niemals so erwidert...
Aber warum ließ sie sich nicht blicken? Er hätte sie wirklich gerne ins DESTINY NIGHT eingeladen, gleich nach seinem Dienst in der Klinik, aber er wusste weder, wo sie sich aufhielt, noch, ob sie überhaupt heute hier auftauchen würde.
Enttäuscht sah er Trisha an. Sie nickte ihm verständnisvoll zu.
„Na komm schon, mach deinen Schreibkram fertig. Ich melde mich, falls ich sie sehe.“
„Danke Trish“, sagte er mit resigniertem Lächeln.
Sie blickte ihm nach, wie er wieder im Büro verschwand.
Als Tom einen Augenblick später zu ihr hinaustrat, grinste sie und wies bedeutungsvoll in Jasons Richtung.
„Mein Lieber, den hat es aber dieses Mal schwer erwischt!“
SUN CENTER
Als Jack am Nachmittag von der CEC zurückkehrte, war alles still im Haus. Alli hatte ihre Putzaktion beendet und schien irgendwo unterwegs zu sein.
Jack trat von seinem Zimmer aus auf die kleine Veranda.
Während er aufs Meer hinausblickte, kreisten seine Gedanken unaufhörlich um die Firma und die dort immer häufiger auftretenden Ungereimtheiten.
Vielleicht irrte er sich ja, und George Carrington führte wirklich nichts Böses im Schilde, aber Jack hatte während seiner mittlerweile über dreijährigen Tätigkeit als Chef der Sicherheitsabteilung eine Art „Sechsten Sinn“ für dessen undurchsichtige Geschäfte entwickelt. Seine geheimen Recherchen letzte Nacht hatten diesen Verdacht nur noch verstärkt. Jonathan Cabotts Unfalltod war mit Sicherheit kein Zufall gewesen. Nur konnte es bisher leider niemand beweisen. Allerdings wusste Jack genau, dass dem aalglatten Anwalt und Firmenmitinhaber Carrington nahezu alles zuzutrauen war, und wer konnte wissen, ob nicht vielleicht sogar David das nächstes Opfer sein würde, jetzt, wo Jonathan aus dem Weg war.
Plötzlich hörte er nebenan Allis Stimme. Er beugte sich über die Brüstung und sah, dass ihr Fenster weit geöffnet war. Sie saß mit dem Rücken zu ihm im Schneidersitz auf ihrem Bett und telefonierte.
„Was soll die blöde Frage, natürlich habe ich Sehnsucht nach zu Hause...“, hörte er sie sagen „... nein, bitte mach dir keine Sorgen deswegen, es geht mir gut, ja wirklich, ich bin hier sicher... Klar habe ich noch diese schrecklichen Träume, mein ganzes Leben ist ein einziger Albtraum seit damals... Ich fürchte, irgendwann wird er mich finden, und alles geht wieder von neuem los...“
Sie lauschte eine ganze Weile in ihr Handy, dann schüttelte sie energisch den Kopf.
„Nein, ich komme schon klar. Ich habe mich so sehr auf diesen Anruf gefreut, es tut wahnsinnig gut, deine Stimme zu hören... du fehlst mir, John...“
Ihre Stimme klang mit einem Male so unsagbar traurig, und Jack schämte sich fast, dass er hier stand und lauschte.
Aber... wer war dieser John, den sie angeblich so sehr vermisste?
Ein Freund, ein Verwandter, ein Liebhaber?
Er presste sich dicht an die Hauswand, damit Alli ihn nicht bemerkte, falls sie sich unerwartet umdrehte.
Gerade wollte er sich diskret in sein Zimmer zurückziehen, als er plötzlich hörte, wie sie sagte:
„Was heißt hier: Sei vorsichtig, Sam? Ich vergesse ja vor lauter Vorsicht fast zu atmen! Hast du eigentlich eine Ahnung, wie das ist, wenn man niemandem vertrauen darf? Wenn das so weitergeht, werde ich noch völlig paranoid! ... Nein, ich bin nicht hysterisch, ich fühle mich nur verdammt allein auf der Welt! ... Ja, wir müssen jetzt das Gespräch beenden…Natürlich weiß ich, wann du wieder anrufen wirst. Bis dahin tu mir bitte ein Gefallen – leg ihr Blumen aufs Grab, wenn möglich rosa Nelken, die mochte sie am liebsten. Würdest du das bitte tun?“